Schon für den gemeinen Fußballfan ist es mitunter nur schwer erträglich, mit welcher Einfallslosigkeit die Fans eines großen Clubs aus dem Süden der Republik ihre Mannschaft anzufeuern pflegen („Superbayern, Superbayern, hey, hey“ ((Hartgesottene klicken auf diesen youtube-link))). Noch unerträglicher – verfassungspolitisch aber zweifellos relevanter – ist es, wenn der derzeit amtierende Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich sich bemüßigt sieht, angesichts der Debatte über die Praktiken in- und ausländischer Geheimdienste und der Diskussion über das Verhältnis von Sicherheit und Freiheit in demokratischen Gemeinwesen ein „Supergrundrecht auf Sicherheit“ zu propagieren („Supergrundrecht, Supergrundrecht, hey, hey“). Dabei ist es in diesem Fall weniger die Einfallslosigkeit des Verfassungsministers Friedrich, die fassungslos macht, als vielmehr die Chuzpe, mit der er eine durchaus ernstzunehmende Debatte kurzzuschließen versucht.
Der Staat, so darf man Friedrich verstehen, hat zuvorderst und in erster Linie die Aufgabe und die Pflicht, die Sicherheit seiner Bürgerinnen und Bürger zu schützen. Dahinter haben alle anderen Grundrechte prinzipiell zurückzustehen („It’s the Supergrundrecht, stupid!“). Na und, könnte man fragen, ist das nicht – zumindest im Ansatz – plausibel? Haben nicht auch die philosophischen Staatsbegründungen der Neuzeit das Recht auf Leben und persönliche Sicherheit zum zentralen Motiv der Staatsgründung erkoren, etwa Thomas Hobbes in seinem „Leviathan“ oder auch John Locke in seinen „Two Treatises of Government“ (wenn auch hier schon eingehegt durch andere gleichberechtigte Naturrechte)? Hat nicht sogar das so liberale Bundesverfassungsgericht eine Schutzpflicht des Staates verfassungsrechtlich etabliert, auf die sich auch ein Bundesinnenminister ruhigen Gewissens berufen kann und darf? Und nicht zuletzt: Erwarten nicht auch die Bürgerinnen und Bürger eines demokratischen Gemeinwesens zu Recht von ihrer Regierung, dass diese zunächst einmal ihre Sicherheit schützt, auf deren Basis dann die Grundrechte zur freien Entfaltung gelangen können?
Gibt es ein Grundrecht auf Sicherheit?
Die Antwort auf solche Fragen lautet wie so oft: ja und nein. Zweifellos, das wissen wir aus Umfragen und Untersuchungen, erwarten viele Bürgerinnen und Bürger, dass ihr Staat sie vor Kriminalität und Terrorismus schützt. Zugleich wissen wir aber auch, dass die Befragten eher solchen Sicherheitsmaßnahmen zuzustimmen bereit sind, die sie selbst vermeintlich nicht betreffen. So spricht sich regelmäßig eine große Mehrheit für die härtere Bestrafung überführter Terroristen aus oder für die Ausweisung verdächtiger Ausländer. Nur eine vergleichsweise kleine Minderheit wäre aber etwa damit einverstanden, von Terroristen entführte Flugzeuge durch die Luftwaffe abzuschießen zu lassen – schließlich könnte man sich ja selbst zufälliger- wie blöderweise an Bord befinden. Das prinzipielle Bedürfnis der Bürgerinnen und Bürger nach Sicherheit sagt also recht wenig darüber aus, wie dieses im Konfliktfall tatsächlich gegenüber liberalen Grund- und Abwehrrechten gewichtet würde. Vor allem aber stellt sich die Frage, in welchem Verhältnis ein Bedürfnis nach Sicherheit eigentlich zu einem verfassungsrechtlichen Grundrecht steht – und wie ein vermeintliches „Supergrundrecht auf Sicherheit“ unter diesem Blickwinkel überhaupt legitimiert werden könnte.
So weit verbreitet das Bedürfnis nach Sicherheit auch sein mag, ein Grundrecht auf Sicherheit kennt weder das deutsche Grundgesetz noch der klassische Katalog liberaler Menschenrechte (das wäre auch durchaus überraschend, ist doch alleine schon der Begriff der „Sicherheit“ zu diffus, um aus ihm ein einklagbares Recht auf irgendetwas konstituieren zu können; die Europäische Menschenrechtskonvention allerdings benennt zumindest ein solches Recht, buchstabiert es bezeichnenderweise aber nicht aus). Allerdings, das ist schon angeklungen, kennt der liberale Grundrechtskatalog durchaus ein Recht auf Leben. Was dieses aber von einem vermeintlichen „Recht auf Sicherheit“ grundlegend unterscheidet, ist sein logischer und verfassungsrechtlicher Status. Das Recht auf Leben bezieht sich als klassisches Abwehrrecht zunächst und in erster Linie auf Handlungen des Staates selbst: Der liberale Staat, so sagt dieses Recht, darf das Lebensrecht seiner Bürger nicht durch eigene Handlungen negieren. Der Sinn des Grundrechts ist es also, staatlichem Handeln Grenzen zu setzen. Hinter dem „Recht“ auf Sicherheit hingegen stehen Bedürfnisse und Erwartungen der Bürgerinnen und Bürger an ein aktives Handeln des Staates. Das Bedürfnis nach Sicherheit steht so gesehen auf einer logischen Stufe mit dem Bedürfnis nach Arbeit, nach einer funktionierenden Umwelt, nach Gesundheit oder individueller Wohlfahrt. Hier kann und soll der Staat aktiv tätig werden, er kann diese Ziele sogar als Verfassungsaufträge begreifen, zu deren Verwirklichung er aufgefordert ist. Ein einklagbares individuelles Recht leitet sich daraus jedoch gleichwohl nicht ab.
Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes
So weit, so eindeutig. Allerdings, und hier wird es dann natürlich doch wieder komplizierter, hat das Bundesverfassungsgericht in seinem berühmt-berüchtigten ersten Schwangerschaftsurteil von 1975 ((Das Urteil ist hier nachzulesen.)) dem subjektiven (Abwehr-)recht auf Leben eine Schutzpflicht des Staates zur Seite gestellt und diese seitdem in ständiger Rechtsprechung weiterentwickelt. Diese Schutzpflicht soll, so das Gericht, gerade dann greifen, wenn das Recht auf Leben nicht vom Staat selbst, sondern von Dritten bedroht ist. Der Staat hat nach dieser Lesart also die Pflicht, das Recht auf Leben gegen das Handeln Dritter, seien es Terroristen oder gewöhnliche Kriminelle, zu verteidigen. Hatte dies der Bundesinnenminister vielleicht im Kopf, als er das fragliche Supergrundrecht ausrief? Und befindet er sich damit nicht auf der Seite der „objektiven Wertordnung“ des Grundgesetzes und also auf zweifellos sicherem Terrain?
Dazu sind drei Dinge zu sagen: Erstens ist die Konzeption staatlicher Schutzpflichten umstritten, seitdem das Bundesverfassungsgericht sie 1975 in die Welt gesetzt hat. Schon in dem heute berühmten Sondervotum zur damaligen Entscheidung wurde auf die Gefahr und den logischen Widerspruch verwiesen, dass durch eine postulierte Schutzpflicht des Staates der Wesensgehalt von Freiheitsrechten in ihr Gegenteil verkehrt wird. Aus dem für staatliches Handeln grenzziehenden Charakter der Freiheitsrechte wird unter der Hand eine Legitimation ihrer eigenen Einschränkung durch den Staat. Das hat mit der eigentlichen Funktion der Grundrechte logisch wie faktisch nichts mehr zu tun.
Zweitens sei nochmals betont, dass eine staatliche Schutzpflicht (und ein daraus eventuell abgeleitetes „Recht“ auf Sicherheit) etwas kategorial anderes darstellt als ein Grundrecht. Während letztes ein individuelles, einklagbares Abwehrrecht konstituiert, handelt es sich bei erstem, genau betrachtet, um einen Verfassungsauftrag. Dieser ist aber eben nur abgeleitet in dem Sinne, dass er zwar prinzipiell handlungsleitend für staatliches Agieren sein kann, dem Grundrecht selbst jedoch logisch nachgeordnet bleibt.
Und daraus folgt…
Und daraus folgt schließlich drittens, dass, selbst wenn man eine objektive Wertordnung am Werk sieht und eine Schutzpflicht des Staates für prinzipiell legitimierbar hält, diese niemals eine Suprematie über die Grundrechte selbst erlangen kann. Sie kann vielleicht hilfsweise bei der Abwägung zwischen konkurrierenden Grundrechten eine Rolle spielen – ausstechen kann sie sie nicht. Minister Friedrich irrt also in mindestens zweierlei Hinsicht: Das „Recht“ auf Sicherheit ist in Wirklichkeit gar keines – und „super“ ist es schon gar nicht.