The Good, the Bad and the Ugly? Das Demokratiebarometer stellt sich vor

Als Enrico Letta die mit Spannung erwartete Vertrauensabstimmung des italienischen Parlaments am 2. Oktober 2013 gewann, fand sein KrĂ€ftemessen mit dem ehemaligen MinisterprĂ€sidenten Silvio Berlusconi ein ĂŒberraschendes Ende. Nicht ohne Grund werteten zahlreiche Beobachter das Votum als Zeitenwende in der italienischen Politik. Angesichts Berlusconis zahlreicher streitbarer Initiativen, Stichwort Justizreform, sagt das politikwissenschaftliche BauchgefĂŒhl, dass Italiens Demokratie in der „Ära Berlusconi“ nicht nur anders, sondern auch „schlechter“ war als bspw. die Demokratie Finnlands. Die Suche nach einer systematisch quantifizierenden BegrĂŒndung dieser Intuition bleibt jedoch zunĂ€chst ergebnislos, denn die etablierten Demokratieratings von Freedom House oder Polity IV helfen nicht weiter. Schließlich weisen sie Italien nur die Bestnoten zu. Ebenso scheinen die USA trotz des US PATRIOT Acts a priori fĂŒr die besten Bewertungen fest gebucht. Gleiches gilt fĂŒr nahezu alle Ă€lteren Demokratien der OECD-Welt, welchen sowohl die Freedom House Skalen fĂŒr political rights und civil rights als auch der Polity IV-Index unisono die Höchstnoten 1 bzw. 10 verleihen.

Die mangelnde TrennschĂ€rfe und theoretischen Defizite etablierter Demokratieindizes nahm ein Forscherteam aus Mitgliedern unserer Abteilung und von der UniversitĂ€t ZĂŒrich zum Anlass, um ein Messinstrument zu erarbeiten, das wissenschaftlichen Standards genĂŒgt und hinreichend sensibel ist, um QualitĂ€tsunterschiede zwischen den etablierten Demokratien ĂŒber Raum und Zeit zu erfassen. Auf der Basis von 100 Indikatoren vermaß dieses Team systematisch und akribisch die weltweit besten dreißig Demokratien ĂŒber den Zeitraum von 1990 bis 2007. Dabei traten erhebliche Unterschiede in der GesamtqualitĂ€t der Demokratien sowie deren jeweiligen StĂ€rken und SchwĂ€chen deutlich zutage. Letztere herauszuarbeiten und ihre Ursachen sowie Konsequenzen zu erforschen, gilt die eigentliche Aufmerksamkeit des Projekts. Das aus den bisherigen Arbeiten entstandene Demokratiebarometer legt hierfĂŒr die Grundlage.

Das Konzept

Demokratiemessungen mĂŒssen ihr Ausgangskonzept der Demokratie normativ wie theoretisch ausweisen. Daran fehlt es etwa bei Freedom House, Polity IV oder dem Demokratieindex des Economist. Uns schien ein Konzept „mittlerer Reichweite“ am angemessensten. Wir folgen also weder den Minimalisten, die schon freie und allgemeine Wahlen als hinreichend fĂŒr die Demokratie ansehen, noch den Maximalisten, die auch Politikergebnisse wie soziale Gerechtigkeit in die Definition von Demokratie aufnehmen. Der Entscheidung gegen einen demokratietheoretischen Maximalismus liegen zwei Überlegungen zugrunde: Erstens betrachten wir Outputs als genuin politische Entscheidungen, die durch Demokratie als Mittel hervorgebracht werden, nicht aber konstitutiv fĂŒr die Demokratie selbst sind. Zweitens prĂ€gen auch ökonomische, soziale oder kulturelle Randbedingungen die materialen Ergebnisse politischer Entscheidungen. Politikergebnisse (outcomes) sind nicht ausschließlich das Resultat demokratischer Entscheidungsprozesse.

Den Ausgangspunkt unserer Überlegungen bilden drei fundamentale Prinzipien: Freiheit, (politische) Gleichheit und Kontrolle. In einfachen Worten mĂŒssen demokratische Systeme eine Balance zwischen den Prinzipien „Freiheit“ und „Gleichheit“ herstellen und bedienen sich dazu der dritten Dimension „Kontrolle“. Zusammengenommen diktieren diese drei Grundprinzipien, welche Funktionen eine Demokratie zu erfĂŒllen hat. Wir sehen neun zentrale Demokratiefunktionen, wobei je drei Funktionen einem der Prinzipien zugeordnet sind. Beispielsweise lĂ€sst sich der Grad, zu dem eine Demokratie das Prinzip der Kontrolle verwirklicht, am Ausmaß des politischen Wettbewerbs, am Zustand der horizontalen Gewaltenkontrolle sowie an der FĂ€higkeit der Exekutive ablesen, einmal getroffene politische Entscheidungen umzusetzen.

Abbildung 1: Demokratiebarometer-Konzeptbaum (Ausschnitt)
DemBarConcept

Wie gut eine Demokratie die neun Funktionen erfĂŒllt, entscheidet mithin ĂŒber ihre QualitĂ€t, wobei einzelne Funktionen bisweilen auch in Spannung zueinander stehen können. Dies zeigte sich in den vergangenen Monaten eindrĂŒcklich am Beispiel von PRISM: Mit dem Anspruch, die HandlungsfĂ€higkeit der US-Regierung im Bereich der internationalen Gefahrenabwehr zu stĂ€rken, steht das Abhörprogramm der NSA sowohl aufgrund seiner Geheimgerichtsbarkeit als auch dem Ausschluss öffentlicher parlamentarischer Debatten in Konflikt zur Rechtsstaatlichkeit und zur horizontalen Gewaltenkontrolle. Mithin ist eine gleichzeitige Maximierung aller neun Funktionen normativ vielleicht wĂŒnschenswert, realiter jedoch kaum möglich.

Messung und Aggregation

Das Demokratiebarometer differenziert die drei Prinzipien der Demokratie in neun Funktionen aus, welche jeweils durch zwei Komponenten inhaltlich nĂ€her bestimmt werden. Von diesen leiten sich wiederum mehrere Subkomponenten ab, die schließlich mittels verschiedener Indikatoren gemessen werden. Insgesamt besteht das Demokratiebarometer aus drei Prinzipien, neun Funktionen, 18 Komponenten, 51 Subkomponenten und 100 Indikatoren, von denen die meisten aus SekundĂ€rquellen stammen. Im Zuge dessen vermieden wir weitgehend Indikatoren, die auf Expertenbefragungen beruhen, weil diese Erhebungen nicht selten undurchsichtig sind und es ihnen an ReliabilitĂ€t mangelt. DarĂŒber hinaus ist ein wichtiges Anliegen des Demokratiebarometers die Bestimmung der effektiven DemokratiequalitĂ€t. Erfasst wird daher nicht nur die Existenz von Institutionen, z.B. die formale UnabhĂ€ngigkeit der Gerichte, sondern es gehen auch die faktischen VerhĂ€ltnisse in die Messung ein, z.B. der Professionalisierungsgrad des Gerichtswesens und dessen Evaluation durch die Bevölkerung.

Um schließlich die QualitĂ€t der Demokratie zu beurteilen, braucht es eine theoretisch fundierte Skalierung und Aggregation der Daten. Über die „richtige“ Strategie lĂ€sst sich hierbei trefflich streiten. ((Vgl. dazu die jĂŒngste Debatte in der Zeitschrift fĂŒr Vergleichende Politikwissenschaft: JĂ€ckle, Sebastian; Wagschal, Uwe; Bauschke, Rafael (2012): Das Demokratiebarometer: „basically theory driven“? In: Zeitschrift fĂŒr Vergleichende Politikwissenschaft 6 (1), S. 99–125; Merkel, Wolfgang; Tanneberg, Dag; BĂŒhlmann, Marc (2013): „Den Daumen senken“: Hochmut und Kritik. In: Zeitschrift fĂŒr Vergleichende Politikwissenschaft 7 (1), S. 75–84; sowie JĂ€ckle, Sebastian; Wagschal, Uwe; Bauschke, Rafael (2013): Allein die Masse macht’s nicht – Antwort auf die Replik von Merkel et al. zu unserer Kritik am Demokratiebarometer. In: Zeitschrift fĂŒr Vergleichende Politikwissenschaft 7 (2), S. 143–153.)) Das Demokratiebarometer wĂ€hlt folgendes Vorgehen: Zuerst wurde auf der Basis von Freedom House und Polity IV ein „Universum der besten dreißig Demokratien“ fĂŒr den Zeitraum von 1995 bis 2005 herausgefiltert. Innerhalb dieses „blueprint samples“ wurden alle Indikatoren dergestalt standardisiert, dass die jeweils höchste beobachtete AusprĂ€gung den Wert 100 und die niedrigste den Wert 0 erhielt. ReferenzgrĂ¶ĂŸe zur Skalierung der DemokratiequalitĂ€t ist somit das zwischen 1995 und 2005 beobachtete „Optimum“. Der anschließende Aggregationsprozess des Demokratiebarometers gewichtet zunĂ€chst alle Faktoren gleich und berĂŒcksichtigt auf höheren Aggregationsebenen mögliche Konflikte zwischen einzelnen Demokratieelementen. WeiterfĂŒhrende Details bietet das Methodenpapier des Demokratiebarometers.

Der internationale Vergleich

Bereits der Blick auf die höchste Aggregationsebene, die alle Teilaspekte des Barometers berĂŒcksichtigt, fördert Überraschendes zutage. Die nachstehende Abbildung zeigt die QualitĂ€t aller etablierten Demokratien fĂŒr das derzeit aktuellste Erhebungsjahr des Demokratiebarometers (2007). Mit einem Wert von 87 Punkten fĂŒhrt DĂ€nemark die Reihe der Demokratien an, dicht gefolgt von Finnland und den verbleibenden skandinavischen Demokratien. Die geringste QualitĂ€t weisen in diesem Vergleich die Demokratien in SĂŒdafrika und Costa Rica auf. WĂ€hrend Italien sich mit einem Wert von 51 Punkten fast erwartungsgemĂ€ĂŸ am unteren Ende der Skala befindet, erstaunt, dass das Mutterland des Parlamentarismus Großbritannien (Rang 27) und auch Frankreich (Rang 28) am Schluss der Rangliste stehen. Überraschend ebenfalls: Die Schweiz landet 2007 nur im oberen Mittelfeld (Rang 9) und liegt hinter Deutschland (Rang 8). Die USA schaffen es mit einem Wert von 67 Punkten gerade auf Rang 14. Zuletzt fĂ€llt auf, dass kein Land der Marke von 100 Punkten besonders nahekommt. Im Gegensatz zu den bekannten Alternativen Freedom House und Polity IV ist in allen etablierten Demokratien noch Luft nach oben.

Abbildung 2: Die QualitÀt etablierter Demokratien im Vergleich

Abb1
Nun lĂ€sst sich einwenden, dass auf der Basis eines einzigen Jahres noch keine weitreichenden Schlussfolgerungen zu ziehen sind. Abbildung 2 bietet daher einen Aufriss der RangvolatilitĂ€t aller erfassten Demokratien. HierfĂŒr teilten wir den Beobachtungszeitraum von 1990 bis 2007 in vier annĂ€hernd gleichgroße Perioden und ermittelten fĂŒr jedes Land den jeweiligen Durchschnitt ĂŒber die DemokratiequalitĂ€t. Die resultierenden Werte wurden der GrĂ¶ĂŸe nach geordnet und die Randbeschriftungen entsprechen diesen RangplĂ€tzen in der ersten bzw. letzten Periode. Mithin erlaubt die Grafik RĂŒckschlĂŒsse auf die im Zeitverlauf besten bzw. schlechtesten Demokratien.

Abbildung 2: Rangfolge demokratischer QualitÀt im Zeitverlauf
Abb2

Mit DĂ€nemark und Finnland an der Spitze behaupten die skandinavischen Demokratien erneut ihre Bestplatzierungen. Die Staaten dieser Region konkurrieren untereinander um die höchste DemokratiequalitĂ€t und ĂŒber alle vier Perioden hinweg schafft es keine andere Demokratie unter die ersten FĂŒnf. Deutlich mehr Musik spielt auf den mittleren RĂ€ngen. Hier stechen Neuseeland und Luxemburg sowie Österreich und Ungarn hervor. Erstere Demokratien verbessern ihre Platzierung von der ersten zur zweiten Periode deutlich (Neuseeland von 15 auf 8; Luxemburg von 17 auf 12) und stagnieren anschließend auf höherem Niveau. Österreich hingegen rutscht zunĂ€chst um vier RĂ€nge ab (von 16 auf 20), holt aber danach wieder auf und landet in der Periode von 2005 bis 2007 schließlich erneut auf Platz 16. Ungarn zeigt eine Ă€hnlich wechselhafte Geschichte. WĂ€hrend die ungarische Demokratie von 1990 bis 1994 noch auf Platz 14 rangiert, verschlechtert sie sich in der zweiten Periode um drei PlĂ€tze (Rang 17), erholt sich zwischen 2000 und 2004 (Rang 15) und schließt in der letzten Periode mit Rang 18 erneut schlechter ab. Am unteren Ende des Feldes bietet sich hingegen erneut ein Bild der StabilitĂ€t. Hier tauschen Frankreich, Großbritannien, Costa Rica und SĂŒdafrika wiederholt die PlĂ€tze und bleiben weitgehend unter sich. Es zeigt sich, dass das Demokratiebarometer bereits mit einfachen Mitteln differenzierte Beobachtungen ĂŒber die Riege der etablierten Demokratien erlaubt.

StÀrken und SchwÀchen im Vergleich

Eine weitere StĂ€rke spielt das Demokratiebarometer aus, wenn man anstelle der DemokratiequalitĂ€t die Ebene demokratischer Funktionen in den Blick nimmt. Sie unterstreicht die StĂ€rken und SchwĂ€chen nationaler Demokratien, welche mit spezifischen historischen Traditionen, institutionellen Pfaden oder den jeweiligen WerteprĂ€ferenzen der BĂŒrger zu erklĂ€ren sind. Zur Illustration zeigt die nachstehende Abbildung FlĂ€chendiagramme fĂŒr Finnland, Italien und die Vereinigten Staaten zu Beginn (1990), zur Mitte (2000) und zum Ende des Beobachtungszeitraums (2007). Jede Reihe der Grafik entspricht einem Land, jede Spalte einem Jahr. Die Demokratiefunktionen wurden als Kreissegmente abgetragen, wobei die Höhe jedes Segments den Wert der FunktionserfĂŒllung auf der Skala von 0 bis 100 wiedergibt. Die FĂ€rbung der Kreissegmente schließlich folgt ihrer Zugehörigkeit zum ĂŒbergeordneten Demokratieprinzip. Es gilt, dass es um die Funktionsebene und mithin die QualitĂ€t der Demokratie je besser steht, umso runder und grĂ¶ĂŸer die durch alle neun Funktionen aufgespannte FlĂ€che ist.

Abbildung 3: StÀrken und SchwÀchen dreier Demokratien im Vergleich

Abb3

Im Vergleich der drei Staaten ist Finnlands Demokratie eine erheblich rundere Sache. Zu ihren vielen StĂ€rken zĂ€hlen die Sicherung individueller Freiheiten und Rechtsstaatlichkeit genauso wie die gleiche politische ReprĂ€sentation aller Bevölkerungsteile und ein offener politischer Wettbewerb. Die grĂ¶ĂŸte SchwĂ€che Finnlands stellt die Gewaltenkontrolle dar, aber auch die politische Partizipation schwĂ€chelt zunehmend. Angesichts ihrer liberalen Tradition ĂŒberrascht es wenig, dass das Prinzip Freiheit in den Vereinigten Staaten besonders stark ausgeprĂ€gt ist. Mit Blick auf Rechtsstaatlichkeit kann die amerikanische Demokratie mit der finnischen fast gleich ziehen. Schlechter steht es hingegen um das Prinzip der politischen Gleichheit, weil die Funktionen ReprĂ€sentation und Partizipation geringer ausgeprĂ€gt sind und Partizipation ĂŒber Zeit sogar an Boden verliert. Die oft beklagte, geringe Wahlbeteiligung bei Kongresswahlen legt hiervon Zeugnis ab, wenngleich die grĂ¶ĂŸte SchwĂ€che der Vereinigten Staaten der politische Wettbewerb darstellt: Das amerikanische Wahlsystem erschwert neuen Parteien den Zugang zum WĂ€hlermarkt erheblich. Angesichts der kaum ĂŒberschaubaren Vielfalt politischer Angebote Italiens stellt politischer Wettbewerb fĂŒr diese Demokratie kein Problem dar. Insgesamt sind die Funktionen des Prinzips Kontrolle eher gleichmĂ€ĂŸig und stark ausgeprĂ€gt. Probleme hat Italien allerdings mit den anderen demokratischen Prinzipien. Insbesondere der Verlust an Rechtsstaatlichkeit springt ins Auge und wirft die Frage auf, ob das italienische Gerichtswesen die Freiheitsrechte der italienischen BĂŒrger noch hinreichend schĂŒtzen kann. Ähnlich schlecht steht es um die Funktion Öffentlichkeit. Obwohl es zahlreiche alternative Informationsquellen in Italien gibt, leidet die öffentliche Debatte an der begrenzten Reichweite dieser Medien und ihrer politischen Polarisierung.

Schluss

Demokratie ist ein umkĂ€mpfter Begriff, die Demokratiemessung ein Feld scharfer Konkurrenz. Zu beiden leistet das Demokratiebarometer einen wichtigen Beitrag, denn es operiert einerseits mit einem klar konturierten Konzept und begegnet andererseits den SchwĂ€chen etablierter Demokratieindizes nach wissenschaftlichen Standards. Das Resultat ist ein prĂ€zises und trennscharfes Messinstrument, das es erlaubt, die QualitĂ€t etablierter Demokratien auf unterschiedlichsten Ebenen in Augenschein zu nehmen. Mit dem Demokratiebarometer stellen wir der Öffentlichkeit einen Datensatz bereit, mit dem die politische, wirtschaftliche und soziale LeistungsfĂ€higkeit von Demokratien im Zusammenhang mit ihren jeweiligen StĂ€rken und SchwĂ€chen systematisch untersucht werden kann. Bislang galt dies nur fĂŒr den Zeitraum von 1990 bis 2007. Jedoch arbeiten wir bereits an einer Erweiterung des Datenbestands bis 2011, sodass in naher Zukunft auch die Folgen der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008 untersucht werden können. Es bleibt also spannend.

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