Auf den ersten Blick erscheint die Verteilung der Direktmandate im neuen Bundestag ungerecht. Während SPD und Grüne fast 40 Prozent der Erststimmen errungen haben, erhielten sie nur knapp 20 Prozent der Direktmandate. Für Schwarz-Gelb dagegen reichten weniger als 50 Prozent der Erststimmen für fast 80 Prozent der 299 (Erststimmen-)Sitze. Was steckt dahinter?
Erinnern wir uns: Im Vorfeld der Bundestagswahl 2013 wurden zwei Koalitionen angestrebt. Während Union und FDP die bestehende Regierungskonstellation weiterführen wollten, war das erklärte Ziel der Sozialdemokraten und Grünen, in den nächsten vier Jahren gemeinsam zu regieren. Die Linke, die stets ihr prinzipielles Interesse an einer linken Koalition artikulierte, hatte in keiner der Wunschkoalitionen Platz.
Aufgrund der recht starken Verschiebungen der Zweitstimmenkräfteverhältnisse zwischen und vor allem innerhalb der beiden politischen Lager waren die Erststimmen der Parteien bislang in geringerem Ausmaß Gegenstand öffentlicher Debatten und Analysen. Hinzu kommt, dass aufgrund des geänderten Wahlsystems, welches einen Ausgleich von Überhangsmandaten vorsieht, die Erststimme nochmals an Relevanz für die Sitzverteilung verloren hat. Doch sie entscheidet natürlich weiterhin über die Frage, welche Kandidatin per Direktmandat in den Bundestag einzieht und sich auch um die Belange des Wahlkreises kümmern soll.
Aus einer politikwissenschaftlichen Perspektive ist die Erststimme vor allem für die Untersuchung von sog. strategischem oder taktischem Wahlverhalten interessant. Darunter verstehen wir, dass Bürgerinnen nicht für ihre Erstpräferenz stimmen, sondern für das im Vergleich zu den anderen Parteien ‚kleinere Übel‘. So kam es immer wieder vor, dass bspw. FDP-Anhängerinnen ihre Erststimme der Union gaben, wenn zuvor klare Koalitionssignale für Schwarz-Gelb zu vernehmen waren. Für die Verrechnung der Erststimme gilt nämlich das Prinzip der relativen Mehrheitswahl, d.h. dass in jedem Wahlkreis die Kandidatin mit den meisten Stimmen das Mandat gewinnt – unabhängig davon, ob das 60, 40 oder nur 20 Prozent der Stimmen waren. Im Idealfall, so die Idee eines solchen Wahlsystems, werden damit bei Parteien und Bürgerinnen Koordinierungsbemühungen angeregt. Denn es würden chancenlose Kleinparteien nicht kandidieren (oder zumindest weniger), wenn sie keine realistische Aussicht haben, das Mandat zu erringen. Und tatsächlich treten bei den Bundestagswahlen etwas weniger Parteien für die Direktmandate an, als um Zweitstimmen kämpfen. Zudem würden die Wählerinnen erkennen, dass im Kampf um das eine Mandat meist nur zwei oder drei Kandidatinnen eine realistische Chance haben und sich daher strategisch verhalten, wie oben im FDP-Unions-Beispiel geschildert. Um das Ausmaß einer solchen Koordinierung zu ermitteln, hat der amerikanische Politikwissenschaftler Gary Cox (1997) das Second-to-First-Loser-Ratio (SF-Ratio) vorgeschlagen. Hier wird der Stimmanteil des zweiten Verlierers, also des Drittplatzierten, durch den des ersten Verlierers, also des Zweitplatzierten, dividiert.
Wenn z.B. Kandidatinnen zweier großer Parteien und einer kleinen Partei in einem Wahlkreis antreten und das Wahlergebnis 50 zu 45 zu 5 Prozent lautet, ergibt sich ein Wert von 0,11 (= 5/45). Dies ist nahe am Idealpunkt, da so nur 5 Prozent der Wählerinnen für die Kandidatin einer chancenlosen Partei gestimmt und sich somit nicht im hier vorgestellten Sinn strategisch verhalten haben. Wenn nun aber neben einer großen Partei zwei ähnlich große Parteien antreten, und das Ergebnis bspw. 40 zu 30 zu 30 Prozent lautet, wüssten die Gegnerinnen der stärksten Partei nicht, wen sie unterstützen sollen, auf wen sie sich also koordinieren müssten, um mit dem für sie geringsten Übel davonzukommen. Zusammengenommen hätten die zweit- und drittstärkste Partei das Potential, den Wahlkreis zu gewinnen – aber eben nur bei erfolgreicher Koordinierung.
Solche gerade beschriebenen Ergebnisse sind in Wahlkreisen in den neuen Bundesländern häufig zu finden, wo neben einer starken CDU die SPD und die Linke fast gleichauf sind und die Wählerinnen auf der linken Seite des politischen Spektrums nicht erkennen können, welche der beiden Parteien die chancenreichere im Hinblick auf das Direktmandat ist. Kommen solche Situationen mit beinahe gleichstarken Zweit- und Drittplatzierten vor, ergibt sich ein Wert des SF-Ratio nahe eins. In solchen Fällen versagt die Parteienkoordinierung mit der Folge, dass die Wählerinnen sich bei ihrer Wahl nur schwerlich strategisch verhalten können. Vermeiden sowohl Parteien also auch Wählerinnen strategische Fehler, würden viele Werte nahe null (= dritte Partei sehr viel kleiner als zweite) aufkommen. Die Häufigkeitsverteilung wäre dann rechtsschief, d.h. sie hätte den Gipfel links und einen längeren Ausläufer.
Mittlerweile sind in einigen, vor allem urbanen westdeutschen Wahlkreisen die Erststimmenkräfteverhältnisse zwischen SPD und Grünen ebenfalls relativ ausgeglichen. Damit stellt sich die Frage, ob das oben angesprochene Missverhältnis zwischen Erststimmen und Direktmandanten auf eine fehlende oder zumindest zu geringe Koordinierung auf der linken Seite des politischen Spektrums zurückzuführen ist, ob also linke Kandidatinnen und Wählerinnen weniger strategisch handelten und somit mögliche Direktmandate ‚verschenkt‘ wurden.
Abbildung 1: Koordinierungserfolge in den alten und neuen Bundesländern
Abbildung 1 zeigt die Koordinierungs(miss)erfolge der Parteien und Wählerinnen bei der Bundestagswahl 2013 in den neuen und alten Bundesländern. Offenkundig war die Koordinierung in den alten Bundesländern erfolgreicher als in den neuen, so gibt es deutlich mehr westdeutsche Wahlkreise mit geringen SF-Ratio-Werten als ostdeutsche. Das bedeutet, die Parteien bzw. ihre Kandidatinnen in den alten Bundesländer waren offensichtlich besser in der Lage, die richtigen Signale an die Wählerinnen zu senden, sodass sich diese im Gegenzug auf die Kandidatin der chancenreicheren Partei koordinieren konnten und somit strategisch nicht für ihre Erstpräferenz stimmten. Im Osten hingegen gibt es wenige Wahlkreise mit niedrigen Werten, jedoch viele Wahlkreise, in denen die SF-Ratios hohe Werte annehmen. Hier konnten die Wählerinnen also häufiger nicht einschätzen, welche Kandidatin die chancenreichere war (oder wollten aus anderen Gründen nicht strategisch Wählen) – zweit- und drittplatzierte Kandidatin waren ähnlich stark. Dies waren in den meisten Fällen Kandidatinnen von SPD und Linke.
Differenziert man nun die Koordinierungserfolge nach bürgerlichen und linken Parteien, zeigen sich deutliche Unterschiede zwischen den politischen Lagern. Hierbei ist jedoch der Umstand zu bedenken, dass eine Koalition mit den Linken bereits vor der Wahl von allen Parteien ausgeschlossen wurde. Anhängerinnen der Linken konnten sich also weniger geneigt fühlen, für die SPD- oder Grünen-Kandidateninnen zu stimmen, da die Entscheidung für eine der anderen größeren Parteien des linken Spektrums ebenso eine Stimmverschwendung gewesen wäre wie eine Stimme für die Unionsparteien. Gleichermaßen hatten Anhängerinnen der SPD-Kandidatin weniger Anreize, ihre Stimme strategisch einer Linken-Kandidatin zu geben. Abbildung 2 illustriert daher ausschließlich die Koordinierungserfolge von SPD und Grünen in den von der CDU/CSU gewonnenen Wahlkreisen sowie die Koordinierungserfolge der Union und FDP in den Wahlkreisen, in welchen die Direktkandidatin der SPD das Mandat errungen hat.
Abbildung 2: Koordinierungserfolge von Rot-Grün und Schwarz-Gelb
Die Unterschiede zwischen den Lagern hinsichtlich der Koordinierungserfolge werden hier noch deutlicher. In fast allen SPD-Wahlkreisen waren die Unionskandidatinnen deutlich stärker als die der FDP (niedrige SF-Ratio-Werte; durchgezogene Linie). Die Anhängerinnen der bürgerlichen Parteien zeigten somit strategisches Erststimmverhalten.[1] In Wahlkreisen, die die Kandidatinnen der Union gewinnen konnten (gestrichelte Linie), gelang es dem linken Lager hingegen nicht, sich zu koordinieren. Zwar sind häufig große Unterschiede zwischen den beiden linken Parteien zu erkennen, diese hätten jedoch noch deutlicher ausfallen müssen, wäre die Koordinierung des linken Lagers wirklich erfolgreich gewesen.
Doch hätte eine bessere Koordinierung des linken Lagers auch mehr Direktmandate für Rot-Grün gebracht? Dazu haben wir die Erststimmen von Union und FDP addiert und mit denen von SPD plus Grünen verglichen. In 21 Wahlkreisen, die 2013 an Unionskandidatinnen gingen, hatten Rot-Grün gemeinsam mehr Erststimmen als Schwarz-Gelb. Demzufolge hätten SPD und Grüne der Union immerhin 21 Direktmandate abspenstig machen können, wenn sie sich besser koordiniert hätten. Rot-Grün hätte dann aus den 40% der Erststimmen immerhin 27% Direktmandate erhalten. Ganz offensichtlich profitierten die Direktkandidatinnen des bürgerlichen Lagers von den klaren Größenverhältnissen zwischen Union und FDP. SPD und Grüne hingegen leiden in den Wahlkreisen darunter, dass ihre Erstimmenanteile ähnlich groß sind und weder sie noch ihre Wählerinnen eine erfolgreiche Koordinierungsstrategie verfolgt haben.
[1] Im Mittel aller Wahlkreise erhielt die Union acht Mal so viele Zweitstimmen wie die FDP und 20 Mal so viele Erststimmen.