Pfadabhängigkeit, Elitenversagen und Geopolitik in der demokratischen Transformation: Das Lehrstück Ukraine

Ein Gastbeitrag von Yuliya Erner (Doktorandin an der Humboldt-Universität zu Berlin)

Seit nun mehr als drei Monaten steht die Ukraine im Mittelpunkt der Nachrichten: Ende November 2013 haben sich auf dem Platz der Unabhängigkeit in Kiew Menschen versammelt, die das politische Regime von Präsident Janukowitsch nicht mehr tolerieren wollten. Den Anlass für die Proteste (bekannt als Euro-Maidan) bot die Absage des ukrainischen Präsidenten, ein Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union zu unterschreiben. Im Februar 2014 floh Präsident Janukowitsch und wurde für abgesetzt erklärt. Ein paar Tage später hat das russische Parlament in Moskau Präsident Putin die Genehmigung erteilt, russische Militärkräfte zum Schutz der russischen Bevölkerung auf der Krim zu aktivieren.
Die aktuellen Entwicklungen in der Ukraine basieren auf einer Konflikt-Konstellation, die sich im Zuge des demokratischen Regimewechsels 1991 herausbildete und bereits zur Zeit der Orangenen Revolution (2004) die Konfliktlinien sichtbar machte. Diese reflektieren vor allem einen Interessenkonflikt zwischen konkurrierenden Elitengruppen, die die politische Macht im ukrainischen Staat für die Sicherung ihrer partikularer Interessen instrumentalisieren. Es handelt sich dabei um einige einflussreiche Wirtschafts- und Finanzgruppen, die in den ersten Jahren der Regimetransformation durch illegale Geschäfte ihr Kapital akkumulierten („Mafiakapitalismus“) und sich seit Ende der 1990er (Amtszeit von Präsident Kutschma) politisch aktiv betätigen. Bemüht um einen formal legitimen politischen Einfluss gehen diese Gruppen äußerst pragmatisch vor: Um legal an die politische Macht zu gelangen, schließen sie sich in politische Gruppierungen zusammen und stellen eigene Vertreter als Volksrepräsentanten für die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen auf. So wurde z.B. die Wahlkampagne von Präsident Janukowitsch in 2010 von den zwei politisch mächtigsten ukrainischen Oligarchen co-finanziert: Rinat Achmetov und Dmytro Firtash. Ersterer hat sich mittlerweile mit der Interimsregierung in Kiew verbündet. Die wirtschaftlichen Aktivitätssphären der Oligarchen ergeben unterschiedliche Prioritäten und begründen widersprüchliche außenpolitische Interessen.
Gleichzeitig gibt es eine unterschiedliche Interessensausrichtung in der Bevölkerung im westlichen und südöstlichen Landesteil der Ukraine. Die gesellschaftspolitische Konfliktlinie verläuft entlang der ethnisch-sprachlichen Grenze zwischen zwei Großregionen und wird von den politischen Eliten vor jeder Wahl bewusst aktiviert. Ein Mittel zu diesem Zweck stellen Massenmedien dar: Durch die einseitigen Darstellungen der Realität vermitteln die von wirtschaftlich-politischen Netzwerken kontrollierten ukrainischen Zeitungen und Fernsehkanäle bestimmte Denkmuster und Ängste: Sie schüren das gegenseitige Misstrauen zwischen russisch- und ukrainischsprachigen Bewohnern der Ukraine, steigern die Loyalität gegenüber den eigenen Repräsentanten und fördern die Akzeptanz für undemokratischen Regierungsmethoden in der Bevölkerung. Letztendlich erzeugen die ukrainischen Medien Angst vor Unterdrückung durch die jeweils andere Gruppe und verfestigen damit die Spaltung des Landes.
Bei der Austragung des gesellschaftspolitischen Konflikts fehlt der Wille zu Kompromissen auf allen Seiten. Die ukrainischen politischen (wie oligarchisch-wirtschaftlichen) Eliten stützen sich im Prozess der politischen Entscheidungsfindung nicht auf konstitutionelle Normen, sondern auf informelle Absprachen. Diese „informellen Institutionen“ haben die formal-demokratischen Institutionen von innen her ausgehöhlt und ihre demokratische Substanz in erheblichem Ausmaß zerstört. Die externen Mächte wie die Europäische Union, Russland und nicht zuletzt die USA verfolgen in der Ukraine eigene Interessen und versuchen immer wieder, den innenpolitischen Prozess über jeweils eigene Kooperationspartner in ihrem Sinne zu beeinflussen. Damit haben sie zur politischen Spaltung des Landes erheblich beigetragen. Dies gilt gerade auch für den “Westen“, der sich gerne als Förderer der Demokratie darstellt. Ganz offensichtlich wurde damit das ungelöste Staatlichkeitsproblem in der Ukraine verschärft, dessen zentrale Ursachen bereits am Anfang der Demokratisierung vorlagen – eine starke historische Anbindung der größten Teile der Ukraine an Russland und die Mobilisierung der ethnisch-sprachlichen Identitäten im politischen Wahlkampf.
Welche Faktoren haben nun die aktuelle politische Krise in der Ukraine bewirkt? Dafür werden, je nach politischem Lager, unterschiedliche Interpretation geliefert. Janukowitsch nahe stehenden Quellen berichten über die Provokation der ukrainischen politischen Opposition, die, unterstützt von den USA und der EU, nun eine Chance witterte, ohne gesellschaftliche Legitimation durch Wahlen mit außerkonstitutionellen Mitteln die Macht an sich zu reißen. Die Opposition beschuldigt ihrerseits den Janukowitsch-Klan antidemokratischer Methoden und verweist auf politische Korruption und Vetternwirtschaft im großen Format. Außerhalb der Ukraine vermitteln die Medien ebenfalls ein kontroverses Bild des Geschehens: Während man in Europa Russland und Präsident Putin persönlich für „imperialistisches Großmachtgehabe“ und politisch-militärische Interventionen verantwortlich macht, werfen russische Medien dem Westen vor, die EU und die USA würden die Einkreisung Russlands und die wirtschaftliche Ausbeutung der Ukraine anstreben. Alle Interpretationen der Gründe für die aktuelle politische Krise können eine Teilwahrheit für sich beanspruchen. Bei aller Kritik an Russlands Vorgehen, muss sich der Westen mit seiner Vormacht USA allerdings die Frage gefallen lassen, ob seine forsche geostrategische Interessenpolitik in der Ukraine, Georgien und im südkaukasischen Gürtel nicht legitime Sicherheitsinteressen Russlands gefährdete und von dessen Führung als eine bedrohliche Einkreisungspolitik wahrgenommen werden musste. Man stelle sich vergleichbare Aktivitäten Russlands in Mexiko vor.
In diesem innenpolitischen und geopolitischen Spiel zeigte sich die Krim – die ethnisch weitgehend russische Provinz im Süden der Ukraine – bis zuletzt ruhig, beinahe phlegmatisch. Umso erstaunlicher, dass die drohende Wiederauflage des Kalten Krieges ausgerechnet an diesem zurückhaltenden und abgelegenen Ort Europas begann. Die Nachrichten aus Kiew mit der extrakonstitutionellen Absetzung der Regierung Janukowitsch haben jene ca. 60% der Krim-Bevölkerung (so hoch ist der Anteil an ethnischen Russen auf der Krim) zwar empört und beunruhigt, aber nicht zum eigenen Handeln bewegt. Es gab keine nennenswerten Reaktionen aus der Öffentlichkeit, keine großen Demonstrationen oder warnende Demarchen der Provinzregierung. Dennoch ist in der russischsprachigen Bevölkerung das Bild, das russische Medien vermitteln, tief verwurzelt: Das Geschehen in Kiew geht auf das Konto ukrainischer Faschisten aus der Westukraine, die vom Westen gesteuert, zumindest aber finanziert und unterstützt werden. Diese wollen den russischen Einfluss in der Ukraine verdrängen und die Russen aus der Ukraine vertreiben. Solche Provokationen müssten notfalls auch mit Gewalt unterbunden werden, sonst drohe eine dauerhafte Diskriminierung der russischen Minderheit in der Ukraine. Janukowitsch, der legitime Präsident der Ukraine, wurde aus dem Amt getrieben. Nun ist es die Aufgabe Russlands, die russische Bevölkerung der Ukraine vor Übergriffen zu schützen.
In diesem Gewirr der Vermutungen, Ängste und Schuldzuweisungen steht eines fest: Die Geschichte verzeiht keine ungelösten territorialen oder ethnopolitischen Fragen. Ein Staat, in dem die Bürger in zwei ethnopolitische Lager geteilt sind, in dem formale Institutionen als Fassaden dienen, um oligarchischen und politischen Machtinhabern eine demokratische Legitimation zu verschaffen, in dem sich keine nachhaltige demokratiefördernde politische Kultur entwickeln konnte, ist abhängig und fragil. Er schwankt zwischen einer defekten Demokratie und einem hybriden Regime, in dem zusehends autoritär-oligarchische Muster in der Politik Raum greifen. Die Menschen in so einem Staat sind verunsichert und deswegen leicht manipulierbar.
Gewiss haben die starke historische Anbindung an Russland, eine schwache national- wie rechtsstaatliche Tradition, paternalistisches Denken sowie die politische Passivität der Bevölkerung die demokratische Regimetransformation in der Ukraine erschwert, verlangsamt, wenn nicht gar pervertiert. Es sind aber vor allem die ukrainischen Eliten – ob in Kiew oder in den Regionen – die die Verantwortung für die heutige Krise tragen. Es fand kein grundsätzliches „elite-settlement“ hinsichtlich der Staats- wie Demokratiefrage statt. Während der letzten 20 Jahre zeigten sie keinen Willen zu wirklichen demokratischen Reformen. Stattdessen waren sie hauptsächlich um die eigene Bereicherung auf Kosten der ukrainischen Gesellschaft bemüht. Sie entwickelten ein instrumentelles Verhältnis zu demokratischen Institutionen und spalteten die ukrainische Gesellschaft anhand der ethnisch-sprachlichen bzw. regionalen Unterschiede, um diese besser kontrollieren zu können. Dies gilt für das Timoschenko-Lager, wie die Oligarchen des Ostens, die Janukowitsch schließlich fallen ließen.
Der heutige Konflikt um die Krim ist ein Spiegel der Pfadabhängigkeit, den die Geschichte den ukrainischen Eliten und der Welt vorhält. Die Konsolidierung von Rechtsstaat und Demokratie wurde nie abgeschlossen. Aktuell drohen Dekonsolidierung der demokratischen Restbestände sowie der territorialen Integrität. Hätten die Eliten sich auf einen demokratisch-rechtsstaatlichen Basiskompromiss einigen können, würden heute die Bürgerfreiheiten und Beteiligungsrechte vermutlich wichtiger für die Staatsbürger auf der Krim sein, als der Anschluss an ihre autokratisch regierte historische Heimat. Die politische, ökonomische und soziale Misere ist in der Ukraine seit zwei Dekaden nicht kleiner sondern größer geworden. Nur so konnte die ethnisch-sprachliche Zugehörigkeit für politische Zwecke instrumentalisiert werden. Es war das Handeln der Eliten und die geostrategisch motivierten Einmischungsstrategien Russlands wie des Westens, die bisher eine nachhaltige Demokratisierung des Landes verhinderten und es an den Rand des Staatszerfalls gebracht haben.

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