Vor geraumer Zeit wurde in der ZEIT eine zum Teil mit starken Bandagen geführte Debatte unter prominenten Vertretern der deutschen Soziologie ausgetragen. Den Auslöser bildete ein zeitdiagnostischer Essay von Thomas Assheuer. Die Erwiderung nahm Armin Nassehi vor, die schließlich Harmut Rosa auf den Plan rief. Die beiden Letztgenannten führen dabei im Kern eine wissenschaftstheoretische Debatte innerhalb der Sozialwissenschaften, die in ihren Grundargumenten der Luhmann-Habermas-Kontroverse der 1970er Jahre sehr nahe kommt.
Worum geht es?
Ausgangspunkt war der Überblick Thomas Assheuers über eine Reihe von Begriffshülsen, die momentan (wieder) Konjunktur in den Sozialwissenschaften haben. Die Liste reicht von Postdemokratie über Spätkapitalismus zu Postmoderne und Posthistorie. Den Krisendiagnostikern allgemein und dem Jenaer Soziologen Hartmut Rosa im speziellen wirft Nassehi in seinem Beitrag nun vor, von einem naiv-normativen Ausgangspunkt Sozialwissenschaft zu betreiben. Es treibe Rosa und die anderen eine Sehnsucht nach dem „Goldenen Zeitalter“, jene ersten drei Nachkriegsjahrzehnte, in denen sich in den westlichen Industrieländern die Lebensverhältnisse stetig verbesserten, Ökonomie und Demokratie in einer friedlich-glücklichen Liaison verbandelt schienen und in Folge dessen sich ein gesellschaftlich-politischer Steuerungsoptimismus entwickelte. Vor diesem Hintergrund, so Nassehi, sei die Frustration mit den Zuständen der Gegenwart nur allzu verständlich. Allerdings, so meint Nassehi, „[…] muss man vielleicht genauer fragen, was denn die Struktur jener Moderne ausmacht, die hier gerettet werden soll. Es ist dies eine Theoriefrage an die Sozialwissenschaften, wie sie das Verhältnis von Beschreibung und Beschriebenem in den Blick nehmen.“ Die Antwort des Münchner Systemtheoretikers überrascht nicht: Spätestens seit Luhmann wüssten wir schließlich, dass sich die Moderne durch eine Ausdifferenzierung der gesellschaftlichen Teilsysteme auszeichne: „Wenn man Modernität auf eine Formel bringen will: Die zentralen Instanzen der Gesellschaft wie Wirtschaft und Politik, Wissenschaft und Religion, Kunst, Recht und Bildung entwickeln völlig unterschiedliche interne Logiken, Erfolgsbedingungen, Reflexionstheorien, Erwartungsstile und Funktionen und werden einerseits unabhängiger voneinander, andererseits bleiben sie stets geradezu krisenhaft, weil eben nicht wirklich mit Passung aufeinander bezogen.“ Mit anderen Worten: Kommt endlich als Sozialwissenschaftler in der Moderne an und hört auf mit der Jammerei.
Rosas Replik
Dem Vorwurf der Naivität begegnet Rosa, indem er seinerseits die Samthandschuhe beiseite legt und der Systemtheorie eine doppelte Armut bescheinigt: „Weil ihr Moderneverständnis im Grunde vollkommen statisch ist, fehlt ihr [der Systemtheorie, A.P.] jegliche Sensibilität und jegliches Instrumentarium, um kulturelle und strukturelle Verschiebungen und Verwerfungen der Moderne zu erklären. Und weil die Systemtheorie die Nöte der Menschen für irrelevant erklärt und von keinem Anliegen und keiner Idee angetrieben wird, wohin es gesellschaftlich gehen soll, zielt sie auf keine andere Erkenntnis als darauf, andere sozialwissenschaftliche Ansätze als irregeleitet, idealistisch und rückständig zu demaskieren.“
Zwei Interpretationen der Moderne …
Wie in nahezu jeder heftig ausgetragenen Kontroverse, lässt sich ein Punkt identifizieren, von dem aus eine weitere Verständigung unwahrscheinlich ist. Auch in der vorliegenden Debatte gibt es (mindestens) einen Fixpunkt, von dem aus die Kontrahenten eher aneinander vorbeireden werden als zueinander sprechen können. Er manifestiert sich in den jeweiligen Definitionen von Moderne.
Nassehi: „Modernität erlebt sich deshalb als Krise, weil sie die Widerständigkeit der Gesellschaft für intervenierende Zugriffe erlebt.“
Rosa: „Eine Gesellschaft ist somit dann modern, wenn sie auf Wachstum, Beschleunigung und Innovationsverdichtung angewiesen ist, um sich zu reproduzieren.“
Selbst wenn man diese Definitionen der Moderne als jeweils unhintergehbare Axiome der Debatte festlegt, lohnt das Nachdenken darüber, inwieweit sich die Definitionen tatsächlich widersprechen oder gar ausschließen. Dass es innerhalb der von Nassehi genannten Teilsysteme seit Ende des Zweiten Weltkriegs zu einem teilweise enormen Ausmaß von Differenzierung und Spezialisierung gekommen ist, wird vermutlich weder Rosa noch sonst jemand ernsthaft bezweifeln wollen. Dass jedoch nicht nur eine Spezialisierung innerhalb und Ausdifferenzierung zwischen gesellschaftlichen Teilsystemen stattgefunden hat, sondern die Wirtschaft – und das nicht erst mit der Finanzkrise – als Teilsystem eine besondere Rolle einnimmt, wird auch Nassehi nicht bestreiten. Luhmann selbst hat übrigens für ein solches Phänomen – also der Dominanz eines Teilsystems – eine Erklärung:
„In funktional differenzierten Gesellschaften [also in der von Nassehi und Rosa diskutierten Gegenwart, A.P.] gilt eher die umgekehrte Ordnung: das System mit der höchsten Versagensquote dominiert, weil der Ausfall von spezifischen Funktionsbedingungen nirgendwo kompensiert werden kann und überall zu gravierenden Anpassungen zwingt. Je unwahrscheinlicher die Leistung, je voraussetzungsvoller die Errungenschaften, desto größer ist auch das gesamtgesellschaftliche Ausfallrisiko“ (Luhmann, Gesellschaft der Gesellschaft: S. 769).
… und der Versuch einer Integration
Ausgehend von diesen Beobachtungen könnte man durchaus zu einer geteilten Krisendiagnose kommen. Dann wäre nämlich das „Gejammer“ von Rosa & Co. eine vollkommen zutreffende Gegenwartsdiagnose: Spätestens mit den Ölkrisen von 1973 und 1979 zeigte sich, dass das Wirtschaftssystem der Erwartung von Vollbeschäftigung und stetigem Wachstum (doch) nicht gerecht werden kann. Nach und nach sahen sich andere Teilsysteme genötigt, der Wirtschaft unter die Arme zu greifen und versuchten, die Funktionsbedingungen des Wirtschaftssystems in seiner kapitalistischen Form zu verbessern. Die Politik versuchte es mit Deregulierungs- und Privatisierungsmaßnahmen, hat sich im mit der Globalisierung einhergehenden Standortwettbewerb einem steuerpolitischen Unterbietungswettlauf unterworfen und schließlich in der jüngsten Finanzkrise absurde Garantien ausgesprochen, Banken mit unvorstellbaren Summen vor der Insolvenz gerettet und scheint bereit, in einigen Ländern die Lebenschancen und -hoffnungen ganzer Generationen durch vermeintlich den Märkten helfende Sparmaßnahmen zu ruinieren. Das Kunst- und Kultursystem seinerseits wurde insofern der Ökonomie ein dienstbarer Gehilfe, als es sich als Standortfaktor (Tourismus) anbot, immer weiter einer ökonomischen Professionalisierung unterzog (man denke an die Musik- und Filmindustrie) und hat damit neben der Schönheit mehr oder weniger bereitwillig einen ökonomischen Funktionscode akzeptiert. Und schließlich das Bildungssystem, in dem das ausgewiesene Ziel der Reformen der vergangenen zwei Jahrzehnte (als Stichworte seien der Bologna-Prozesses und G12 genannt, die Liste ist Legion) es war, die Ausbildung der Schul- und Hochschulabsolventen stärker den Bedürfnissen der Wirtschaft anzupassen. Und über alle Teilsysteme hinweg vollzieht sich die von Hartmut Rosa immer wieder betonte Beschleunigung als verzweifelter Versuch, in der gleichen Zeiteinheit mehr an Wirtschaftstransaktionen, Bildung oder Kunst unterzubringen.
Umgekehrt hätte auch die Diagnose Nassehis hier seinen Platz. Denn es ist ja gerade nicht der Fall, dass die Versuche der Unterstützung des Wirtschaftssystems inklusive der damit einhergehenden Veränderungen in den übrigen Teilsystemen ohne Widerstände ablaufen würden. Es zeigt sich doch gerade, dass Vertreter aus Politik, Kunst, Kultur und Bildung sich in kritischer Weise zu Wort melden, um die Unabhängigkeit ihres Teilsystems einzufordern und nur den jeweils eigenen Code – und nur ihn – in ihrem Bereich als legitim anerkennen. Aus einer systemtheoretischen Perspektive ist diese Kritik jedoch nicht nur verständlich und erwartbar, sie ist vermutlich auch richtig. Denn wenn das alles stimmt, dann wäre es nachgerade absurd ernsthaft zu glauben, dass angesichts des Ausmaßes der Ausdifferenzierung der Moderne andere Teilsysteme der Wirtschaft auf die Sprünge helfen könnten und in solch einem permanenten Unterstützungsmodus, ohne dabei selbst in tiefgreifende Konflikte und immanente Überforderungssituationen zu geraten, die Grundlage für die gesellschaftliche Reproduktion zu gewährleisten wäre.
Aus einer solchen Perspektive ergäben sich dann spannende Fragen, auf die man sich Antworten (auch) aus der Soziologie wünschte: Wo genau verlaufen die Grenzen der Überforderung gesellschaftlicher Teilsysteme? Haben einzelne Teilsysteme in der Vergangenheit ihre Erscheinungsformen, Funktionslogiken und Reflexionsweisen ändern können, ohne dass es gleichzeitig zu tiefgreifenden gesamtgesellschaftlichen Krisen kam? Und wenn ja, was wären dann die Voraussetzungen und Rahmenbedingungen dafür, dass die gegenwärtige finanzkapitalistische Form des Wirtschaftssystems eine andere, womöglich den gesellschaftlichen Erwartungen gerechter werdende Form annehmen kann? Wir können statt dessen aber natürlich auch einfach die Kontroversen vergangener Jahrzehnte mit neuem Personal nachspielen. Dann aber wäre die Frage zu klären, unter welchen Bedingungen das Remake besser ausfällt, als das Original.