Das Recht auf Staatlichkeit nach dem Krieg

Dies ist die ungekĂŒrzte Version eines Beitrags, der unter dem Titel “Nach dem Krieg kommt die Moral” in der Frankfurter Rundschau am 20./21.9.2014 erschienen ist.

Hoffnungen stiegen hoch nach dem Ende des Kalten Krieges. Mit dem Kollaps der Sowjetunion und der Demokratisierung der Staaten des Warschauer Pakts schien die Bipolarisierung der Welt der Vergangenheit anzugehören. Von einer friedlichen multipolaren Weltordnung war die Rede. Idealisten, Neokantianer und Konstruktivisten trĂ€umten von der Verrechtlichung der internationalen Beziehungen. Sie vertrauten auf die Kraft des vernĂŒnftigen Arguments und hofften auf eine ökonomische Friedensdividende. Noch bevor allerdings die Dividende auch nur auf dem Papier der machtvergessenen Idealisten verteilt war, brach Jugoslawien auseinander. Archaisch anmutende ethno-nationalistische Motive hatten sich mit MachtkalkĂŒlen politisch-militĂ€rischer FĂŒhrer gemischt und zu einem blutigen BĂŒrgerkrieg in Europa gefĂŒhrt. Die Nato intervenierte, um weitere ethnische SĂ€uberungen, Massaker oder gar einen Genozid zu verhindern. Die Intervention, die sich den Namen „humanitĂ€r“ zulegte, war zwar nicht vom Völkerrecht gedeckt, verletzte das ius ad bellum (das Recht zum Krieg) und missachtete bisweilen bei seinen LuftschlĂ€gen auch das ius in bello (das Recht im Krieg). Dennoch kĂŒmmerte sich die internationale Gemeinschaft nach Kriegsende mit einem gewaltigen Ressourceneinsatz um den Aufbau einer friedlichen rechtsstaatlichen Ordnung in dem multi-ethnischen Staat Bosnien-Herzegowina. Das könnte man die Gerechtigkeit, wenn nicht gar das Recht nach dem Kriege nennen (ius post bellum).

Dies war nicht immer der Fall. Im Oktober 2001 starteten die USA und Großbritannien in Afghanistan die Operation Enduring Freedom. Die Nato sekundierte, ein Mandat des UN-Sicherheitsrats lag vor. 2003 belog die US-Regierung unter George W. Bush die Weltöffentlichkeit, als sie gefĂ€lschte „Beweise“ fĂŒr die Existenz von Massenvernichtungswaffen im Irak des Saddam Hussein vorlegte. Die USA, das Vereinigte Königreich, Australien und Polen griffen den Irak ohne ein Mandat des Sicherheitsrats an. Im FrĂŒhjahr 2011 ermĂ€chtigte die Resolution 1973 des Sicherheitsrats die Intervention in Libyen, um das Gaddafi-Regime daran zu hindern, sich mit Massakern an der Macht zu halten. Zum ersten Mal wurde in einer UN-Resolution die entstehende völkerrechtliche Norm „Responsibility to Protect“ (R2P) genannt. R2P schrĂ€nkt die staatliche SouverĂ€nitĂ€t dann ein, wenn eine Regierung nicht in der Lage ist, ihre Bevölkerung gegen Genozid, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, massive Kriegsverbrechen oder ethnische SĂ€uberungen zu schĂŒtzen oder diese gar selbst begeht.

Was haben diese Interventionen gemeinsam? Sicherlich, dass bestimmte westliche Staaten, mit oder ohne UN-Mandat bereit sind, gegen verbrecherische Regime militĂ€risch zu intervenieren. Auch, dass sie Diktaturen stĂŒrzten, wofĂŒr es kein Mandat, wohl aber moralische GrĂŒnde gab. Gemeinsam haben diese Interventionen aber noch ein Drittes: Die InterventionsmĂ€chte „enthaupteten“ nicht nur Regime, sondern zerstörten die innere Staatlichkeit dieser LĂ€nder und damit den Staat selbst. Sie hinterließen schwarze Löcher. Das gilt fĂŒr Afghanistan, den Irak und Libyen. Im Falle Libyens wurde das UN-Mandat in rechtswidriger Weise ausgedehnt und das Regime gestĂŒrzt. Die wohlfeilen LuftschlĂ€ge der beiden abgehalfterten exkolonialen MittelmĂ€chte gingen verstĂ€rkt weiter als von Responsibility to protect lĂ€ngst nicht mehr die Rede sein konnte. Aber die InterventionsmĂ€chte zerstörten nicht nur das Regime sondern auch den Staat. Wie die USA hinterließen sie eine Hobbes’sche Welt, in der mörderische Milizen untereinander und mit den Resten des Staates regellose Kriege fĂŒhren. Kann dies rechtens oder gar gerecht sein? Obliegt den Interventionsstaaten nicht eine moralische Pflicht, den Staat wiederaufzubauen, den sie zerstörten?

SpĂ€testens seit dem Kosovo-Konflikt im Jahr 1999 werden bewaffnete Interventionen zum Schutze der Zivilbevölkerung vor ihren mörderischen Potentaten humanitĂ€re Interventionen genannt. HumanitĂ€re Interventionen verlangen aber nach einem anderen Ende als Verteidigungskriege. Das ius ad bellum muss von Beginn an enger an das ius post bellum gebunden werden. Das hat Folgen. Folgen insbesondere fĂŒr die Pflichten derer, die intervenieren, aber auch fĂŒr die internationale Gemeinschaft insgesamt.

Denn das Recht zum Krieg, nĂ€mlich die Unterbindung schwerster Verbrechen gegen die Menschlichkeit, bedarf zu seiner vollen Rechtfertigung der ErgĂ€nzung des Rechts nach dem Krieg. Dies ist vor allem die Verpflichtung der InterventionsmĂ€chte, die Menschenrechtsverletzungen nachhaltig zu verhindern. Dies geschieht am besten, wenn zumindest ein Staat, am besten gar ein Rechtsstaat und eine Demokratie etabliert werden. Es gibt bei humanitĂ€ren Interventionen eine normativ wie logisch enge Kopplung des ius ad an das ius post bellum. HumanitĂ€re Interventionen mĂŒssen durch demokratische Interventionen ergĂ€nzt und damit zu ihrem Ende gebracht werden. Hybride Regime, irgendwo zwischen Demokratie und Diktatur angesiedelt, erfĂŒllen diesen Zweck nicht. Denn gerade bei ihnen ist, wie sich empirisch zeigen lĂ€sst, die Gefahr eines BĂŒrgerkrieges am grĂ¶ĂŸten.

Diese Maxime wird vom geltenden Völkerrecht nicht gedeckt. Sie wĂŒrde als ein zu tiefer Eingriff in die nationale SouverĂ€nitĂ€t oder das Selbstbestimmungsrecht der Völker gelten. Auch in der modernen Philosophie internationaler Beziehungen von Rawls bis Walzer gilt das Gebot: SiegermĂ€chte sollten so schnell wie möglich das Land verlassen. Das Recht auf politische Selbstbestimmung der besiegten Nation gebietet dies.

Doch was ist, wenn es die Nation gar nicht gibt, sondern nur Völker, Ethnien, Religionsgemeinschaften, also nur Fragmente eines Staatsvolkes, die untereinander zutiefst verfeindet sind und ohne die Besatzung durch fremde Truppen rasch einem BĂŒrgerkrieg anheim fielen? Was ist, wenn die religiös imprĂ€gnierte Kultur eines Landes zur massiven UnterdrĂŒckung von Minderheitsethnien, Religionsgemeinschaften oder Frauen tendieren? Darf man die Gesellschaft dann auch nicht, wie Rawls sagt, „rekonstruieren“?

Rechtsstaat und Demokratie lassen sich schwerlich von außen etablieren. Deutschland, Japan und Italien nach 1945 blieben die Ausnahme. Wenn auch das maximale Programm der rechtsstaatlichen Demokratie meist nicht zu realisieren ist, gibt es doch die moralische Pflicht fĂŒr die InterventionsmĂ€chte, das wiederherzustellen, was sie vorher zerstört haben: den Staat mit seinem Kern des Gewaltmonopols. Doch diesem moralischen Gebot der politischen Vernunft folgen die InterventionsmĂ€chte nur selten. Afghanistan, der Irak und Libyen sind heute nach den militĂ€rischen Interventionen LĂ€nder ohne funktionierende Staatlichkeit. Das vorherige Gewaltregime wurde durch die Gewalt marodierender Milizen in einem entstaatlichten Raum ersetzt. Obgleich uns profunde Gerechtigkeitskriterien zur Beurteilung fehlen, was nun schlechter sei, mĂŒssen die demokratischen Interventionsstaaten sich vorwerfen lassen, fahrlĂ€ssig Hobbes’sche BĂŒrgerkriegswelten im Nahen Osten herbeigefĂŒhrt zu haben, die zu mehr Opfern fĂŒhren, als sie das diktatorische Regime zu verantworten hatte.

HumanitĂ€re Interventionen können gewichtige moralische GrĂŒnde haben. FĂŒr diese besitzen demokratische Staaten eine grĂ¶ĂŸere SensibilitĂ€t als Diktaturen. Allerdings haben Erstere gerade wegen ihrer inneren demokratischen Strukturen besondere Begrenzungen fĂŒr Interventionen. Denn selbst wenn BĂŒrger der militĂ€rischen Intervention ihrer Regierung anfangs zustimmen, werden sie nach einer gewissen Zeit unwillig, die Kriegskosten zu tragen: finanziell und humanitĂ€r. Dieser Unwille zwingt die demokratischen Regierungen, ihre Truppen abzuziehen, wollen sie nicht die nĂ€chsten Wahlen verlieren.

Insofern haben Demokratien einen inneren Mechanismus gegen die Gerechtigkeit nach dem Krieg, also solange im Lande zu bleiben, bis kein BĂŒrgerkrieg mehr droht. Dieses mit zu denken, sollte zu der moralischen Pflicht und politischen Klugheit demokratisch gewĂ€hlter Regierungen gehören, wenn sie sich fĂŒr bewaffnete „humanitĂ€ren Interventionen“ entscheiden.

Diesem Interventionsdilemma wollen die westlichen Staaten entgehen, indem sie die vermeintlich gute Seite der BĂŒrgerkriegsparteien aufrĂŒsten. In der Gemengelage des Nahen Ostens sind aber solche guten „Partner“ nur schwer auszumachen. Die „Freunde“ von heute, die in der Vergangenheit eher Gegner waren könnten morgen schon die neuen Feinde in einer neuen BĂŒrgerkriegskonstellation zu sein. Überhaupt ist es moralisch fragwĂŒrdig und politisch lĂ€ngerfristig hoch riskant Waffen auf einer Seite in einen BĂŒrgerkrieg hinein zu pumpen. Die USA haben mit Hilfe der TĂŒrkei und der Finanzierung von Katar und Saudi Arabien schon genĂŒgend Waffen auf den Kriegsschauplatz Syrien geschleust. Die Bewaffnung von Assads Opposition hat den BĂŒrgerkrieg nicht beendet, sondern verlĂ€ngert und die IS gestĂ€rkt. Die geschichtliche Tragödie droht sich zu wiederholen, nun möglicherweise als blutige Farce. Wir wissen nicht, wen die Waffenlieferungen tatsĂ€chlich stĂ€rken und ob die so GestĂ€rkten nicht morgen auch die Feinde von Frieden und Menschenrecht sein werden. Mit der Norm „Responsibility to Protect“ haben dies nichts zu tun. Mit humanitĂ€ren Interventionen auch nicht. Schon eher bestĂ€tigt es Karl Deutschs warnende Definition: „Macht ist das Privileg, nicht lernen zu mĂŒssen“.

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