Im Eiltempo regiert – ein Jahr Große Koalition

Mehr Macht war selten in der Bundesrepublik in einer Regierung vereint. Nach dem Ausscheiden der FDP aus dem Bundestag und dem damit verbundenen Verlust des „natürlichen Koalitionspartners“ der Union war für viele politische Beobachter klar, dass die Bildung einer Großen Koalition aus CDU/CSU und SPD unausweichlich sein würde. Andere Bündnisoptionen waren vor der Wahl entweder ausgeschlossen oder auf Bundesebene nicht ausreichend vorbereitet worden.

Zusammen vereinen Union und SPD 504 von 631 Sitzen und damit mehr als drei Viertel aller Mandate auf sich. Durch diese Übergröße ist die „Mini-Opposition“ weitgehend marginalisiert. Grüne und Linke beschweren sich über knappe Redezeiten, zur Wahrung ihrer parlamentarischen Minderheitenrechte mussten Sonderregelungen für die Einsetzung von Untersuchungsausschüssen und Beantragung von Sondersitzungen des Parlaments gefunden werden. Auch die Kontrolle der Regierung ist erschwert. Der Opposition fehlt die nötige Stimmenzahl, um in Karlsruhe ein Verfahren zur abstrakten Normenkontrolle anzustoßen. Bei den Bürgerinnen und Bürgern hingegen kommt die konsensuale Stimmung der Großen Koalition gut an. Die Zufriedenheitswerte für die Arbeit der Bundesregierung, aber auch die Zustimmungswerte zu den einzelnen Koalitionsparteien befanden sich selten auf so hohem Niveau. Auch in den Persönlichkeitswerten schneiden die Spitzenpolitiker der Regierung außerordentlich gut ab. Die Zustimmung zu Angela Merkel erstreckt sich bis ins Oppositionslager hinein.

Doch wie hat die Große Koalition diese ungewöhnlich positive Ausgangslage im ersten Jahr ihrer Regierungszeit genutzt? Wo konnte sie ihre Ziele erreichen, in welchen Bereichen sind sie hinter den Erwartungen zurückgeblieben? Wie die Gesamtschau zeigen wird, hat man im Eiltempo die meisten wesentlichen Punkte des Koalitionsvertrages abgearbeitet. Dort, wo der Koalitionsvertrag klare Linien vorgab, gelang dies erstaunlich harmonisch. Immer dort, wo klare Vorgaben fehlten, passierte entweder nichts, oder es zeigten sich erste Risse in der Großen Koalition. Mit der Erledigung des Koalitionsvertrages stellt sich daher die Frage, was von dieser Koalition in den nächsten drei Jahren noch zu erwarten ist.

Nach innen sozial – nach außen liberal

Die wichtigsten Schritte der Großen Koalition wurden in den Bereichen Arbeit und Soziales sowie Familie und Frauen vor allem von den Sozialdemokraten getan. Hier sind die Frauenquote, der Mindestlohn, die Mietpreisbremse sowie der Mindestlohn zu nennen. Sie sind die steuerungspolitisch stärksten Eingriffe in den Arbeitsmarkt und in die Wirtschaft seit der Agenda 2010 und stellen eine Abkehr von einem marktliberalen Kurs dar.

  • Die Frauenquote sieht vor, dass ab 2016 knapp ein Drittel der Aufsichtsratsposten in börsennotierten und öffentlichen Unternehmen von Frauen besetzt sein sollen. In absoluten Zahlen sind das etwa 170 neu zu besetzende Stellen, so dass die kurzfristige Wirkung zwangsläufig auf ein (längst überfälliges) Symbol beschränkt bleiben muss. Ob die Frauenquote jedoch in der Folge dazu beiträgt, dass sich weibliche Führungskräfte auch jenseits der Aufsichtsräte durchsetzen können oder ob die Quote auf Symbolpolitik beschränkt bleibt, muss sich erst zeigen.

  • Der jetzt geschaffene Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde gilt ab dem 01.01.2015 für alle volljährigen Arbeitnehmer. Ausgenommen ist allerdings die Entlohnung von Praktikanten.

  • Die Mietpreisbremse regelt die Miethöhe bei der Neuvermietung von Bestandswohnungen und limitiert die zulässige Höchstmiete auf das Niveau des lokalen Mietspiegels zuzüglich 10 Prozent.

  • Das Rentenpaket dreht einen Teil der marktliberalen Reformen der letzten großen Koalition zurück. Hatte man damals noch die Rente mit 67 eingeführt, wird jetzt eine abschlagsfreie Rente mit 63 bei 45 Beitragsjahren in der Sozialversicherung möglich. Gleichzeitig wird mit der sogenannten Mütterrente die Erziehungszeit von nicht erwerbstätigen Erziehungsberechtigten bei der Rente stärker anerkannt sowie die Erwerbsminderungsrente erhöht. Die Kosten für diese Rentenreform sind hoch, selbst wenn man die eher moderate Zahl der Bundesregierung von 160 Milliarden Euro bis 2030 anlegt. Vor dem Hintergrund der Euro-Krise und der europäischen Sparpolitik ist dieses Rentenpaket den europäischen Partnern nur schwer zu vermitteln.

  • Daneben stehen die Aufstockung der Mittel für Kitas, sowie das geplante Gesetz zur Regelung der Tarifpartnerschaft, das die Tarifrechte der Berufs- und Spartengewerkschaften wie der Gewerkschaft der Lokomotivführer oder der Piloten einschränken soll.

Während die große Koalition in der Innenpolitik ein sozialpolitisches Zeichen setzt, fährt sie in der Außenwirtschaftspolitik unvermindert einen marktliberalen Kurs. Die Verhandlungen der EU mit den USA über eine transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft (TTIP) nahmen im Frühjahr langsam an Fahrt auf. Dazu konnten die Verhandlungen mit Kanada um ein ähnlich gestaltetes Abkommen abgeschlossen werden. Nachdem lautstarke Kritik am Streitschlichtungsmechanismus für ausländische Investoren aufflammte, musste die EU-Kommission die Verhandlungen zu diesem Teil des Abkommens vorerst auf Eis legen und initiierte im März öffentliche Konsultationen zum Investitionsschutz. Bundeswirtschaftsminister Gabriel mahnte im Hinblick auf TTIP und CETA, dass mögliche Investitionsstreitigkeiten auf keinen Fall deutsche Arbeits- und Sozialstandards untergraben dürften. Er ruderte im Herbst jedoch wieder zurück, da CETA bereits komplett verhandelt ist und keine Änderungen am Vertragstext mehr möglich sind. Unklar bleibt, ob die finale TTIP-Fassung Streitschlichtungsklauseln enthalten wird.

Die Finanzpolitik der großen Koalition ist auf Sand gebaut

Während Merkel und Schäuble nach außen weiterhin Austeritätspolitik von Griechenland, Spanien und Portugal fordern, wird nach innen ein Sparkurs vorgegaukelt. Dieser steht aber auf wackeligen Füßen.

Der Bundesrechnungshof begrüßt den von Finanzminister Schäuble vorgelegten ausgeglichenen Haushaltsentwurf, warnt aber gleichzeitig, dass die ‘schwarze Null’ leicht kippen könne: zum einen seien die Sozialausgaben im Vergleich zum Investitionsrahmen zu hoch. Zum anderen könne ein Ansteigen des historisch niedrigen Zinsniveaus leicht zu Mehrausgaben durch höhere Zinszahlungen des Bundes führen, sollte die EZB ihre lockere Geldpolitik zurückfahren. Auch eine Verschärfung der Staatsschuldenkrise könne den Entwurf ohne weiteres ins Wanken bringen. Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung ging noch härter mit dem Finanzminister ins Gericht: der ausgeglichene Haushalt sei nur durch die niedrigen Zinsen, das Auslaufen des Euro-Rettungsschirms, Rekordsteuereinnahmen und die gute konjunkturelle Lage erreicht worden. Im Kern wurde eben nicht mutig gespart, sondern nur mehr eingenommen. Dazu korrigierte der Sachverständigenrat seine Konjunkturprognose für 2015 noch einmal kräftig nach unten. Ob angesichts dieses eher moderaten Sparkurses im Inneren von den europäischen Partnern weitere drastische Sparmaßnahmen erwartet werden können, ist zweifelhaft.

In der Sicherheitspolitik klaffen Anspruch und Wirklichkeit weit auseinander

Bundesverteidigungsministerin von der Leyen und Bundespräsident Gauck riefen euphorisch aus, Deutschland müsse mehr Verantwortung in der Welt übernehmen. Im Hinblick auf die Ukraine und Syrien zeigte sich aber bei genauerem Hinsehen wie kurzgedacht und inkonsequent die deutsche Außenpolitik ist.

In der Ukraine-Krise schwankte die Bunderegierung zwischen Abbau (Steinmeier) und dem Beharren auf Wirtschaftssanktionen (Merkel) gegen Russland. Insbesondere die osteuropäischen Länder bekamen die Antwort Moskaus auf die Sanktionspolitik der EU und der USA hart zu spüren. In Polen und im Baltikum brach nach einem russischen Einfuhrverbot für europäische Lebensmittel der wichtigste Absatzmarkt für Früchte komplett weg. Auch auf die Energiepolitik hatte das angespannte Verhältnis zwischen EU und Russland Auswirkungen. Russland erklärte das ‘South-Stream’ Projekt durch das Schwarze Meer für beendet und nahm stattdessen Gespräche mit der Türkei auf.

Im März dieses Jahres nahm der NSA-Ausschuss des deutschen Bundestages seine Arbeit auf. Die Arbeit des Ausschusses ging aber nur schleppend voran und wurde durch die Ukraine-Krise überschattet. Noch ist nicht geklärt, ob der Bundesnachrichtendienst illegal persönliche Daten deutscher Bundesbürger an amerikanische Geheimdienste weitergegeben hat. Ein klare außenpolitische Rüge gegenüber den USA, etwa durch die Bundeskanzlerin, suchte man aber bislang vergebens.

Verantwortung übernehmen – im Syrienkonflikt und gegenüber dem Islamischen Staat hätte dies einen Bundeswehreinsatz bedeutet, der jedoch von verantwortlicher Seite von vorneherein ausgeschlossen wurde. Stattdessen verstieß die große Koalition gegen die selbstgesetzte Maxime, keine Waffen in Krisengebiete zu liefern. Zudem kamen die starken Mängel an der Ausrüstung der Bundeswehr und in der Wehrbeschaffung ans Tageslicht. Zur offensichtlich nur eingeschränkten Einsatzfähigkeit der Bundeswehr gesellte sich indes die für den Steuerzahler teuren Planungsfehler im Beschaffungsverfahren zur Kampfdrohne ‘Eurohawk’.

Der Syrien-Konflikt zog außerdem eine wachsende Zahl Asylsuchender nach sich, auf die die Regierung bislang mit zu wenig konkreten Maßnahmen reagiert. Mit einem neuen Aufnahmeprogramm für syrische Flüchtlinge einigten sich im Juni 2014 die Innenminister von Bund und Ländern auf die Aufnahme von zusätzlichen 10.000 Flüchtlingen. Tatsächlich war die Anzahl neuer Flüchtlinge so groß, dass bis auf Hessen und Schleswig-Holstein keine Bundesländer mehr neue Flüchtlinge aufnahmen. Nachdem das Flüchtlingsrettungsprogramm ‘Mare Nostrum’ durch das weniger auf Rettung als auf Grenzschutz ausgelegte EU-Programm ‘Triton’ ausgetauscht wurde, setzte sich einzig Entwicklungshilfeminister Gerd Müller gegen Einsparungen in der Flüchtlingsrettung ein, konnte damit aber bislang keine substantiellen Verbesserungen erreichen. Während ein aktives militärisches Engagement in Syrien nicht in Frage kommt, stößt zugleich die Solidarität mit den Opfern des Krieges an innenpolitische Grenzen. Von ‘mehr Verantwortung’ kann wahrlich nicht die Rede sein.

Fragiler Frieden – Zukünftige Herausforderungen für die Große Koalition

Doch wie ist es um die innere Verfassung der Koalition bestellt? Die Zusammenstellung des Erreichten in den einzelnen Ressorts macht deutlich, dass die Große Koalition bisher strikt dem Drehbuch des Koalitionsvertrages gefolgt ist. Dort, wo man in der Großen Koalition freier verhandeln musste, wie etwa bei der Novelle des Flüchtlingsaufnahmegesetzes, konnte ein Konsens erzielt werden. Nicht viel spricht jedoch dafür, dass dies in den kommenden Jahren generell so bleibt.

Seit Mitte des Jahres spitzt sich die Debatte über deutsche Dschihadisten im Ausland und ‘Heimkehrer’ zu. Auch die Intensivierung der Kämpfe des Islamischen Staates an der türkisch-syrischen Grenze führen zu Demonstrationen gegen eine ‘schleichende Islamisierung des Abendlandes’ (PEGIDA – ‚Patriotische Europäer gegen eine Islamisierung des Abendlandes; HOGESA – ‚Hooligans gegen Salafisten‘), insbesondere in Sachsen. Zuletzt nahmen bis zu 10.000 Menschen an den Demonstrationen in Dresden teil. Der Aufstieg dieser national-konservativen, populistischen Bewegung wird begleitet von den Wahlerfolgen der AfD und birgt für die Union die Gefahr, Wählerinnen und Wähler am rechten Rand zu verlieren. Auf den Parteitagen von CDU und CSU wurde eine Positionierungsdebatte zur AfD noch vermieden, langfristig ist das jedoch keine Strategie.

Die CSU ist bereits jetzt gegenüber ihren Koalitionspartnern ins Hintertreffen geraten. Mit dem Beharren auf der innerkoalitionär umstrittenen PKW-Maut gab die CSU in den Koalitionsverhandlungen einen Teil ihrer Verhandlungsmacht auf und erzielte ihre Erfolge im Wesentlichen beim Erhalt des Status quo: Am Erziehungsgeld und Ehegattensplitting wurde nicht gerüttelt. Aber auch die Edathy-Affäre, in deren Folge die CSU einen Ministerposten neu besetzen musste, zehrte offenbar am Nervenkostüm der Christsozialen. Zukünftige Konflikte mit der CSU können aber vor allem im Zuge der Energiewende erwartet werden. Der Streit um den Verlauf neuer Stromtrassen lässt einen neuerlichen Profilierungsversuch aus München erwarten.

Die SPD war im ersten Jahr der Großen Koalition besonders darauf bedacht, ihr sozialpolitisches Profil zu schärfen und agierte wesentlich planvoller als zu Beginn der letzten Koalition mit der Union 2005. Die Rente mit 63 und die Frauenquote sind geeignet, die traditionelle Wählerklientel der SPD anzusprechen. Fraglich ist, ob dies dem Wähler bis zu einer Bundestagswahl 2017 in Erinnerung bleiben wird.

Zusätzlich stellt sich die Frage, wie es nach Vollendung des Koalitionsvertrages weitergeht. Je mehr die Aufgaben abgearbeitet sind, desto mehr Raum bleibt für die Partikularinteressen der einzelnen Parteien. Die hohen Steuereinnahmen wecken schon jetzt Begehrlichkeiten: Unüberhörbar sind die Rufe aus der Union, die Bekämpfung der „Kalten Progression“ nun endgültig in Angriff zu nehmen. Die SPD möchte lieber das Kindergeld deutlich erhöhen. Auch die anstehenden Landtagswahlen sind geeignet, das Klima zwischen den Koalitionspartnern zu verschlechtern. In elf Bundesländern muss noch bis zur nächsten Bundestagswahl gewählt werden, darunter auch in Baden-Württemberg, dem eigentlichen Kernland der CDU, in dem ein Lagerwahlkampf droht. In Mecklenburg-Vorpommern wird auf die SPD die Wahl zwischen einer Großen Koalition oder einem rot-roten Bündnis zukommen. Die starke Rhetorik der Union gegen den ersten linken Ministerpräsidenten in Thüringen gibt schon jetzt einen Vorgeschmack auf die anstehende Wiederbelebung einer “rote Socken”-Kampagne.

Die Vielzahl an neuen und erneuerten Gesetzen durch die Große Koalition verdeckt jedoch, dass wichtige Themenfelder in der Bundesrepublik unangetastet blieben. Die Herausforderungen der Demographie, der steigende Fachkräftemangel, ein Wiederaufflammen der Euro-Krise sind geeignete Themen den scheinbaren Frieden in der Großen Koalition zu stören. Daher spricht vieles dafür, dass es mit der Harmonie in der Großen Koalition nach diesem ersten Jahr zu Ende geht. Die SPD wird viel daran setzen, den Wählern die eigenen sozialpolitischen Leistungen in Erinnerung zu halten und sich immer stärker von der Union absetzen. Die Union wird sich zur AfD positionieren und den Rufen nach Steuererleichterungen standhalten müssen. Den Bürgerinnen und Bürgern könnten drei lange Jahre des Wahlkampfes ins Haus stehen.

Ein Gedanke zu „Im Eiltempo regiert – ein Jahr Große Koalition

  1. Danke für die super leserfreundliche Zusammenfassung! Wusste gar nicht mehr, was da eigentlich alles passiert ist. Auch für den politischen Laien super zu verstehen…

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