Die Fakten sind bekannt. Seit dem Ausbruch der Finanz- und wenig spĂ€ter der Eurokrise erlebt Griechenland die dramatischste Wirtschaftskrise Westeuropas seit 1950. Die Arbeitslosigkeit stieg von 7,8 % im Jahr 2008 auf 27,5 % (2013); die Jugendarbeitslosigkeit betrĂ€gt das Doppelte. Das Wachstum brach in den fĂŒnf Jahren nach Ausbruch der Krise um 29 % ein, der Mindestlohn wurde um ein Viertel gekĂŒrzt. Die desaströsen Kennziffern könnten fortgesetzt werden und deuten doch die soziale Katastrophe nur an.
Ist die Politik der Troika undemokratisch?
Die Auslöser der Krise sind vielfach: riskante KreditgeschĂ€fte der Banken, die Blase auf dem Immobilienmarkt, die Spekulation gegen den Verbleib Griechenlands im Euro, selbstherrliche nordamerikanische Rating-Agenturen, der failing tax state, den die Griechen selbst zu verantworten haben, die erschlichene Aufnahme Griechenlands in die europĂ€ische Wirtschafts- und WĂ€hrungsunion, das Zögern der deutschen Regierung, Griechenland in der Eurokrise UnterstĂŒtzung zuzusagen, und das AusteritĂ€tsprogramm der Kreditgeber, das Griechenland in die Depression trieb. Das von der Troika und den deutschen Bundesregierungen oktroyierte Sparprogramm war und ist ein wirtschaftliches Desaster. Aber ist es auch undemokratisch?
Nimmt man einen verfassungstheoretischen Standpunkt ein, lieĂe sich folgendermaĂen argumentieren. Ein Mitglied der Eurozone gerĂ€t in finanzielle Turbulenzen und fragt bei den europĂ€ischen Institutionen Kredite nach, die ihm private KreditmĂ€rkte mangels BonitĂ€t verweigern. Der IWF, die Kommission und die EZB handeln die Kreditbedingungen aus. Die Konditionen sind hart, unsolidarisch und ökonomisch desaströs. Niemand â so das formaldemokratische Argument â zwingt Griechenland, diese Bedingungen anzunehmen. Das griechische Parlament ist souverĂ€n und kann die Kredite wie ihre Bedingungen ablehnen. Bisher hat das Parlament in Athen aber noch jedes Hilfspaket angenommen. Selbst die herrisch auftretenden EmissĂ€re der Troika, die tief in die Haushalts-, Sozial- und gar Lohnpolitik des Landes eingreifen, könnten mit einem einfachen Parlamentsbeschluss aus dem Land geschickt werden. Das ist bisher nicht geschehen. Regierung und Parlament schĂ€tzen die unwĂ€gbaren Kosten eines möglichen Austritts des Landes aus dem Euro höher ein als den Schaden, den die Sparpolitik anrichtet. Die Politik der EU ist unsolidarisch, im Verfassungssinne undemokratisch ist sie nicht.
Das ist aber noch nicht die ganze Geschichte. Sie lĂ€sst sich auch anders schreiben und mit guten demokratischen Argumenten. In parlamentarisch-reprĂ€sentativen Demokratien wĂ€hlen die BĂŒrger ihre Abgeordneten und diese die Regierung. Beide sollen gemÀà ihrer programmatischen Versprechen die Interessen und PrĂ€ferenzen ihrer WĂ€hler durchsetzen. Sind die BĂŒrger mit der Politik nicht zufrieden, können sie die Regierung abwĂ€hlen. In Griechenland, Spanien und Portugal haben die WĂ€hler in der Krise mehrfach ihre Regierungen ausgewechselt. Diese haben aber stets die gleichen AusteritĂ€tspolitiken exekutiert wie ihre VorgĂ€ngerinnen. Die BĂŒrger konnten wĂ€hlen, hatten aber keine Wahl. Demokratische Wahlen werden bedeutungslos, wenn sie nicht unterschiedliche Politiken ermöglichen. Das ist das Damoklesschwert der Postdemokratie, das nicht nur ĂŒber SĂŒdeuropa hĂ€ngt.
Nun ist Ende 2014 Unerhörtes geschehen. Die Griechen haben eine linkssozialistische Regierung mit einem nationalistischen Juniorpartner gewĂ€hlt. Den Kern beider Wahlprogramme bildete die Ablehnung des âDiktatsâ der Troika. Seitdem verhandeln beide Seiten, auch mit symbolischen Tritten unterm Konferenztisch. Noch ist nicht erkennbar, ob Syriza viel mehr erreichen wird als seine korrupten VorgĂ€ngerregierungen. Es wird darauf ankommen, dass die Troika der demokratisch legitimierten Regierung mehr SpielrĂ€ume lĂ€sst. Sonst werden sich die Verantwortlichen den Vorwurf gefallen lassen mĂŒssen, dass sie sich als neokoloniale Kreditgeber daran beteiligen, demokratische Regierungen auszuhöhlen. Vielleicht hat die Kanzlerin das gemeint, als sie von marktkonformen Demokratien sprach.
Die demokratische Geschichte ist damit allerdings noch nicht zu Ende. Denn auch die Regierungen der KreditlĂ€nder sind demokratisch gesehen nichts anderes als die ReprĂ€sentanten ihrer BĂŒrger. Sie sind verpflichtet, im Auftrag ihres Demos zu handeln. In Deutschland suggerieren uns Umfragen, dass eine ĂŒbergroĂe Mehrheit der Bevölkerung Kredite und Garantien an Griechenland nur dann billigt, wenn sie mit strengen Sparauflagen verbunden sind. Die Kanzlerin erweist sich aus dieser Perspektive wieder einmal als lupenreine Demoskopie-Demokratin. Als Kanzlerin ist sie allerdings laut Verfassung angehalten, Schaden vom deutschen Volk abzuwenden, auch wenn das gegen die Ăberschriften der Bildzeitung verstöĂt. Gehen die deutsche Regierung und die Troika weiter so rabiat mit der SouverĂ€nitĂ€t schwĂ€cherer Staaten in Europa um, werden sie lĂ€ngerfristig manche europĂ€ischen Völker gegen den germanischen âPraeceptor Europaeâ aufbringen.
Aber auch hier endet die Geschichte noch nicht. So tief die Eurokrise auch ist, hinter ihr verbirgt sich ein noch grundsĂ€tzlicheres Problem: die innere Verfasstheit der EuropĂ€ischen Union. Die EU hat den europĂ€ischen BĂŒrgern viele wirtschaftliche, kulturelle, ja sogar politische Freiheiten gebracht. Sie hat aber zwei gewichtige Nachteile: Sie ist zum einen weniger demokratisch organisiert als ihre Mitgliedsstaaten, zum anderen hat sie den Handlungsspielraum demokratischer Entscheidungen gegenĂŒber den MĂ€rkten weiter eingeschrĂ€nkt. Es birgt deshalb eine grundsĂ€tzliche Problematik, wenn von den demokratischeren Nationalstaaten Kompetenzen an eine supranationale Union abgegeben werden, die von Parlamenten wenig kontrolliert wird, die Partizipation der BĂŒrger kaum kennt, den Wirtschaftslobbys besondere Macht einrĂ€umt und von einer europĂ€ischen Ăffentlichkeit nicht die Rede sein kann. Bisher war jede Machtabgabe an die EuropĂ€ische Union auch ein Wechsel auf eine demokratischere Zukunft, der stets geplatzt ist.
Dieser Beitrag erschien zuerst als “Ist die Politik der Troika undemokratisch?” in der letzten Ausgabe der WSI-Mitteilungen, 04/2015, des Wirtschaftswissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung.