von Seongcheol Kim
Dieser Text basiert auf der Rezension „Lesen als Revolte? Rezension zu Philipp Felsch: Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte 1960-1990“, in: Ethik und Gesellschaft 2/2015.
Philipp Felschs Buch Der lange Sommer der Theorie verspricht dem Leser eine ganz besondere Reise durch die Zeit: Anhand der Geschichte eines Westberliner Verlagskollektivs und dessen Protagonisten soll die dreißigjährige ›Geschichte einer Revolte‹ beleuchtet werden. Insofern folgt das Buch dem Muster zahlreicher Beiträge zur sogenannten 68er-Literatur, die die Bedeutung von ’68 in der intensiven Herausarbeitung einer exemplarischen Facette suchen: Aus (auto-)biographischen Narrativen (vgl. etwa Koenen 2001; Kraushaar 2001; Hockenos 2008), detaillierten Studien über bestimmte Milieus (vgl. etwa Reichardt/Siegfried 2010; Reichardt 2014) oder auch Dokumentationen der Verhältnisse von Frankfurter Schule und Studentenbewegung (vgl. etwa Kraushaar 1998; Müller 2003) heraus sind anspruchsvolle Ideengeschichten der außerparlamentarischen Linken in Deutschland konstruiert worden. Felsch gelingt es allerdings, einen höchst originellen Beitrag zu dieser mosaikartigen Literatur zu leisten, indem er eine völlig neue Facette beleuchtet und situiert: den Merve-Verlag als Knotenpunkt von Lesepraktiken, der das Rezipieren zeitgenössischer theoretischer Entwicklungen als kollektive Lebensform praktizierte und die Theorie zugleich als Rohstoff für politische Akteure zugänglich machte. Damit bietet Felschs Buch eine produktive Basis für weiterführende Überlegungen etwa zum schwierigen Verhältnis von Theorie und Praxis, zum komplexen Zusammenspiel verschiedener gesellschaftlicher Praktiken, die die Revolte ausmachte, und zu deren ambivalenten Implikationen für die Demokratie. Das Ziel des vorliegenden Beitrags ist zu beginnen, diese Überlegungen aufzugreifen.
Theorie und Praxis
An der Person von Peter Gente, dem Mitbegründer des Merve-Verlags, schildert der Autor den Übergang von der ›Bundesrepublik Adorno‹ zu jener Zeit der 1960er Jahre, die sich durch die Symbiose zwischen politischem Radikalismus und theoretischer Experimentation auszeichnete. Gente gehörte in den 1950er Jahren zu einem Publikum, dem in einer größtenteils theoriearmen Zeit die poetisch-nachdenkliche Sprache der Minima Moralia aus der Seele sprach. Ebenso stellvertretend für seine Generation wirkt die einfache, herausfordernde Frage, die er Adorno in einem Brief vom November 1965 stellte: »Ist Theorie praktizierbar oder nicht?« (45) In Folge von Unvereinbarkeitsbeschluss, Außerparlamentarischer Opposition und Kampf gegen die Notstandsgesetze geriet Gente ebenfalls in den Strudel der vielfältigen Versuche, Theorie endlich praktizierbar zu machen. Dabei bestand die Eigentümlichkeit von Gentes Praxis darin, dass diese eine Praxis des Lesens, nach Althusser sogar eine ›theoretische Praxis‹ darstellte: Im Zuge sowohl der Studentenproteste als auch der ›Taschenbuchrevolution‹ fand der Wahlberliner Gente seine Nische im Lesen und Herausgeben von Theorie – und zwar im Rahmen eines Kollektivs, das dem nach der Auflösung des SDS eingetretenen Muster des selbstverwalteten Projekts sowie der damit einhergehenden Sehnsucht nach »utopische[m] ›Ausdiskutieren‹« (82) entsprach.
Besonders überzeugend gelingt es Felsch, den Merve-Verlag als Knotenpunkt von Lesepraktiken und damit als Dreh- und Angelpunkt diverser theoretischer Einflussnahmen – vor allem des französischen Poststrukturalismus – auf die außerparlamentarische Linke der Bundesrepublik darzustellen. Die »publizistische Mission« des Verlags bestand darin, »den deutschen Ableitungsmarxismus mit Theorie-Importen aus dem Ausland zu versorgen« (69f.). Althusser, Deleuze und Guattari, Foucault, Lyotard, Negri – sie alle wurden von den Lesern im Kollektiv entdeckt, in langwierigen Diskussionssitzungen durchdekliniert und dem Bewegungspublikum in Form der Merve-Bändchen bekannt gemacht. Damit ging einher, dass für das Kollektiv das Lesen selbst – »die Erfahrung des gemeinsamen Lesens« (122) – zu einer Praxis wurde, die dann natürlich, so wie jede andere auch, permanent reflektiert werden musste. Nur Gente, der unersättliche Leser und Sammler mit (durch Adorno-Lektüre mitgeprägtem) Hang zum »schwierigen Denken«, und das Merve-Kollektiv, das Theorie als Erfahrung an sich und nicht um deren Verwertbarkeit in politische Praxis willen interessierte, konnten wohl die Aufgabe übernehmen, Konzepte wie strukturelle Kausalität, die Archäologie des Wissens und das Rhizom nach Deutschland zu importieren. Das Merve-Kollektiv als sowohl Rezeptions- als auch Diskussionszusammenhang versuchte, in seiner eigentümlichen Art, Theorie und Praxis (des Lesens) zu verbinden.
So sehr der Althussersche Begriff der ›theoretischen Praxis‹ dem Selbstverständnis des Merve-Kollektivs auch entsprechen mag, so deutet er gleichwohl bereits auf dessen Widersprüche und Grenzen hin. Rancière etwa kritisierte seinen einstigen Lehrer Althusser dafür, mit dem Konzept letztlich die eigene (privilegierte) Stellung in Partei und Universität zu festigen; eine ›theoretische Praxis‹ zu theoretisieren, war der selbstermächtigende und -legitimierende Akt des Theoretikers, der damit seine Rolle als handelndes Subjekt im Klassenkampf behauptete, ohne selber auf die Straße gehen zu müssen (vgl. Rancière 2014). Für das Merve-Kollektiv boten Denker wie Barthes, Deleuze und Guattari die Möglichkeit, »allein durch Lesen radikal zu sein« (126) oder auch eine »Partisanenexistenz« (133) zu führen. Die Selbstermächtigung des Lesers zum handelnden Subjekt fand wohl mit der Idee von de Certeau, dass nach dem »Tod des Autors« (Barthes) der Leser zum wahren Produzenten des Buches geworden sei, ihren Höhepunkt (vgl. 129f.). Auch wenn die Mitglieder des Kollektivs diese Ideen nicht einfach so übernahmen, fanden sie damit im Gegenstand des Lesens dessen eigene Legitimation – und investierten dafür ihre Vita activa, ja machten das Lesen zur kollektiven Lebensform. Insofern geriet auch das Merve-Kollektiv paradoxerweise in die gleiche Falle einer »Ideologie der Unmittelbarkeit«, die Wolfgang Kraushaar damals dem Frankfurter Sponti-Milieu vorwarf: nämlich einer eigentümlichen Einheit von Theorie und Praxis, die sich in der Umleitung von revolutionären Energien in die Realisierung alternativer Lebensentwürfe und in die »Radikalisierung [des eigenen] Lebenszusammenhangs« (Kraushaar 1978, 9) ausdrückte – und zwar ohne Rücksicht auf deren »soziale Wirksamkeit« (Kraushaar 1978, 12), deren Ausbleiben aber oft zum »Rückzug ins Private, Resignation und Selbstentmündigung« (Erdheim 1984, 10) führte.
Abschied vom Kollektiv
Was dem Buch letztlich fehlt, ist eine Reflexion dieser Widersprüche im Zusammenhang mit den vielen anderen, eng miteinander verzahnten gesellschaftlichen Praktiken, die die ›Revolte‹ von 1960 bis 1990 ausmachten. Auch wenn es nicht der Anspruch des Buches ist, diese Geschichte umfassend zu erzählen – wobei dessen Untertitel einen solchen Anspruch implizieren könnte –, bietet es durch die Herausarbeitung einer exemplarischen Facette einer vielschichtigen Revolte eine produktive Basis für die Suche nach übergreifenden Zusammenhängen. Die Gründe für Gentes Abschied vom Kollektiv (wie eine ältere Studie über den Frankfurter ›Pflasterstrand‹ heißt, vgl. Horn 1989) etwa werden nicht aufgeklärt, könnten aber womöglich symptomatische Bedeutung haben. Einerseits gehörte es zur Diagnose mancher kritischer Zeitgenossen, dass die verschiedensten Milieu-Experimente gerade an ihrer mangelnden »soziale[n] Wirksamkeit« scheiterten und damit letztlich Atomisierung und Zerfaserung (»individuelles Programm und politische Enthaltsamkeit«), ja sogar den »Tod des gesellschaftlichen Subjekts« zur Folge hatten (Pflasterstrand 1977, 31). Aus dieser Perspektive ließe sich der Verlust des Kollektivzusammenhangs als Ergebnis einer Er- bzw. Ausschöpfung revolutionärer Energien in der »Radikalisierung des eigenen Lebenszusammenhangs« betrachten. Gerade vor diesem Hintergrund dürfte es kein Zufall sein, dass etwa die Umwandlung des ›Pflasterstrand‹ in eine GmbH unter Cohn-Bendit zu einem ähnlichen Zeitpunkt erfolgte, als »Gentes Liebe zum Verlag« und zum Kollektiv »im feuchtfröhlichen Geschwätz der Discos der 1980er-Jahre einfach verloren« ging (Goering 2015). Beides fiel nämlich in eine Zeit, in der einstige Milieuakteure wie Dany le rouge inzwischen als grüne Parteiakteure agierten und wenig Interesse an der Autonomie selbstverwalteter Projekte zeigten – und dies gerade damit rechtfertigten, »Ghettopolitik« (Pflasterstrand 1977, 30) und »Mangelwirtschaft« (zitiert in Horn 1989, 78) entgegensteuern zu müssen. Der Tunix-Kongress, den Gente zusammen mit Foucault erlebte, stellte insofern eine Weichenstellung dar, als mit der Gründung der taz ein ›Strukturwandel alternativer Öffentlichkeit‹ eingeleitet wurde: Fortan waren die zahlreichen lokalen Alternativmedien auf die taz als einziges überregionales Alternativmedium angewiesen und sahen sich zunehmend vor die Wahl gestellt, ihre Autonomie gegen größere Reichweite tauschen zu müssen (vgl. Stamm 1988). In ähnlicher Weise sahen sich viele Milieuakteure gezwungen, sich bei den Grünen zu engagieren, um »nach jahrelanger Ghettopolitik die Beschränktheit einer Scene zu sprengen, die wie die Henne auf dem Ei ihrer eigenen politischen Kraft sitzt« (Pflasterstrand 1977, 30) – damit aber auch das Prinzip der Autonomie dem der Parteimitgliedschaft unterzuordnen (da die Grünen ein stark mitgliederbasiertes Basisdemokratie-Modell praktizierten, vgl. Demirović 1998).
Und wo bleibt die Demokratie?
Die Widersprüche zwischen lokaler und überregionaler Praxis, zwischen alternativen Lebensentwürfen und sozialer Wirksamkeit, zwischen Autonomie und grüner Basisdemokratie deuten auf einen Aspekt hin, der im Zuge der langen Revolte erstaunlich untertheoritisiert blieb: die Demokratie. Auch wenn die »demokratische Universität« (konzipiert im engen Zusammenhang mit gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen) eine zentrale Rolle in der Kampagnenarbeit des SDS spielte (vgl. etwa Sozialistischer Demokratischer Studentenbund 1967), nahm deren Bedeutung nach dem Zerfall des SDS entsprechend ab. Theoretische Leitbilder der vielfältigen Milieu-Projekte der 1970er und 80er Jahre waren viel eher ›Autonomie‹ oder auch ›Politik in erster Person‹ (vgl. etwa Schmid 1975; Röttgen 1976) als ein Versuch, ›Demokratie‹ radikal zu besetzen (wie es etwa Laclau/Mouffe 2001 [1985] ausgehend von den Erfahrungen der ›neuen sozialen Bewegungen‹ versuchten). Im Rezeptions- und Diskussionszusammenhang des Merve-Kollektivs spielten sowohl Theorien, die mit der Herausarbeitung der materiellen Wirklichkeit von Ideologie und Herrschaft die Perspektiven realer Emanzipation in immer weitere Ferne rückten, als auch Theorien, die (gerade) in diesen Zeiten dem Leser eine handelnde Subjektivität zuschrieben, prominente Rollen. Beides wurde in keiner erkennbaren Weise auf die Makro-Ebene der Demokratie oder Demokratisierung des politischen Systems zurückgebunden. Zumindest in dieser Hinsicht bestand die Tradition der Marxschen Theorie weiterhin fort, in der die Demokratie entweder schlicht als ›bürgerlich‹ kritisiert wurde oder als ein Überbauphänomen betrachtet wurde, das nur dann demokratisiert werden kann, wenn die ökonomische Basis grundsätzlich umgewälzt wird.
Dabei lässt sich der reale Beitrag der ›Revolte‹ zur Demokratie in der Bundesrepublik als ebenso tiefgreifend wie ambivalent einschätzen. Im Jahre 1968, noch mitten in der Revolte, sprach Marcuse (1968: 6) von einer »neuen Sensibilität«, die die Studentenproteste bewirkt hätten, ja sogar einem »totalen Bruch mit den in der repressiven Gesellschaft herrschenden Bedürfnissen« (Marcuse 1980 [1967]: 19). Bezeichnenderweise hatte er mehr über die individuellen Autonomieverluste bzw. -wiedergewinnung in der »eindimensionalen« Gesellschaft zu sagen, als über mögliche Perspektiven der Demokratisierung der Demokratie auf der Systemebene. Zwei Jahrzehnte später, an der Schwelle zur Wiedervereinigung, sprach Habermas (1990: 26) zurückblickend mit Verweis auf »den neuen Individualismus der Lebensstile« und »die neuen Formen autonomer Öffentlichkeit« von einer »Fundamentalliberalisierung« der Bundesrepublik. Damit rückte Habermas – mehr als die erste Generation der ›Kritischen Theorie‹ um Horkheimer, Adorno, Marcuse und Benjamin – die Makroebene demokratischer Institutionen und deren Verbindung zur Zivilgesellschaft in den Blick. Während er in seinem einflussreichen Buch Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus (1973) noch die relative Unfähigkeit des »politisch-administrativen Apparats« betont hatte, verwies er in seiner politik- und rechtstheoretischen Schrift Faktizität und Geltung (1992) auf die Demokratisierungspotentiale von Parlament und Regierung, wenn eine vitale Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft die systemische Ebene der Kerninstitutionen der Demokratie unterfüttert. Dies muss aber stärker der Theorieentwicklung des Philosophen Jürgen Habermas und seiner späteren Affirmation parlamentarisch-repräsentativer Institutionen zugeschrieben werden, als dass es als ein direkter Ausfluss der Denkbewegungen von ‘68 zu deuten ist.
Dass die demokratische Leistung der ›Revolte‹ in deren alternativen lebensstil- sowie öffentlichkeiterzeugenden Effekten gesucht wird, deutet gleichwohl bereits auf deren Widersprüche und Grenzen hin. Denn nicht nur in den Beiträgen kritischer Zeitgenossen, die die Frage »Autonomie oder Ghetto?« stellten, sondern auch in neueren (über Deutschland hinausgehenden) Zeitdiagnosen lässt sich das vernichtende Urteil ablesen: Eine primär auf Kultur und Ästhetik beschränkte Revolte der 60er und 70er Jahre habe letztlich den Neoliberalismus mit einer Art ideeller und kultureller Nährboden bedient (vgl. Harvey 1990; Jameson 1991; Boltanski/Chiapello 2007), was Fraser (2013) mit dem Begriff der Triple-Bewegung (anstelle von Polanyis Doppelbewegung) fasst. Gerade mit dem »Paradigmenwechsel von der Arbeits- zur Kommunikationsgesellschaft«, mit dem viele utopische Hoffnungen verknüpft wurden (Habermas 1985: 160), sei es dem Neoliberalismus gelungen, Prinzipien wie ›Autonomie‹ und ›Eigeninitiative‹ nahtlos in seine Funktionsweise zu integrieren (vgl. insbesondere Boltanski/Chiapello 2007). Auch vor dem Hintergrund des zunehmend problematischen Verhältnisses von Kapitalismus und Demokratie (vgl. Merkel 2014; 2015) ist deshalb die Beschränktheit einer Revolte, die die Widersprüche zwischen alternativen Lebensentwürfen und politischen Organisationsentwürfen, zwischen Autonomie und Beweglichkeit, zwischen Subjekt- und Systemebene letztlich nicht überwinden konnte, kritisch anzumerken.
Philipp Felsch (2015): Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte 1960–1990, München: C.H. Beck. 327 S., ISBN 978-3-406-66853-1, EUR 24,95.
Die frühere, bei der Zeitschrift »Ethik und Gesellschaft« erschienene Version dieses Textes finden Sie hier.
Literaturverzeichnis
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