Gesellschaftlicher Zusammenhalt Wirtschaft, Kultur und Diskurs: Die SPD in der Kosmopolitismus-Falle?

Es wird hier nicht um eine sozialpolitisch-psychologische Mikroanalyse gehen. Ich will vielmehr eine Makroperspektive auf drei große Problemdimensionen des gesellschaftlichen Zusammenhalts richten. Diese Problemdimensionen lassen sich auch als Variablen verstehen, d.h., sie beeinflussen maßgeblich den Erfolg oder Misserfolg sozialer und politischer Integration in fortgeschrittenen demokratischen Gesellschaften. Als Variablen sind sie aber veränderbar und nicht Schicksal. Sie sind die wesentlichen Stellschrauben für die politische Gestaltung. Ich werde mich auf folgende drei Variablen konzentrieren:

  • Klasse/Schicht: sozioökonomische Ungleichheit

  • Kultur, Religion, Ethnie: kulturelle Ungleichheit

  • Kosmopolitische Eliten und kommunitäre Bürger: diskursive Ungleichheit

Alle drei Variablen lassen sich analytisch trennen, sind aber in der Realität eng miteinander verwoben, überlappen und verstärken sich. Laufen sie quer zueinander, dann entschärfen sie sich möglicherweise; überlappen sie sich, dann kumulieren die Konflikte und die Integrationsprobleme verschärfen sich. Theoretische Überlegungen wie empirische Fakten legen folgende grundsätzliche Hypothese nahe: Intelligente politische Gestaltung können die sozialen und kulturellen Voraussetzungen für gelingende gesellschaftliche Integration in liberalen und sozialen Demokratien herstellen. Sie müssen aber die unbedarfte Heiterkeit multikulturellen und kosmopolitischen Optimismus ablegen und davon ausgehen, dass heterogene Gesellschaften schwieriger zu regieren sind als homogenen Gesellschaften. In einer nüchternen Analyse dürfen nicht Sein und Sollen vermischt werden.

1. Klasse/Schicht und sozioökonomische Ungleichheit

Seit Beginn der achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts ist die Ungleichheit der Einkommen und Vermögen in der OECD-Welt gestiegen, gleichgültig welchen Indikator man verwendet: Gini-Index, oberste und unterste Quintile, Dezile, Armutsquote oder insbesondere die obersten 1,0 oder 0,1 Prozent der Einkommenspyramide (vgl. u.a. Piketty 2014). Der Anstieg der Ungleichheit ist nicht die »natürliche« Folge von digitaler Revolution, Wissensökonomie oder kühner schöpferischer Zerstörung. Er ist vor allem eine Folge politischer Entscheidungen, die diese besondere Form der Markter- und Staatsentmächtigung seit nunmehr drei Jahrzehnten antreiben.

Gleichzeitig gehen in der OECD-Welt die Wahlbeteiligung sowie die Mitgliedschaft in Parteien und kollektiven Großorganisationen der Gesellschaft zurück. Aus der Politik ausgestiegen ist vor allem das untere Drittel der Gesellschaft. Neue oder direkte Formen der politischen Beteiligung wie NGOs, Volksabstimmungen, Bürgerräte und Bürgerhaushalte oder deliberative Politikform sind sozial noch viel selektiver als die schwächelnden Institutionen der repräsentativen Demokratien. In der partizipativen Welt der OECD haben sich reihum Zweidritteldemokratien eingerichtet. Das untere Drittel ist uns weggebrochen.

Die Demokratie lebt von Voraussetzungen, die sie in Wirtschaft und Gesellschaft nicht (mehr) hinreichend garantieren kann. Das ist keineswegs ein systematischer Strukturdefekt der Demokratie. Wir haben es vielmehr mit der teils bewussten, teils fahrlässigen Preisgabe von staatlichen Regulierungs- und Korrekturkapazitäten gegenüber einer Ökonomie zu tun, die strukturell sozioökonomische Ungleichheit produziert und das fundamentale Demokratieprinzip politischer Gleichheit schleift. Es geht darum, die Verteilungsfrage wieder stärker als allgemeines Leitmotiv in die Finanz-, Wirtschafts- und Bildungspolitik einzuschreiben. Je sozial gerechter, umso integrierter ist eine Gesellschaft und umso höher ist die Qualität der Demokratie. Dafür gibt es messbare Evidenz.

2. Kultur, Ethnie, Religion: Kulturelle Ungleichheit

Kulturell homogene Gesellschaften sind leichter zu regieren. Heterogene Gesellschaften tendieren dazu, ethnische Konfliktlinien zu ziehen, sich in Subkulturen zu fragmentieren, eigene Zivil- und Parallelgesellschaften auszubilden und die Akkumulation von inklusiven Sozialkapital zu reduzieren. Das klingt beunruhigend, weil heterogene Gesellschaften unsere Zukunft sein werden und manche ihrer Aspekte auch ausgesprochen positiv sein können wie kulturelle Vielfalt, wirtschaftliche und soziale Kreativität sowie die Einübung von Toleranz gegenüber dem Anderen.

Empirisch kann die Forschung zum Sozialkapital folgendes zeigen: je größer die sozioökonomische und die ethnisch-religiöse Ungleichheit, umso geringer das wechselseitige Vertrauen der Bürger untereinander. Dieser Zusammenhang ist nicht zwangsläufig, sondern kann moderiert werden, unter anderem durch:

  • Wirtschaftswachstum

  • Meritokratische Mechanismen in der Gesellschaft (faire Aufstiegschancen)

  • Solide soziale Sicherung

  • Geringe soziale Ungleichheit

  • Interethnische soziale Kommunikation

  • Zivilgesellschaftliche Organisationen mit multipler ethnischer Mitgliedschaft

Das Negativszenario unserer Gesellschaft hieße: kein Wachstum, hohe ökonomische Ungleichheit, schwacher Sozialstaat, hohe ethnische Diversität bei gleichzeitig kaum vorhandenen interethnischen gesellschaftlichen Organisationen. Dreht man diese Positionen ins Gegenteil, entsteht ein positives Integrationsszenario. Gerade der Abbau sozioökonomischer Ungleichheit in einer prosperierenden Wirtschaft könnte dabei eine besondere gesellschaftsintegrative Dynamik auslösen, die längerfristig auch kulturelle Gräben überbrücken hülfe.

Gegenwärtig droht sich eine Konfliktlinie zwischen arabischen Muslimen und den europäischen Mehrheitsgesellschaften zu verfestigen, seien diese laizistisch wie Frankreich oder säkular, liberal wie Holland oder katholisch wie Polen und die Slowakei. Im gegenwärtigen Europa existiert kaum ein Beispiel gelungener Integration von Muslimen: weder insbesondere von arabischen Muslimen in Frankreich, Belgien, Holland, Spanien noch von türkischen Muslimen in Deutschland, der Schweiz und Österreich oder von pakistanischen Muslimen in Großbritannien.

Ursache dafür ist sicherlich auch die verfehlte Integrationspolitik Aber nur? Haben schlicht alle Länder versagt? Der liberal-multikulturelle Ansatz in den Niederlanden, die republikanisch-laizistische Politik Frankreichs und der stärker ethnisch-assimilatorische Zuschnitt in der Schweiz, Österreich und Deutschland? Oder kann es sein, dass wir es mit den Menschen aus islamischen Kulturen mit den am schwersten zu integrierenden Ethnien zu tun haben, weil Kernelemente ihrer gegenwärtigen Gesellschaften die größte Distanz zu Leitwerten unserer liberalen und säkularen Gesellschaftskulturen aufweisen? Dafür gibt es Indizien, wenn man gerade die kulturellen Modernisierungen unserer Gesellschaft der letzten Jahrzehnte betrachtet:

  • Gleichstellung der Geschlechter

  • Homosexualität, sexuelle Selbstbestimmung

  • Recht auch Skepsis, Ironie und Satire gegenüber der Religion im Allgemeinen

  • Freiheit, den Glauben zu wechseln

  • Ächtung des Antisemitismus

Diese paradigmatischen Positionen sind per Gesetz geschützt. Bei der Integration geht es aber nicht nur um Rechtsbefolgung, es geht auch um die Akzeptanz der Werte der Einwanderungsgesellschaft. Zwar sind auch die Werte der Migranten auf der Individualebene sozial konstruiert; aber es handelt sich dabei – wie in allen Gesellschaften – um tief verankerte soziale Dispositionen, die nicht beliebig oder kurzfristig „dekonstruiert“ werden können. Das Angebot von Sprach- und Integrationskursen ist eine notwendige, sicherlich aber längst keine hinreichende Bedingung. Mindestens ebenso wichtig ist eine rasche Eingliederung in den Arbeitsmarkt. Lange Wartezeiten für Arbeitserlaubnisse sind fatal. Eine Integration in den Arbeitsmarkt sollte aber nicht wichtige Arbeitsmarktregulierungen wie Mindestlohn, Arbeits- und Kündigungsschutz unterlaufen. Dass solche Quadraturen des Kreises nicht ohne gerade für sozialdemokratische Politik schmerzhafte Kompromisse auskommen, liegt auf der Hand. Kurzfristig mag man auch skeptisch sein, dass solche partiellen Reregulierungen gegen Vetopositionen der Gewerkschaften zu erreichen ist, die ihrerseits gute legitime Gründe für ihre Position reklamieren können.

Noch schwieriger wird die integrationsnotwendige „Dekonstruierung“ tief sitzender patriarchalischer und antiaufklärerischer Wertemuster sein. Wer hier in kurzen Zeiträumen denkt, versteht nicht, wie tief ethno-religiöse Werte in der Persönlichkeit eines Individuums verankert sind. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass Parallelgesellschaften entstehen, die rechtsstaatliche Gebote möglicherweise zwar nicht verletzen, aber doch patriarchalische und antiliberale Traditionen weitergeben. Die wahrscheinliche mittelfristige Perspektive ist also weder Assimilation an eine Leitkultur noch ein multikulturelles Miteinander als die (hoffentlich) friedliche Koexistenz von segregierten Kulturen. Eine solche realistische Perspektive verneint nicht die Notwendigkeit kultureller Integration, trennt aber die Seins-Diagnose von der nach wie vor gültigen Sollens-Perspektive.

3. Diskursive Ungleichheit: Kosmopolitanismus versus Kommunitarismus

Es gibt eine neue dritte Konfliktlinie, die sich im Zuge der Globalisierung in unseren Gesellschaften zu etablieren beginnt: der Konflikt zwischen kosmopolitischen Eliten – der Soziologe Richard Sennett persifliert diese als frequent flyers – und den kognitiv, geographisch wie sozial eher immobilen Teilen unserer Gesellschaften.

Drei Prinzipien definieren den normativen Kern des Kosmopolitanismus: Individualismus, Universalismus und Offenheit. Kosmopoliten wollen offene Grenzen, liberale Zuwanderung, erleichterte Einbürgerung, kulturellen Pluralismus sowie eine globale Verantwortung für universell gültige Menschenrechte und Umweltschutz. Kosmopoliten betonen die Chancen der Globalisierung, Kommunitaristen die Gefahren. Letztere präferieren solidarische Gemeinschaften, kontrollierte Grenzen, befürworten eine Beschränkung der Zuwanderung, optieren für kulturelle Identität und betonen den Wert von sozialem Zusammenhalt, der leichter in kleinen abgrenzbaren Gemeinschaften herzustellen sei als in unbegrenzten sozialen Räumen, deren Textur sich rasch ändert. Die positive Variante des Kommunitarismus wäre die sozialdemokratische „Folkhemmet“ Schwedens oder Dänemarks, die negativ-chauvinistische Form der gegenwärtig grassierende Rechtspopulismus.

Kosmopolitische Einstellungen sind vor allem unter den gebildeten Mittelschichten zu finden. Viele von ihnen sind Globalisierungsgewinner. Sie verfügen über das entsprechende Humankapital, um mit kulturellen Unterschieden und wirtschaftlichen Mobilitätsansprüchen umgehen können. Es sind diese gesellschaftlichen Gruppen, die die Sozialdemokratie verstärkt seit den 1970er Jahren gewinnen konnte. Die untere Hälfte der Gesellschaft ist weniger mobil und kritischer gegenüber offenen Grenzen, Zuwanderung, Mobilitätszumutung, Multikulturalismus und Konkurrenzen in den weniger qualifizierten Segmenten des Arbeitsmarktes. Sie sind eher die Verlierer der Globalisierung. Es ist freilich keine riskante Spekulation, dass gerade sie die Hauptlasten offener Grenzen im Wohnquartier sowie Alltags- und Berufsleben zu tragen haben. Sie vor allem tragen die Kosten offener Grenzen, während die oberen und Teile der mittleren Schichten davon profitieren.

Wie haben die politischen Parteien in Deutschland auf diese neue Konfliktlinie programmatisch reagiert? Wir haben dies anhand der Politikfelder Migration, Menschenrechte, Handel, Umwelt und europäische Integration über mehrere Jahrzehnte hinweg untersucht. Die Grünen zeigen sich programmatisch als die kosmopolitischste Partei, gefolgt von „Die Linke“. CDU und CSU verzeichnen in ihren Parteiprogrammen den höchsten Anteil kommunitaristischer Aussagen. Bei der FDP und der SPD lässt sich seit Mitte der 1970er Jahre ein Zuwachs an kosmopolitischen Positionen erkennen. Kosmopolitanismus und Kommunitarismus halten sich bei der SPD die Waage.

Die neuen Konfliktlinien allerdings haben sich längst zu einem Dilemma für die Sozialdemokratie verdichtet: Machen sie Zugeständnisse auf der einen, haben sie mit Stimmenverlusten auf der anderen Seite zu rechnen. Der Wählerrückgang der letzten zehn Jahre spiegelt dieses Dilemma deutlich wider. Der Zustrom von Flüchtlingen und die bisher europaweit einzigartige kosmopolitische Politik der Bundesregierung könnten dieses Dilemma verstärken. Die kommunitaristisch-konservativ positionierte Christdemokratie fordert es freilich noch weit stärker heraus. Denn Offenheit wollte sie vor allem für den freien Austausch von ökonomischen Gütern und Dienstleistungen und nicht für fremde Kulturen oder den massenhaften Zuzug von kulturell fremden Menschen, von denen man nicht abzusehen vermag, ob sie der Wirtschaft und dem Fiskus nützen oder zu einer Bürde werden.

Trotz aller Schwierigkeiten lassen sich in der Integrationsfrage die Konturen eines sozialdemokratischen Narrativ zeichnen: Das sozioökonomische Auseinanderdriften der Globalisierungsgewinner und Verlierer muss gestoppt werden; ein starker Staat äußert sich nicht nur als verlässlicher Rechtsstaat, sondern auch als Garant von sozialem Aufstieg und gleichen Lebenschancen für alle; dies gilt nicht zuletzt auch für Flüchtlinge und Zuwanderer; ihnen muss bei der Integration mit überproportionaler fiskalischer Unterstützung, notfalls auch mit affirmative action geholfen werden. Interethnische Brückeninititiativen, Organisationen und Vereine der Zivilgesellschaft müssen an der Basis gefördert werden. Der Dialog mit vor allem selbstinteressierten Großverbänden hilft da wenig. Auch die Mehrheitsgesellschaft muss sich ändern. Unverhandelbar aber sind die rechtsstaatlichen Positionen und kulturellen Werte einer offenen Gesellschaft. Das gilt gegenüber autochthoner Fremdenfeindlichkeit auf der einen wie der religiös begründeten Intoleranz gegenwärtiger Islamdeutungen auf der anderen Seite. Ließen wir diese Prinzipien fallen, dann würden unsere Überzeugungen in einer normativ taub gewordenen Gemengelage multikultureller Indifferenz verschwinden. Das wäre aber keine sozialdemokratische Erzählung mehr.

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