Brexit: Risk and fun of majority rule and direct democracy

Listening to the news on the morning of the 23rd of July 2016 was a surprise for many. In a public discussion the previous evening, Wolfgang Merkel and Michael ZĂŒrn, both directors at the WZB Social Science Research Center, had expected a vote for “remain”, not “leave,” in line with TV and other sources. What is worrisome is not that the prognoses were wrong but the outcome.

17.410.742 voted “leave”, 16.141.241 “remain”. This is a majority for “leave”. However, to be clear: this isn’t a decision of the majority at all. Only 34,4 percent of eligible voters voted for “leave”. This is little more than a third. About 91,6 percent registered to vote, which is 4.279.182 fewer than all eligible voters. This is lower than the Alternative Vote referendum of 2011 (93,0 %) and much lower than the European Community (Common Market) Membership Referendum of 1975 (99,5%).Turnout among registered voters was 72,2 percent. Even if we calculate solely on the basis of registered voters, only 37,4 of those registered voted for “leave”.

For a country that advertises its own majoritarian electoral system as democratically superior to proportional representation, it seems to be acceptable to execute a decision supported only by a minority. If we take majority decisions seriously, however, it follows that there should be a positive absolute majority of eligible voters. This certainly does not require that registration and turnout amount to 100 percent. In the Brexit referendum, it would have meant that about 25,39 million voters, or 75,7 percent of those registered, would have had to vote for “leave” in order to speak of a majority in a substantial sense. A majority of the entire membership is a requirement in many decision-bodies for changing the status quo. And leaving the EU is certainly a fundamental change of the situation of the UK.

Although a margin of almost 1,3 million votes for “leave” seems to be enough to conform to the classic British position of a majority victory, it seems problematic given the considerable opposition to the exit. There are at least three fundamental splits: a regional, a rural-urban, and a generational one.

Regionally, in Scotland all constituencies had a majority for “remain”; England, Wales, and Northern Ireland showed differences between constituencies. England and Wales voted in favor of exit, Northern Ireland for “remain”. A second split is between rural and urban areas. In most urban districts, in particular in and around the bigger cities above 250 thousand inhabitants, a majority voted for “remain”. The third split is between young and old. According to data from polls, 57 percent of voters of age 65 and higher voted for “leave”. They represent 17 percent of the population. Among the voters below 65, about 44 percent voted for “leave”. If the older voters had voted in the same proportion as the younger, “leave” votes would have been about 14,7 million instead of 17,4 million. That would not have been enough.

The UK now is facing a split between Scotland and the South, urban and rural areas, and young and old. The older citizens were decisive for a decision affecting a much longer future than they themselves will be affected by.

Against this background, making use of representative democracy would probably not be the worst solution. The Parliament can still decide. Whatever the decision will be, there is a clear lesson for direct democracy: get the rules right so that majority does not in fact mean minority.

Table: Turnout and Result of Brexit Referendum for Votes, Registered Voters, and Eligible Voting Population

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Interview mit Wolgang Merkel: Junge Linke haben Bezug zur Unterschicht verloren.

Folgendes Interview ist zuerst bei ZEIT Campus ONLINE am 22.06.2016 erschienen.

Parteien seien out unter jungen Intellektuellen, kurzfristiges Engagement im Netz oder bei Amnesty zÀhle. Ein Parteiforscher erklÀrt, wie sich die junge Linke verÀndert.

ZEIT Campus ONLINE: Herr Merkel, Deutschlands Studenten bezeichnen sich, wie Umfragen regelmĂ€ĂŸig zeigen, weiterhin in großer Zahl als politisch links. Gleichzeitig sind sie aber kaum noch in Parteien oder – wie derzeit etwa in Frankreich – auf der Straße in großer Zahl zu finden. Wo spielt sich junges Linkssein eigentlich derzeit ab?

Wolfgang Merkel: In der Tat hat sich die Form des politischen Engagements junger linker Menschen deutlich verĂ€ndert. Die Großorganisationen, zu denen man sich gewissermaßen ein Leben lang zugehörig fĂŒhlt, haben rasant an Bedeutung verloren. Parteien sind unter jungen Intellektuellen wirklich out, ein langfristiges Engagement wĂŒnschen sich ohnehin nur die Wenigsten. Die Tendenz geht dagegen zur kurzfristigen und aktiven Beteiligung in zivilgesellschaftlichen Organisationen wie Amnesty International, Attac oder in Umweltinitiativen. Auch im Netz gibt es durchaus Formen einer digitalen Zivilgesellschaft, in der sich junge Linke bisweilen engagieren.

ZEIT Campus ONLINE: Und inhaltlich?

Merkel: Auch da lĂ€sst sich eine ganz spannende Entwicklung beobachten – und die geht weg von der Verteilungspolitik. Die Frage danach, wie sich gesellschaftlicher Wohlstand gerecht verteilen lĂ€sst, war ja seit jeher der Wesenskern linker Politik. Und der ist unter jungen Linken heute fast gĂ€nzlich in den Hintergrund getreten. Stattdessen dominieren kulturelle und identitĂ€tspolitische Themen, ĂŒber die sich junges Linkssein heute definiert. Das zentrale progressive Anliegen ist mittlerweile die unbedingte Gleichstellung von Minderheiten. Das können ethnische, religiöse oder sexuelle Minderheiten sein.

Gerade im Fall der Religion hat dies jedoch hochproblematische Konsequenzen: Denn die junge Linke neigt dazu – entgegen einer aufklĂ€rerischen oder marxistischen Tradition der Religionskritik – Religion unter ImmunitĂ€tsschutz zu stellen und Kritik am Islam unmittelbar als “rechts” oder als “Phobie” zu brandmarken. Linke Religionskritik gerĂ€t dann in Vergessenheit, kritische Diskurse werden schlicht nicht mehr gefĂŒhrt – und das ist ein großes Problem.

ZEIT Campus ONLINE: Gibt es also gewissermaßen ein selbst auferlegtes Sprachverbot in der Linken?

Merkel: So hart wĂŒrde ich nicht es formulieren, aber sicherlich gibt es so etwas wie Zonen diskursiver ImmunitĂ€t. Und die darf man eben erst betreten, wenn man vorher drei Minuten ein Bekenntnis abgelegt hat, dass man kein Rechter, nicht xenophob ist und auch fĂŒr offene Grenzen ist. Und dann darf man vielleicht irgendwann darĂŒber reden, ob die Minderheitspositionen fĂŒr die man ja – im Übrigen mit vollem Recht – eintritt nicht möglicherweise selbst kritisiert werden dĂŒrfen. Beim Islam sieht man sehr deutlich, dass ein freier Diskurs kaum zugelassen wird, sondern entsprechende Positionen sofort mit VorwĂŒrfen ĂŒberzogen werden. Ein Diskussionsverbot kann nicht links sein.

ZEIT Campus ONLINE: Die junge Linke ist also weniger an Verteilungsfragen interessiert, engagiert sich aber umso mehr fĂŒr kulturelle, identitĂ€tspolitische Themen. Und ihr Diskurs ist dabei ein in Teilen restriktiv geworden. Welche VerĂ€nderungen lassen sich darĂŒber hinaus beobachten?

Merkel: Ein ganz wichtiger Punkt ist, dass sich die junge Linke heute ganz eindeutig kosmopolitisch orientiert. Das heißt, Gerechtigkeitsfragen werden nicht mehr im nationalen Kontext, etwa anhand von sozial- oder lohnpolitischen Auseinandersetzungen, verhandelt. Stattdessen geht es um globale ZusammenhĂ€nge, der Nationalstaat wird dagegen als ĂŒberholt und gestrig betrachtet. Auch dies ist ein Bruch mit einer klassisch linken, sozialdemokratischen Tradition, in der SolidaritĂ€t und Gemeinschaft etwas ganz Konkretes, Nachbarschaftliches war und Wirtschaftspolitik als Nationalökonomie verstanden wurde. Dieses, an den unmittelbaren Lebenswelten und dem Nationalstaat orientierte PolitikverstĂ€ndnis ist einer globalen Orientierung gewichen.

ZEIT Campus ONLINE: Wenn man die von Ihnen beschriebenen Entwicklungen zusammennimmt, lĂ€sst sich damit auch ein StĂŒckweit die derzeit wieder diskutierte Entfremdung der sogenannten “einfachen Leute” von der politischen Linken erklĂ€ren? Schließlich konnte sich der Hilfsarbeiter vermutlich noch nie sonderlich fĂŒr geschlechtergerechte Sprache begeistern, und der Nationalstaat erscheint doch gerade in Zeiten beschleunigter Modernisierung als letztes Ordnungsprinzip in einer zunehmend unĂŒbersichtlichen Welt.

Merkel: Der von Ihnen angesprochene Entfremdungsprozess ursprĂŒnglich linker Kernklientel von ihren einstigen ReprĂ€sentanten ist sicherlich sehr vielschichtig. GrundsĂ€tzlich lĂ€sst sich aber sagen: Die Globalisierung hat Gewinner und Verlierer geschaffen und die Linke in ganz Europa vermag es kaum mehr, die Globalisierungsverlierer an sich zu binden. Diese Leute – prekĂ€r BeschĂ€ftigte, Arbeitslose oder kleine Angestellte – wĂ€hlen nun in großer Zahl rechtspopulistisch. Das gilt auch fĂŒr Arbeiter mit autoritĂ€ren Einstellungen, auch wenn diese als Facharbeiter keineswegs zu den Verlierern der Globalisierung zĂ€hlen.

Dabei hat diese Form der Protestwahl sicherlich kulturelle GrĂŒnde, denn verteilungspolitisch ist die Positionierung der Rechtspopulisten keinesfalls einheitlich. Die Parteien unterscheiden sich hier von Land zu Land stark. Der Front National etwa fordert erhebliche Umverteilungen, wĂ€hrend die Schweizer Volkspartei eher neoliberal ausgerichtet ist. Was sie jedoch eint, ist ein konsequent anti-europĂ€ischer Kurs sowie eine klar national-chauvinistische Ausrichtung. Dies spricht WĂ€hlergruppen an, die sich zu den Verlierern der Modernisierungsprozesse der letzten Jahrzehnte zĂ€hlen, vom öffentlichen Diskurs ausgeschlossen wĂ€hnen und sich eine RĂŒckkehr zu bekannten Strukturen und klar geordneten Lebenswelten wĂŒnschen. Diesen subjektiv wie objektiv abgedrĂ€ngten Gruppen hat die Linke, tief im kulturellen Kosmos der Mittelschichten verankert, bisher wenig angeboten.

ZEIT Campus ONLINE: Zudem hat man ja bisweilen das GefĂŒhl, dass die junge Linke diese neue und tiefgreifende Polarisierung mit einem Achselzucken, einer Mischung aus Desinteresse, Herablassung und Ratlosigkeit betrachtet.

Merkel: In der Tat. Die junge, intellektuelle Linke hat den Bezug zu der Unterklasse im eigenen Land fast gĂ€nzlich verloren. Da gibt es vonseiten der Gebildeten weder eine SensibilitĂ€t noch eine Aufmerksamkeit und schon gar keine Verbindungen mehr. Die Linke hat sich eben kosmopolitisiert und, wie gesagt, ihren politischen Schwerpunkt auf eine kulturelle Ebene verlagert, und eben auf dieser Ebene unterscheiden sich die Milieus der hoch und weniger Gebildeten deutlich voneinander. Dieser Verlust der Kommunikation zwischen den Klassen, wenn ich diesen Begriff einmal verwenden darf, ist massiv und ein Problem fĂŒr die soziale Gerechtigkeit.

Wir sehen das ĂŒbrigens nicht nur im Diskurs. Auch in den Lebensstilen und Werthaltungen sind die Differenzen  zwischen “oben” und “unten” sowie den urbanen und lĂ€ndlichen Milieus unĂŒbersehbar. Das drĂŒckt sich dann auch im Abstimmungsverhalten bei Wahlen aus. Ähnliches können wir zum Beispiel auch im Heiratsverhalten beobachten. Klassenstrukturen prĂ€gen hier ganz enorm. Menschen suchen ihre Partner in der eigenen Schicht und im gleichen Bildungsstand. Dies verschĂ€rft die soziale Spaltung und Segregation unserer Gesellschaften noch weiter. Im Schatten der wachsenden kulturellen SensibilitĂ€t der Linken ist also eine neue Klassengesellschaft entstanden. Und diese Klassengesellschaft ist bislang zumindest nicht Thema des jungen intellektuellen Diskurses.

Das Interview wurde gefĂŒhrt von Robert Pausch und ist unter folgendem Link im Original bei ZEIT Campus ONLINE abrufbar:

http://www.zeit.de/campus/2016-06/politisches-engagement-junge-linke-studenten-parteizugehoerigkeit/komplettansicht

Analyzing elections worldwide: Harmonized Trend File of CSES Modules 1 to 3 published by DD researchers

The Comparative Study of Electoral Systems (CSES) is a collaborative program of national election studies around the world devoting itself to comparative electoral research and investigating the behavioral impact of political institutions since 1994. CSES provides survey data on elections for a large set of countries. However, what was missing was a dataset combining all these election surveys from different CSES waves in one comparative dataset which enables straight-forward access and research possibilities for the wider scientific public. A team of WZB researchers, Bernhard Weßels, Heiko Giebler, Josephine Lichteblau, Antonia May, Reinhold Melcher (now Fern-UniversitĂ€t Hagen) and Aiko Wagner, has now compiled such a dataset and it was made accessible via the CSES website on June 1st.

The WZB has been involved in the CSES program from the beginning being the host of its founding conference in 1994 and, since then, repeatedly organizing meetings of the CSES Planning Committee and Plenary Sessions. Members of CSES are national election study teams that agreed to include a common module of survey questions in their representative post-election studies, each for the duration of about five years. The respective module is developed by the CSES Planning Committee, that Hans-Dieter Klingemann and then Bernhard Weßels from the WZB were part of from 1994 to 2014. Providing one of the most important data sources for comparative electoral research, CSES can be regarded as a successful and constantly growing project of the comparative social sciences. Since its foundation, the number of participating countries increased continuously from 25 to over 50 (see figure below).

CSES World Map

Coverage of CSES Modules 1 to 3, 51 countries (several countries are even included with more than one elections study)

The WZB team of the German Longitudinal Election Study (GLES) under principle investigator Bernhard Weßels is responsible for the German contributions to CSES. The team only recently published a Harmonized Trend File of CSES Modules 1 to 3 covering 128 national elections of 51 countries from 1994 to 2011. The CSES 1-3 Harmonized Trend File is not simply a merged version of the three single datasets of the three modules containing each variable of each module in their original form. For the CSES 1-3 Harmonized Trend File all micro- and macro-level variables that were part of at least two of the three waves have been cumulated and partly integrated across the modules and participating countries. This means that for those variables there is only one harmonized variable containing all cases of all (or up to) three waves in the harmonized dataset. Coding of these variables has been harmonized as well to ensure that values represent the same substantive content over all waves and countries for which the variable is present. Therefore, the CSES 1-3 Harmonized Trend File provides a sound data source for analyses covering more than one wave of CSES and over time. Moreover, the universal coding of variables between CSES modules 1 to 3 ensures validity and reliability of empirical research using CSES data. With this data publication, the WZB and especially the department ‘Democracy and Democratization’ lead by Wolfgang Merkel follows its self-conception and tradition of common good production in the realm of empirical research with the goal of enabling and fostering high quality research not just in-house but all over the world.

The CSES 1-3 Harmonized Trend File and an extensive documentation are available for download from the CSES website under the “Data Center” link.

Digital Humanities Preis 2016: Ehrung fĂŒr Manifesto Corpus

Der InterdisziplinĂ€re Forschungsverbund Digital Humanities in Berlin hat den „Manifesto Corpus“ des WZB mit dem diesjĂ€hrigen Berliner Digital Humanities Preis ausgezeichnet. Der Preis wĂŒrdigt die konsistente Nutzung von technischen und konzeptionellen Standards sowie die nachhaltige Erschließung kulturellen Erbes. Der „Manifesto Corpus“ ist eine digitale, frei zugĂ€ngliche und mehrsprachige Datenbank, die die derzeit grĂ¶ĂŸte Sammlung kommentierter Wahlprogramme umfasst.

Anne Baillot vom Centre Marc Bloch begrĂŒndete die Vergabe in ihrer Laudatio wie folgt: „Das ‚Manifesto Corpus‘ bietet als digitales Archiv freien Zugang zu den Originalformulierungen von Zielen und PolitikvorschlĂ€gen aus Wahlprogrammen. So gut zugĂ€nglich und vor allem quellentechnisch transparent ist der Zugriff auf internationale digitale Ressourcen in diesem Themenfeld an keiner anderen Stelle. Das macht das Alleinstellungsmerkmal des ‚Manifesto Corpus‘ aus.“

Ausgezeichnet wurden Pola Lehmann, Jirka Lewandowski, Theres Matthieß, Nicolas Merz, Sven Regel und Annika Werner, die im Rahmen des Manifesto-Projektes am WZB den Manifesto Corpus erstellt haben. Momentan umfasst der Corpus Wahlprogramme aus ĂŒber 40 LĂ€ndern in mehr als 30 verschiedenen Sprachen, von denen ĂŒber 1900 computerlesbar sind. Die digitalisierten Wahlprogramme ermöglichen eine nutzerspezifische Auswertung der Daten und eröffnen so vielfĂ€ltige Analysemöglichkeiten.

Die PreistrĂ€ger (von links nach rechts): Nicolas Merz, Theres Matthieß, Jirka Lewandowski, Pola Lehmann und Sven Regel

Das Manifesto-Projekt, in dessen Rahmen der Manifesto Corpus entwickelt wurde, befasst sich mit PrimĂ€rdaten zu Parteien und untersucht diese im Zusammenhang mit politischen Einstellungen der WĂ€hler. Bislang hat das Projekt, das 1979 gegrĂŒndet wurde, ĂŒber 1000 Parteien von 1945 bis heute in ĂŒber 50 LĂ€ndern und auf fĂŒnf Kontinenten ausgewertet.

Der Preis wurde im Rahmen eines Festakts an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften am 7. Juni 2016 vergeben.

ĂŒber den DĂ€chern Berlins am Gendarmenmarkt wurde im Anschluss an die Preisverleihung angestossen.

ĂŒber den DĂ€chern Berlins am Gendarmenmarkt wurde im Anschluss an die Preisverleihung angestossen.

Pressemitteilung der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften:

http://www.bbaw.de/presse/pressemitteilungen/pressemitteilungen-2016/pm-15-2016

Weitere Informationen zum Manifesto-Projekt:

https://manifesto-project.wzb.eu/

https://manifesto-project.wzb.eu/information/documents/corpus

 

 

Ein Blick in die Schweiz zeigt: Linke Vorlagen haben es schwer an der Urne

Am 5. Juni stimmte die Schweizer Stimmbevölkerung ĂŒber die EinfĂŒhrung eines bedingungslosen Grundeinkommens ab. Sie wurde mit großer Mehrheit abgelehnt. Warum diese Initiative wie andere VorstĂ¶ĂŸe linker Couleur an der Stimmurne geringe Erfolgschancen haben, erklĂ€rt Christoph Mayer.

Foto von Stefan Bohrer - https://www.flickr.com/photos/generation-grundeinkommen/10577574344/

Foto von Stefan Bohrer – https://www.flickr.com/photos/generation-grundeinkommen/10577574344/

Mehr Demokratie wagen, und was die Linke davon hat. Ein Blick in die Schweiz gibt Einblick

Die BĂŒrgerinnen und BĂŒrger der Schweiz sind zur Revolution befugt. Die Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft sieht eine Totalrevision ihrer selbst qua Volksabstimmung vor.[1] Bislang sah die Stimmbevölkerung allerdings davon ab, Gebrauch von ihrem Privileg zu machen. Stattdessen stimmte sie seit der konstitutionellen BegrĂŒndung des schweizerischen Bundesstaates im Jahr 1848 ĂŒber mehr als 600 sachbezogene Fragen auf Bundesebene ab. Hinzukommen tausende Abstimmungen auf Kantons- und Gemeindeebene.

Am 5. Juni wurde ĂŒber die EinfĂŒhrung eines bedingungslosen Grundeinkommens entschieden. Dass das Thema an die Stimmurne gelangte, die Abstimmung zudem international fĂŒr Schlagzeilen sorgte, war ein Erfolg fĂŒr sich. Der Medienhype spiegelt jedoch nicht die Aufmerksamkeit wider, die die politischen Eliten dem Thema widmeten: Einen Wahlkampf gab es faktisch nicht, weil die Gegner zuversichtlich sein konnten, dass das Thema ohnehin keine Mehrheiten generieren wird.

Vorhaben einschlĂ€giger politischer Couleur, selbst wenn sie gemĂ€ĂŸigter sind als die Initiative fĂŒr ein Grundeinkommen, haben es in der Alpenrepublik meist schwer. Dies gilt zumal fĂŒr Volksentscheide: Seit 2010 sind etwa Initiativen, die darauf abzielten, die LĂ€nge des Mindesturlaubs anzuheben, betriebliche LohngefĂ€lle einzuebnen, einen gesetzlichen Mindestlohn einzufĂŒhren, die öffentliche Krankenversicherung zu stĂ€rken oder große Erbschaften zu besteuern, bei Volksabstimmungen gescheitert.

Die verpasste Stunde der Linken

Dabei proklamierten Gewerkschaften und Arbeiterparteien Ende des 19. Jahrhunderts in der noch jungen helvetischen Republik selbstbewusst den Ausbau der Mitwirkungsrechte. Ihr Ziel war es, die Mehrheiten des Freisinns und der konservativen ReprÀsentanten im Parlament auf direktdemokratischem Weg zu umgehen. Die politischen KrÀfteverhÀltnisse im Konflikt zwischen Kapital und Arbeit sollten so zugunsten der aufstrebenden Linken verschoben werden.

Was die Idealisten[2] von damals auch heute noch auf ihrer Seite wĂŒssten, ist die sogenannte Robin-Hood-These. Diese besagt, dass die Bevölkerungsmehrheit angesichts einer rechtsschiefen Einkommensverteilung von umverteilenden Maßnahmen profitieren wĂŒrde. Die Massen der unteren und mittleren Einkommensschichten befĂŒrworteten daher eine Politik, die den Reichen nimmt und es den weniger Reichen gibt. Folgt man dieser These, mĂŒsste die StimmbĂŒrgerschaft der Schweiz distributive Maßnahmen per Volksabstimmung forcieren.[3]

Nun lĂ€sst sich der Robin-Hood-Effekt fĂŒr die eingangs erwĂ€hnten Volksinitiativen der jĂŒngsten Geschichte nicht bestĂ€tigen. Stimmkampagnen von linker Seite können aber durchaus erfolgreich sein, obgleich sie dies in der Vergangenheit nur unter engen Voraussetzungen waren.

Wann, so lautet deshalb die erkenntnisleitende Frage des Beitrags, erlangen linke Positionen Mehrheiten bei Volksentscheiden? Analysiert werden dafĂŒr verteilungspolitisch relevante Abstimmungen mit wirtschafts-, sozial- und fiskalpolitischem Bezug.[4] Die Ergebnisse der Auswertung stammen aus einer eigenen Untersuchung aus dem Jahr 2014.

Funktion und Verfahren der Schweizer Direktdemokratie

Um die Ergebnisse von Volksabstimmungen bewerten zu können, mĂŒssen die zentralen Verfahren der direkten Demokratie, ihre Funktion und Wirkungsweise bekannt sein. Auf Schweizer Bundesebene sind insbesondere drei Instrumente von Bedeutung: Erstens, die Volksinitiative, die es den stimmberechtigten BĂŒrgerInnen ermöglicht, VerfassungsĂ€nderungen per Unterschriftensammlung (mind. 100.000) einzureichen und an der Urne zur Abstimmung zu stellen. Mit dem fakultativen und dem obligatorischen Referendum stehen der Stimmbevölkerung zudem zwei Instrumente zur VerfĂŒgung, die es ermöglichen, ĂŒber ein vom Parlament bereits verabschiedetes Gesetz oder eine VerfassungsĂ€nderung mit abschließender Entscheidungshoheit abzustimmen. Im Fall des fakultativen Referendums wird nach erfolgreicher Unterschriftensammlung (mind. 50.000 Unterschriften) ĂŒber eine Vorlage abgestimmt. Bestimmte BeschlĂŒsse des Parlaments, die etwa die Ausgaben- und Bundesfinanzordnung oder den Beitritt zu supranationalen Gemeinschaften betreffen, sind abstimmungspflichtig – sie unterliegen dem obligatorischen Referendum und gelangen automatisch an die Urne.

In der folgenden Analyse wurden 23 Abstimmungen zu fakultativen Referenden, 20 Abstimmungen zu Volksinitiativen (bei drei parlamentarischen GegenentwĂŒrfen) sowie acht Abstimmungen zu obligatorischen Referenden berĂŒcksichtigt.

Wer profitiert von Volksabstimmungen?

Von den Abstimmungsvorlagen mit linker Ausrichtung wurde nur jede vierte an der Urne angenommen (25,8 Prozent). Hingegen hatten von den Vorlagen mit rechter Ausrichtung 65,2 Prozent Erfolg (Schaubild 1). Noch deutlicher fĂ€llt der Unterschied zwischen linken und rechtslastigen Vorlagen aus, wenn nur jene berĂŒcksichtigt werden, die einen dezidierten politischen Anspruch verfolgten: WĂ€hrend weitreichende linke Forderungen bei Volksabstimmungen fast immer chancenlos waren, haben dezidiert rechte Vorlagen eine Erfolgsquote von 60,0 Prozent.

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Der Erfolg von Abstimmungen variiert also sowohl hinsichtlich der politischen Zielrichtung als auch hinsichtlich der StĂ€rke der Vorlagen. Wird zudem nach Abstimmungstypen, das heißt nach Volksinitiativen, fakultativen und obligatorischen Referenden unterschieden, fĂ€llt das Bild noch eindeutiger aus. Dezidiert linke Volksinitiativen waren bei den StimmbĂŒrgerInnen faktisch chancenlos: Alle Initiativen mit dezidiertem Anspruch erzielten keine Mehrheiten, wĂ€hrend rechtslastige Vorlagen in obligatorischen Referenden immer ein „Ja“ erhielten.

Diese Ergebnisse zeigen, dass linke Positionen in der Direkten Demokratie der Schweiz marginalisiert sind. BerĂŒcksichtigt man jedoch nur jene Abstimmungen, die eine Eigenwirkung haben, in denen das Votum der StimmbĂŒrgerschaft also von jenem des Parlaments abweicht, dann waren meist linke Positionen an der Urne mehrheitsfĂ€hig. In Zahlen ausgedrĂŒckt: In drei Viertel der FĂ€lle (75,9 Prozent) votierte die Stimmbevölkerung zwar in Übereinstimmung mit der Empfehlung des Parlaments. Linke Positionen hatten dabei meist das Nachsehen. Wenn die Stimmbevölkerung jedoch von der parlamentarischen Empfehlung hoheitlich abwich, dann tat sie dies in 85,3 Prozent der FĂ€lle nach links (Schaubild 2). Insgesamt betrifft das aber nur 25 Prozent (13 FĂ€lle) der Abstimmungen.

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Die gesellschaftliche und politische Linke in der Schweiz wĂŒrde nun wohl kaum von sich behaupten, dass sie mittels der direktdemokratischen Einflussmöglichkeiten eine programmatische Verschiebung der politischen KrĂ€fteverhĂ€ltnisse erreicht hĂ€tte. Vielmehr wundert es nicht, dass die beiden großen linken Organisationen bei Volksabstimmungen hĂ€ufig das Nachsehen hatten. Sowohl die Parolen der sozialdemokratischen Partei der Schweiz (SP; 42,6 Prozent) als auch die Empfehlungen des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB; 35,2 Prozent) erzielten in deutlich weniger als der HĂ€lfte der Abstimmungen Mehrheiten (Schaubild 3).

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Das schlechte Abschneiden der SP hĂ€ngt vermutlich auch damit zusammen, dass sich die Partei mit ihren Empfehlungen meist in Opposition zu den ĂŒbrigen Regierungsparteien – der nationalistisch-populistischen SVP, der marktliberalen FDP und der konservativen CVP – befand (57,5 Prozent). Schaubild 4 unterstĂŒtzt diese Annahme: Die Parteien waren mit ihren Parolen meist dann erfolgreich, wenn sie sich in einer Koalition mit mindestens zwei der drei anderen Regierungsparteien befanden. Bemerkenswert ist, dass die SP die höchste Erfolgsquote aller Regierungsparteien aufweist, wenn diese in zwei Lager mit je zwei Parteien geteilt waren (87,5 Prozent). Gespaltene Regierungskonstellationen gab es jedoch nur acht Mal, bei allen anderen Abstimmungen schlossen sich mindestens drei Regierungsparteien zusammen.

Die hier vorgestellten Befunde konstatieren, dass sowohl die politische Zielrichtung von Abstimmungsvorlagen, die StÀrke der Vorlagen als auch die Empfehlungen der Regierungsparteien das Stimmergebnis potentiell beeinflussen. Aber haben diese Bestimmungsfaktoren tatsÀchlich einen direkten Effekt auf den Ausgang von Volksabstimmungen?

Schaubild 5 ist zu entnehmen, dass dies auf die Empfehlungen der politischen Elite zutrifft. So wurden Vorlagen, hinter denen eine große Koalition aus mindestens drei Parteien stand – fĂŒr die Ausrichtung der Vorlagen kontrolliert – hĂ€ufiger angenommen als Vorlagen, die nicht von einer Regierungsmehrheit unterstĂŒtzt wurden. DarĂŒber hinaus zeigt sich aber auch, dass die StimmbĂŒrgerschaft eine eigene politische Agenda verfolgt, die moderat nach rechts tendiert. So erwiesen sich moderate Vorlagen als zustimmungsfĂ€higer als dezidiert richtungspolitische Vorlagen. Vorlagen mit moderat rechter Stoßrichtung, hinter denen eine große Koalition stand, wurden zudem hĂ€ufiger angenommen als Vorlagen mit moderat linker Zielsetzung, ceteris paribus.

Abschließend lĂ€sst sich festhalten, dass linke Positionen bei Volksabstimmungen in der Schweiz meist erfolglos bleiben. DafĂŒr gibt es mindestens drei GrĂŒnde. Erstens, die politische Elite stellt sich meist gegen die Annahme linker und hinter die Annahme rechter Vorlagen, und deren Parolen beeinflussen die StimmbĂŒrgerInnen in ihrer Entscheidungsfindung. Zweitens, tendiert die Stimmbevölkerung zu moderat rechten Positionen, weswegen sie drittens, dem von linker Seite rege genutzten Instrument der Volksinitiative viel seltener zu Wirkung verhilft.

Einsichten und Aussichten

Die stimmberechtigten EidgenossInnen haben das bedingungslose Grundeinkommen mit einem deutlichen „Nein“ von 76,9 Prozent verworfen, zumal die Initiative nicht einmal von der SP UnterstĂŒtzung erhielt. Die Parlamentsfraktion der SP lehnte die Vorlage mehrheitlich ab, weil sie die SchwĂ€chung der bestehenden Sozialsysteme befĂŒrchtete.

Nun hat die Sozialdemokratische Partei der Schweiz in ihrem Wahlprogramm 2010 festgeschrieben, dass sie die Überwindung des Kapitalismus anstrebt und einen „demokratischen Sozialismus“ als Vision verfolgt. [5] Im Sinne der programmatischen KohĂ€renz wĂ€re eine Ablehnung der Initiative daher ĂŒberzeugender gewesen, wenn dies mit Verweis auf die SystemabhĂ€ngigkeit des Grundeinkommens geschehen wĂ€re, welches sich durch die kapitalistische Akkumulation und dem nachgelagerten VerteilungsverhĂ€ltnis erst erzeugen und abschöpfen lĂ€sst.

Die Gewerkschaften warten indes mit einer anderen Initiative auf die noch ausstehende Stunde der Linken. Im September gelangt eine Vorlage des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes an die Stimmurne, welche die gesetzliche Rente stĂ€rken und Altersarmut zurĂŒckdrĂ€ngen will. Auch in der Bundesrepublik wird, wenn auch indirekt, ĂŒber dieses Thema abgestimmt werden – bei den Wahlen zum 19. deutschen Bundestag.

Christoph Mayer hat Politikwissenschaft in Konstanz, Freiburg, Potsdam, Berlin und Budapest studiert. Seine Masterarbeit ĂŒber die direkte Demokratie in der Schweiz reichte er bei Wolfgang Merkel ein. Er arbeitete als studentische Hilfskraft in der Abteilung Demokratie und Demokratisierung am WZB uns ist seit 2014 wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Stiftung Soziale Gesellschaft – Nachhaltige Entwicklung in Berlin.

 

[1] Der Autor bittet um Nachsicht bei der Verwendung des Begriffs Volk, wenn er mangels geeignet erscheinender Alternativen Begrifflichkeiten wie Volksabstimmung oder Volksentscheid beibehÀlt. Die Definition von Volk ist nicht ethnisch, sondern explizit politisch im Sinne von demos.

[2] Idealistinnen, die sich fĂŒr das angestrebte Ziel einsetzten, waren damals wohl nicht mit von der Partie: Bis 1971 wussten die stimmberechtigten MĂ€nner den Frauen das Wahl- und Stimmrecht per direktdemokratischem Mehrheitsentscheid zu verweigern.

[3] Freitag, M., Vatter, A., & MĂŒller, C. (2003). Bremse oder Gaspedal? Eine empirische Untersuchung zur Wirkung der direkten Demokratie auf den Steuerstaat. Politische Vierteljahreszeitschrift, 44(3), 348–369.

[4] Als im Ergebnis links werden Abstimmungen gewertet, die eine verteilende Wirkung von oben nach unten zur Folge haben, eine Mehrverteilung von Finanzmitteln fĂŒr die öffentliche DaseinsfĂŒrsorge und die Sozialversicherungen bewirken oder Abstimmungsvorlagen verhindern, deren Annahme einen gegenteiligen Effekt zur Folge gehabt hĂ€tte. Zudem werden Abstimmungen als in ihrem Ergebnis links gewertet, wenn sie die Rechte oder Mittel von ArbeitnehmerInnen oder benachteiligter Gesellschaftsgruppen wie Arbeitslose und MieterInnen stĂ€rken, oder wenn Vorlagen abgelehnt werden, die darauf abzielten, die Rechte und Mittel dieser Gruppen zu verringern.

[5] Sozialdemokratische Partei der Schweiz (2010): Parteiprogramm. FĂŒr eine sozial-ökologische Wirtschaftsdemokratie, online unter: file:///C:/Users/ASUS/Desktop/parteiprogramm_fuer_eine_sozial-oekologische_wirtschaftsdemokratie_2010.pdf, zuletzt abgerufen am 2. Juni 2016.