Der Manifesto Corpus: ein mehrsprachiges, annotiertes und digitales Wahlprogrammarchiv

dieser Beitrag ist bereits zuvor auf dem digital humanities Blog erschienen.

Der Berliner Digital-Humanities Preis ging dieses Jahr an den Manifesto Corpus. Der InterdisziplinĂ€re Forschungsverbund Digital Humanities in Berlin zeichnet mit diesem Preis „herausragende Berliner Projekte auf dem Gebiet der Digital Humanities“ aus. Doch, was ist der Manifesto Corpus eigentlich, wo kommt er her, was kann man mit ihm machen und wie kann man ihn nutzen?

Eine EinfĂŒhrung
Der Manifesto Corpus ist ein frei zugĂ€nglicher, digitaler, mehrsprachiger und annotierter Textkorpus von Wahlprogrammen. Er erlaubt die Analyse von Sprache, Positionen und PrioritĂ€ten von politischen Parteien in vielfĂ€ltiger Art und Weise. Die Textsammlung umfasst Wahlprogramme von Parteien aus ĂŒber 45 LĂ€ndern in 34 Sprachen. Dabei handelt es sich grĂ¶ĂŸtenteils um OECD-Demokratien. Damit hat die Sammlung einen starken Fokus auf europĂ€ische LĂ€nder (West und Osteuropa), doch sie umfasst auch zahlreiche außereuropĂ€ische Demokratien wie Australien, Neuseeland, USA, Mexiko und SĂŒdafrika. Insgesamt beinhaltet die Sammlung fast 2.000 maschinenlesbare Dokumente von mehr als 500 Parteien und 350 Wahlen seit 1945. Folgende Grafik veranschaulicht die Abdeckung des Manifesto Corpus: Je stĂ€rker ein Land eingefĂ€rbt, desto mehr Dokumente sind digital verfĂŒgbar.

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Wo kommt er her: Auf den Schultern von (analogen) Giganten

Die Wurzeln des Manifesto Corpus reichen bis in die spĂ€ten 1970er Jahre zurĂŒck. Damals wurde die Manifesto Research Group (MRG) als Forscher_innengruppe von Ian Budge initiiert mit dem Ziel, auf Basis einer inhaltsanalytischen Untersuchung von Wahlprogrammen lĂ€nderĂŒbergreifende vergleichbare Analysen ĂŒber die Positionen der Parteien machen zu können. Hans-Dieter Klingemann institutionaliserte das Forschungsvorhaben und siedelte das Projekt als Comparative Manifestos Project (CMP) ab 1989 am Wissenschaftszentrum Berlin fĂŒr Sozialforschung (WZB) an. Seit 2009 wird das Projekt als Manifesto Research on Political Representation (MARPOR) im Rahmen einer Langfristförderung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft finanziert. Aktuell ist es unter der Leitung von Andrea Volkens am Wissenschaftszentrum Berlin fĂŒr Sozialforschung in der Abteilung Demokratie & Demokratisierung von Wolfgang Merkel angesiedelt.
Forschungsinteresse des Manifesto-Projekts sind Positionen und PrioritĂ€ten von politischen Parteien in Demokratien. Wie verĂ€ndert sich eine Partei ideologisch ĂŒber Zeit und welche Themen priorisiert sie: Gibt es Belege fĂŒr eine Sozialdemokratisierung der CDU? Wendet sich die SPD in den letzten Jahren stĂ€rker neoliberalen Wirtschaftspositionen zu? Zudem lĂ€sst sich auch untersuchen, wie sich Position und PrioritĂ€ten zwischen Parteien unterscheiden: Vertreten grĂŒne Parteien in unterschiedlichen LĂ€ndern nicht nur bei Umweltfragen Ă€hnliche Themen? Welche Rolle spielen Wirtschaftsthemen oder die EuropĂ€ische Union fĂŒr unterschiedliche Parteien? Um solche Fragen zu beantworten, analysieren LĂ€nderexpert_innen jedes Statement in den Wahlprogrammen nach einem 56 Kategorien umfassenden Analyseschema, das alle relevanten Politikbereiche und Themen umfasst. Damit können Aussagen darĂŒber gemacht werden, welche Themen wie oft in einem Wahlprogramm vorkommen und welche Positionen Parteien einnehmen. Die erhobenen Daten stellt das Manifesto-Projekt schließlich in einem frei zugĂ€nglichen Datensatz Wissenschaftler_innen und politisch Interessierten zur VerfĂŒgung.
In der Vergangenheit mussten die Wahlprogramme direkt vor Ort gesammelt werden und analog, mit Stift auf Papier, analysiert werden. Seit 2009 hat das Projekt alle vorhandenen Manifestos sowie schließlich auch den Prozess der Dokumentensammlung und -aufbereitung digitalisiert. Die Originaldokumente werden seitdem als PDFs gesammelt, maschinenlesbar gemacht und mit Metadaten zu Sprache, Partei und Wahljahr versehen. Im Anschluss annotieren Muttersprachler_innen digital jedes Statement eines Wahlprogramms nach dem vorgegeben Analyseschema.
Ein wesentliches Ergebnis dieses digitalen Prozesses ist der Manifesto Corpus. Er enthÀlt die Originaltexte sowie Annotationen, schafft somit eine hohe Transparenz der Datenerhebung und ermöglicht vollstÀndig reproduzierbare Analysen. Damit eröffnen sich neue Wege in der Nutzung der Daten und gestatten einen umfassenden Zugriff auf die Programmatik von Parteien.

Was kann man mit dem Corpus machen?
Die von LĂ€nderexpert_innen vorgenommenen Annotationen erlauben den Vergleich zwischen verschiedenen Parteien und welche Bedeutung sie einem bestimmten Thema in ihrem Wahlprogramm einrĂ€umen. Mit Hilfe des Corpus‘ und automatisierter Textanalyse lĂ€sst sich nun noch viel genauer beobachten, wie Parteien ĂŒber diese Themen sprechen und ob sie sich in der Art, wie sie Themen diskutieren, unterscheiden. Die menschlichen Kodierungen können beispielsweise genutzt werden, um aus einem Wahlprogramm alle Textstellen zu einem bestimmten Thema zu extrahieren. Eine beispielhafte Illustration findet sich in der folgenden Grafik:

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Die Grafik zeigt die WorthĂ€ufigkeiten in den Programmen von CDU/CSU und den GrĂŒnen zu den Themen Multikulturalismus und kulturelle Traditionen. Je grĂ¶ĂŸer die Wörter, desto hĂ€ufiger sind sie im Wahlprogramm zu finden. „Deutschland“ ist bei beiden Parteien das am meisten vorkommende Wort, aber darĂŒber hinaus gibt es deutliche Unterschiede. WĂ€hrend bei den GrĂŒnen Worte wie „Gesellschaft“, „Menschen“ und „Vielfalt“ im Vordergrund stehen, sind es bei CDU/CSU „Deutsche“, „Land“ und „unsere“. Dieser Vergleich der WorthĂ€ufigkeiten gibt einen ersten Eindruck darĂŒber, in welchem Zusammenhang Multikulturalismus von beiden Parteien diskutiert wird und eignet sich damit als Startpunkt fĂŒr detailliertere Analysen.
Die Forschungsfragen mĂŒssen dabei nicht auf Deutschland begrenzt sein, denn der Corpus beinhaltet Wahlprogramme aus 45 LĂ€ndern. Wir können uns also nicht nur den Diskurs ĂŒber Multikulturalismus innerhalb eines Landes anschauen, sondern auch wie dieses Thema in unterschiedlichen LĂ€ndern von Parteien diskutiert wird. Hier zum Beispiel in Deutschland, in den USA und in Finnland:
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In allen LĂ€ndern sind das eigene Land und die eigenen BĂŒrger die wichtigsten Worte im Zusammenhang mit Multikulturalismus: „Deutschland“, „Americans“, „America“ und „Suomen“. Es lĂ€sst sich erkennen, dass die Debatte in den USA besonders mit der nationalen Sicherheit verknĂŒpft ist, in Deutschland Integration und Gesellschaft eine wesentliche Rolle spielen und in Finnland der Name einer rechtspopulistischen Partei (perussuomalaisten, die „Wahren Finnen“) aber auch das Wort „sozial“ eine wichtige Rolle spielen.
Die Wahlprogramme lassen sich auch unabhĂ€ngig von der menschlichen Kodierung betrachten, um etwa die Konjunktur eines bestimmten Begriffs in dem politischen Diskurs zu beobachten. Aktuell ist „Flucht“ eines der bedeutendsten Themen in der öffentlichen Debatte in Deutschland. Bereits in der Vergangenheit hat das Thema schon eine wichtige Rolle gespielt. Die folgende Grafik zeigt, dass sich die deutschen Parteien auch in den 50er Jahren viel mit Fluchtthematiken beschĂ€ftigt haben – damals im Kontext der eigenen Fluchterfahrung vieler Deutscher.

Flucht_Digital

Ein ganz anderes Bild ergibt sich, wenn man sich die HĂ€ufigkeit des Wortes „digital“ in den Wahlprogrammen anschaut – ein Thema ohne das es Projekte wie den Manifesto Corpus nicht geben wĂŒrde. Lange Zeit kam es auf der politischen Agenda so gut wie nicht vor, bis seine Bedeutung in den neunziger Jahren exponentiell anstieg.

Wie kann man ihn nutzen: Vielseitiger Zugang
Über unsere Webseite und eine API (engl. application programming interface – dt. Programmierschnittstelle) stellen wir verschiedene Zugriffsmöglichkeiten auf die Daten bereit. So können Forscher_innen und politisch Interessierte unterschiedlichen Fragen zur thematischen Ausrichtung von Parteien nachgehen. Die Daten sind am einfachsten ĂŒber die Projektseite abrufbar. Sie können sowohl als Rohdaten heruntergeladen werden als auch auf unserer Website analysiert werden. Technisch versiertere Nutzer_innen können die API mit ihrer prĂ€ferierten Programmiersprache ansprechen. Zudem haben wir das Software-Paket manifestoR entwickelt, welches den Zugriff auf und den Umgang mit den Daten in R – einer der Standardsprachen fĂŒr statistische Problemstellungen – erleichtert und eine Integration in bestehende Textanalyse-Werkzeuge derselben erlaubt. Die Software ist frei zum Download verfĂŒgbar und quelloffen.

Der Manifesto Corpus ist die umfangreichste, mehrsprachige, annotierte, digitale Sammlung von Wahlprogrammen. Er wird stĂ€ndig erweitert, ist frei zugĂ€nglich und ermöglicht die Bearbeitung vielfĂ€ltiger Fragestellungen. Bereits in der Vergangenheit hat das Projekt zahlreiche Forschungsarbeiten angeregt und möchte zukĂŒnftig mit dem Manifesto Corpus Inspiration und Datengrundlage sein fĂŒr Forschung in Politikwissenschaft, Soziologie, Linguistik, Computer Science, Economics, etc.

Mehr Informationen zum Manifesto Corpus:
Website of the Manifesto Corpus
Explore Corpus Online
The Manifesto Corpus: A new resource for research on political parties and quantitative text analysis (Open-Access Artikel in Research & Politics)

Der Untergang der Akademischen Freiheit am Nil

Die gezielte Repressionskampagne gegen Regimekritische Stimmen in Ägypten hat einen neuen Höhepunkt erreicht. Der Sicherheitsapparat in Kairo nimmt zunehmend auch kritische Wissenschaftler ins Visier.

Die Kairoer UniversitĂ€t ist seit 2013 schwer be- und ĂŒberwacht durch Ă€gyptische SicherheitskrĂ€fte.

Die Kairoer UniversitĂ€t ist seit 2013 schwer be- und ĂŒberwacht durch Ă€gyptische SicherheitskrĂ€fte.

Wissenschaftsfreiheit in Ägypten

In 2004, unter dem damaligen LangzeitprĂ€sidenten Hosni Mubarak, machte erstmals eine Gruppe von Professoren und UniversitĂ€tsangestellten in Ägypten auf sich aufmerksam, welche sich fĂŒr Wissenschaftsfreiheit und die UnabhĂ€ngigkeit der UniversitĂ€ten in Lehre und Forschung einsetzte. Die Gruppe des 9. MĂ€rz erinnert durch ihren Namen an den RĂŒcktritt Lotfi Al-Sayeds, seines Zeichens erster PrĂ€sident der damals noch jungen Kairoer UniversitĂ€t, am neunten MĂ€rz 1932 aus Protest gegen die politisch motivierte Absetzung des Dekan der FakultĂ€t der KĂŒnste durch das Bildungsministerium. Die Gruppe setzte sich auf verschiedensten Wegen in den folgenden Jahren fĂŒr die UnabhĂ€ngigkeit der Ägyptischen UniversitĂ€ten und gegen politische Einflussnahme auf Forschung und Lehre ein. Es wurden Kongresse zur Wissenschaftsfreiheit und gemeinsame Proteste von FakultĂ€tsmitgliedern auf Campi in Kairo und anderswo abgehalten um fĂŒr die UnabhĂ€ngigkeit der UniversitĂ€ten einzutreten und auf politische Einmischung in UniversitĂ€re Angelegenheiten Aufmerksam zu machen bzw. dagegen mobil zu machen.

Heutzutage scheint dies wie eine Geschichte aus einem Land aus lĂ€ngst vergangener Zeit: Vor Tahrir. Vor der Revolution. Vor dem Coup, der Ägyptens aktuellen Machthaber Al Sisi an die Spitze des Landes beförderte. In der Tat scheint der heutige Kontext den Gegebenheiten in 1929 deutlich nĂ€her als denen vor 10 Jahren. Das gilt auch und besonders im Hinblick auf die akademische Freiheit und UnabhĂ€ngigkeit der UniversitĂ€ten im Land am Nil.

Der Fall Giuilio Regeni

Im Februar diesen Jahres tauchte der Körper des bis dato seit zwei Wochen vermissten Giulio Regeni an der WĂŒstenstrasse von Kairo nach Alexandria auf. Der Autopsiebericht wurde erst deutlich spĂ€ter nach diplomatischem Druck veröffentlicht, mit dem Ergebnis: Der italienische Promotionsstudent, der seine Doktorarbeit an der UniversitĂ€t Cambridge im Vereinten Königreich zu unabhĂ€ngigen Gewerkschaften in Ägypten durchfĂŒhrte, wurde professionell ĂŒber neun Tage hinweg gefoltert. Aufgrund der Indizienlage insbesondere im Hinblick auf die angewandten Foltertechniken als auch die UmstĂ€nde seines Verschwindens am fĂŒnften Jahrestag der Revolution im damaligen Hochsicherheitsbereich in Downtown Kairo vermuten viele eine Beteiligung der Sicherheitsbehörden. Investigative Berichterstattung von Reuters und der New York Times zitieren anonyme Aussagen aus den Ă€gyptischen Sicherheitsbehörden welche die Ergreifung Giulios durch Ihre Kollegen bestĂ€tigen. Offiziell heißt es aus Kairo jedoch weiterhin, eine Verwicklung Ă€gyptischer SicherheitskrĂ€fte in den Fall sei nichts als eine Verschwörung von bösen KrĂ€ften gegen Ägypten, welche das gute VerhĂ€ltnis zwischen Kairo und Rom zerrĂŒtten wollten, um das Land zu destabilisieren. Im Zuge der unzufrieden stellenden Kooperation durch die zustĂ€ndigen Ă€gyptischen Ermittlungsbehörden und aufgrund einer erfolgreichen Kampagne der Familie des italienischen Nachwuchsforschers sind die diplomatischen Beziehungen zwischen Rom und Kairo in den letzten Monaten merklich abgekĂŒhlt.

Forscher im Fadenkreuz

Seit der Absetzung des Muslimbruders Mohammed Mursi durch das MilitĂ€r in 2013 hat sich die Menschenrechtslage in Ägypten enorm verschlechtert. Nach der gezielten Verfolgung und Massenprozessen der MilitĂ€rjustiz gegen Mitglieder und UnterstĂŒtzer der MuslimbrĂŒder sind inzwischen auch andere Gruppen vermehrt ins Visier der Ă€gyptischen Sicherheitsapparate und Justiz geraten. Das harte Durchgreifen gegen kritische Stimmen scheint nicht mehr nur auf Zivilgesellschaftliche und politische Akteure beschrĂ€nkt. KĂŒrzlich protestierten im April Medienschaffende gegen die Verhaftungen von Journalisten und das Eindringen von SicherheitskrĂ€ften in das GebĂ€udes des Journalistenverbands. Die Sicherheitsorgane gehen seit einigen Monaten gezielt gegen unbequeme Journalisten, Fotografen und auch Wissenschaftler vor.

Der Nordamerikanische Verband fĂŒr Nahoststudien (MESA) reagierte im Februar auf die zunehmend prekĂ€re Sicherheitslage fĂŒr Wissenschaftler in Ägypten mit einer Sicherheitswarnung fĂŒr seine Mitglieder. Das zustĂ€ndige Komitee fĂŒr Wissenschaftsfreiheit habe in zunehmender Anzahl und Umfang schwere VerstĂ¶ĂŸe gegen Wissenschaftler registriert. Die VorwĂŒrfe reichen von der Verweigerung der Ein- und Ausreise ĂŒber direkte Einmischung in UniversitĂ€tsverwaltung durch die Exmatrikulation von Studierenden und den Rauswurf kritischer FakultĂ€tsmitglieder bis hin zu unfairen Massenprozessen in EinzelfĂ€llen mit dem Resultat der Todesstrafe fĂŒr Studierende und Wissenschaftler.

In einem kĂŒrzlich erschienenen Bericht der Ägyptischen Organisation fĂŒr Gedanken- und Meinungsfreiheit (AFTE) zur Lage von auslĂ€ndischen Wissenschaftlern in Ägypten wurden restriktive Visavergabe-Praktiken fĂŒr Forschungsvisa und der erschwerte Zugang zu Archiven angeprangert. Die zentrale Rolle der Sicherheitsbehörden bei der Visavergabe fĂŒr Wissenschaftler hat dazu gefĂŒhrt, dass die meisten auslĂ€ndischen Wissenschaftler in Ägypten mit einem Touristenvisum einreisen. Dies sorgt im Umkehrschluss dafĂŒr, dass die jeweiligen Botschaften sich auch bei Problemen mit den Ägyptischen Sicherheitsbehörden oftmals nur im geringen Maße fĂŒr jeweiligen Wissenschaftler einsetzten (können). Der Fall der Französischen Nachwuchsforscherin Fanny Ohier, die im Mai 2015 aus Ägypten deportiert wurde, ohne dass die französische Botschaft in Kairo daraus jegliche sichtbare politische Konsequenzen zog, veranschaulicht diese Entwicklung sehr deutlich.

Prominente Ă€gyptische Sozialwissenschaftler wie Amr Hamzawy oder Emad Shahin sahen sich aufgrund verhĂ€ngter Berufsverbote und gegen Sie laufender Verfahren gezwungen ihr Heimatland zu Verlassen. Seit der MachtĂŒbernahme des MilitĂ€rs im Juli 2013 hat der Academic Freedom Monitor, eine Initiative des Scholars at Risk Netzwerkes, allein 26 FĂ€lle von Verletzung der Wissenschaftsfreiheit in Ägypten protokolliert. Man kann jedoch aufgrund der mangelnden systematischen Erhebung dieser Verletzungen von einer deutlich höheren Dunkelziffer ausgehen. Insbesondere wenn ZwischenfĂ€lle gegen Studierende mit herangezogen werden.

Die vorherrschende EinschĂ€tzung in den Ă€gyptischen Sicherheitsbehörden scheint, dass Ă€gyptische und auslĂ€ndische Wissenschaftler ein potenzielles Sicherheitsrisiko darstellen. Diese Einstellung hat sich durch den seit 2013 vermehrt nationalistischen, verschwörungslastigen und xenophoben Diskurs von Seiten staatlicher Akteure und ihrer medialen Lautsprecher noch verstĂ€rkt und dadurch auch zu einer Verschlechterung der Situation fĂŒr Wissenschaftler in Ägypten gefĂŒhrt.

Repression ohne Konsequenzen

Der Fall des Cambridge-Doktoranden Giulio Regenis hat das Thema Wissenschaftsfreiheit in Ägypten medial auch international auf die Agenda gehievt. Wie Entwicklungshelfer, Menschenrechtsaktivisten oder Journalisten, so bewegen sich auch Wissenschaftler im Zuge ihrer Feldforschung oftmals auf gefĂ€hrlichem Terrain. Im Gegensatz zu den anderen Berufsgruppen erhalten Wissenschaftler jedoch in der Regel kein feldspezifisches Sicherheitstraining. Wissenschaftler in gefĂ€hrlichem Umfeld sind in der Regel auf sich allein gestellt. Professionelle oder gar institutionelle UnterstĂŒtzung zur GefahreneinschĂ€tzung wie in der Entwicklungszusammenarbeit oder bei Journalisten ĂŒblich ist gibt es nicht. Eine systematische Erfassung von Verletzungen der Wissenschaftsfreiheit wie z.B. durch Reporter ohne Grenzen gibt es ebenso wenig wie Angebote oder Finanzierung von notwendigen Sicherheits- und Gefahrentrainings fĂŒr Wissenschaftler. Hier stehen nicht zuletzt auch UniversitĂ€ten und akademische Institutionen in der Pflicht. Die Debatte um den Fall Giulio Regeni hat richtigerweise auf die Vielzahl an verschwundenen Personen und die weiterhin weit verbreiteten Folterpraktiken in Ägypten unter Al Sisi hingewiesen. Allerdings sollten auch das systematische Vorgehen gegen Wissenschaftler in Ägypten bei der Diskussion des tragischen Falles des italienischen Kollegen nicht vernachlĂ€ssigt werden.

Im Kontext der allgemeinen Verschlechterung der Menschenrechtslage in Ägypten unter PrĂ€sident Al-Sisi geraten immer neue Gruppen ins Visier der straflos agierenden Ă€gyptischen Sicherheitsbehörden. Im Zusammenhang mit der katastrophalen Menschenrechtsbilanz der aktuellen Administration in Kairo hatte das EU Parlament im MĂ€rz unter direktem Verweis auf das Schicksal Regenis eine scharfe Resolution verabschiedet, welche zum wiederholten Male zu einem Exportstopp von MilitĂ€rgĂŒtern und einem Ende der Sicherheitskooperation mit dem Sisi-Regime aufrief. Kurz darauf wurde bei Besuchen vom französischem Staatschef Hollande und Vizekanzler Gabriel in Kairo jeweils ein Ausbau der Sicherheitskooperation insbesondere in den Bereichen Grenzschutz und TerrorbekĂ€mpfung sowie umfangreiche RĂŒstungslieferungen besiegelt. Es scheint, als ob das wohl dĂŒsterste Kapitel der jĂŒngeren Geschichte des altehrwĂŒrdigen Staates am Nil ohne Komplikationen weiter geschrieben werden kann, wĂ€hrend Wissenschaftler es schwer haben werden, ihre Seiten mit Quellen und Zitaten aus Ägypten zu fĂŒllen.