Die Debatte um den Syrienkonflikt verengt sich zunehmend auf die vermeintlichen Strategien dominanter Akteure und Großereignisse wie zuletzt dem Giftgasangriff in Idlib. Dabei werden syrische Stimmen immer weniger beachtet. Die für die Konfliktdauer und den Ausgang relevanten internationalen Akteure rücken in den Vordergrund der Berichterstattung und Analysen. Ein solcher Blick auf den komplexen Konflikt verkennt jedoch die Diversität der syrischen Bevölkerung und deren Erfahrungen der vergangenen sechs Jahre. Bereits etablierte Deutungen werden reproduziert, anstatt Anstöße für neue Lösungsinitiativen zu liefern. Eine Diskurskritik.
Abstumpfung und Sensationsgeilheit
Der erneute Giftgasangriff in Syrien und den darauf folgenden Luftschlag der amerikanischen Streitkräfte auf ein Flugfeld der syrischen Armee macht das Leid der syrischen Zivilbevölkerung ein weiteres Mal sichtbar. Sie leidet zunächst direkt unter der physischen Gewalt. Darüber hinaus jedoch entfaltet die sensationsgetriebene globale Debatte noch zusätzliches Leid.
Die Debatte der vergangenen Wochen zeigt, wie abgestumpft die politische und gesellschaftliche Auseinandersetzung mit Syrien – auch in Deutschland – ist. Eine solche Verengung der Debatte ist für einen möglichen Lösungsprozess hinderlich, da von festgelegten Wahrheiten ausgehend über den Konflikt diskutiert wird. Anstelle einer wichtigen und auf allen Seiten selbstkritischen Auseinandersetzung, „verkommt“ Syrien zur Projektionsfläche für Anhänger der beteiligten Akteure. Deshalb haben in dem „Krieg um Bilder“ vor allem auch Kommentatoren eine große Verantwortung.
Während unzählige Syrerinnen und Syrer immer noch ihr Leben verlieren, scheint der Konflikt heute nur noch größere Aufmerksamkeit zu generieren, wenn besonders abscheuliche Waffen eingesetzt wurden oder es um besonders dramatische Offensiven – wie beispielsweise im Herbst in Aleppo – geht.
Diese Entwicklung nutzen vor allem die Akteure, die sich auf verschiedene Weise dominierend in den Konflikt um Syrien einbringen. Allen voran jene, die die syrische Regierung unterstützen, namentlich Russland und der Iran. Sie versuchen weiterhin, das Bild einer Alternativlosigkeit zum jetzigen Regime aufrechtzuhalten. Dieser Darstellung steht die Erzählung der vergangenen und jetzigen amerikanischen Administration gegenüber, die für sich weiterhin den Status als Hegemonialmacht für Freiheit in der Region beansprucht. Zuletzt wurde diesdeutlich , als in den Tagen nach dem erneuten Giftgasangriff herzzerreißende Bilder von betroffenen Menschen in den Medien kursierten, welche dann bald von Bildern amerikanischer Raketenstarts und des amerikanischen Präsidenten ersetzt wurden. Allerdings hat auch diese Deutung wenig mit den komplexen Prozessen in der Region zu tun. Der Wettbewerb um Deutungshoheit und moralischen Ansprüche wird auf dem Rücken der Syrerinnen und Syrer ausgetragen.
So zynisch es klingen mag, weder der Giftgasangriff noch die Reaktion der Amerikaner ändern zunächst viel für die Syrer und Syrerinnen vor Ort. Die vorherrschende Brutalität in einem der unmenschlichsten Konflikte nach dem Zweiten Weltkrieg bildet keine Ausnahme, sondern bleibt weiterhin Alltag. Der Einsatz völkerrechtswidriger und besonders niederer Waffen, dazu zählt auch das gezielte Aushungern von Einwohnern belagerter Orte, ist die Regel. Giftgas ist hier also nicht eine abscheuliche Ausnahme, sondern eher ein besonders sichtbarer und wahrnehmbarer Teil der alltäglichen Gewalt. Andere völkerrechtlich geächtete, weil willkürliche, Waffensysteme wie Napalm oder Clusterbomben, welche u.a. im Kampf um Aleppo eingesetzt wurden, verkommen zur medialen Randnotiz.
Was diese beiden Ereignisse jedoch vor allem ändern, ist, dass Syrien erneut – für ein paar Tage –auf der weltpolitischen Agenda nach oben rückt. Daher liefern die amerikanische und die russische Regierung ihre eigene Wahrheit gleich mit. Den spannenden Wendepunkt der Erzählung formuliert der amerikanische Präsident dann auch medienwirksam selbst. Zynischerweise wäre es den „schönen Babys“ aufgrund von Trumps Einwanderungsmemorandum nicht möglich, in den USA Asyl zu bekommen. Zwar hielten sich die russische und die syrische Regierung in ihren Äußerungen zunächst zurück, legten später aber umso deutlicher nach.
Dabei wird das real erlebte Leid der Syrer und Syrerinnen in der Debatte vor allem auf „grausame Bilder“ reduziert, die in einem „schmutzigen Krieg“ von allen Seiten verwendet werden. Selbst jene Experten und Expertinnen, die vor zu schnellen Interpretationen warnen, sehen sich in der aufgeheizten Stimmung oftmals zu Deutungen gezwungen. Auffallend ist dabei, dass die Ereignisse in der Regel als Bekräftigung der eigenen Wahrheit verstanden werden, und weniger, um über alternative Lösungswege nachzudenken. Dadurch verfestigen sich die dominanten Deutungen des Konflikts auf die immer gleichen Weisen.
Internationaler Konflikt, lokale Opfer
Es ist ohne jeden Zweifel, dass der Konflikt in Syrien aufgrund der verschiedenen internationalen Interventionen verlängert und militärisch intensiviert wurde und wird. Aus der Konfliktforschung wissen wir jedoch, dass internationalisierte Konflikte durchschnittlich deutlich länger dauern. Einerseits ist der Begriff „Stellvertreterkrieg“ mittlerweile in den Jargon der öffentlichen Debatte eingegangen. Andererseits verlaufen die darin gezeichneten Konfliktlinien vor allem in der globalen Debatte sehr deutlich. Auch wenn es unter syrischen Akteuren ebenso deutliche Abgrenzungen gibt, sind die Trennlinien oftmals weniger eindeutig. Reflexartig wird der Fokus auf die Regierungen in Washington, Moskau, Teheran und Damaskus sowie deren „Verbündete“ gerichtet. Die spannendste Frage von allen scheint dabei für viele zu sein: Wer ist schuld und wem nützt welches Eingreifen?
Diesen Ansatz kritisch zu hinterfragen, soll nicht als Weigerung verstanden werden, die Täter ausfindig zu machen; dies ist zweifelsohne wichtig. Doch zeigen die Ereignisse der letzten Wochen einmal mehr, dass es in den momentanen Kriegswirren und aufgrund der Blockade im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen ohnehin fast unmöglich ist, die wahren Täter ausfindig zu machen. Vor allem aber legen sich selbst einige Experten wie Michael Lüders auch ohne konkretere Hinweise fest. Dabei bedienen sich die Kommentatoren ganz einfach ihrer eignen Wahrheit und argumentieren, dass es ja, je nach persönlicher Fasson, „die Russen“ oder „die Amerikaner“ gewesen sein müssen. Das vereinfacht die Deutung und signalisiert die Expertise der vorangegangenen eigenen Analysen des Konflikts, da die Ereignisse in die bereits etablierten Kategorien und Muster passen. Dabei hat sich der Konflikt in Syrien im Laufe der vergangenen sechs Jahre mehrmals fundamental geändert. Lediglich eins ist konstant geblieben: das Leiden der noch im Land verbliebenen syrischen Zivilbevölkerung.
Auch wenn immer wieder davor gewarnt wird, dass der Syrienkonflikt komplex ist und eben jene einfachen Narrative unangebracht sind, scheuen sich immer weniger Kommentatoren, von vereinfachten Darstellungen Gebrauch zu machen. Nach Jahren militärischer Intervention von einer Vielzahl regionaler, überregionaler, staatlicher und paramilitärischer Akteure werden noch immer entweder „die Amerikaner“ als Garant der freien Welt oder „die Russen“ als Vorkämpfer für unterdrückte souveräne Völker dargestellt. Noch etwas gruseliger wird es mit Blick auf die binäre Darstellung der Syrerinnen und Syrer, die nur noch in den Kategorien „Terroristen“, militante Aufständische, moderate Rebellen oder Verfolgte und Geflüchtete bekannt sind – Hauptsache zuordenbar in eines der beiden Lager: für oder gegen Assad. Eine solche Darstellung ist problematisch, weil sie die Komplexität des Konflikts verkennt und lediglich vertraute Interpretationen bestätigt. Besondere Wirkungsmacht entfalten diese Kategorien vor allem, weil die den Hauptakteuren im Konflikt ermöglichen, einfache Narrative zu etablieren. Dadurch richtet sich der Blick zunehmend auf die Auseinandersetzung zwischen den USA und Russland.
Brandbeschleuniger Großmachtpolitik
Das ist vor allem deshalb gefährlich, weil diese Diskussionskultur lediglich dazu dient, die eigene Wahrheit zu reproduzieren und damit letztendlich die Handlungen der einen oder der anderen Seite zu legitimeren. Wir müssen, so paradox es in diesem Konflikt klingt, aufhören, in alten Kategorien der Großmachtpolitik zu denken. Die Lösung des Konflikts wird trotz der Vielzahl an internationalen Akteuren ohne die Syrer und Syrerinnen nicht möglich sein. Bemühungen, zivilgesellschaftliche Akteure einzubeziehen und sich dabei nicht nur auf militärische Gruppen zu stützen, müssen deutlicher und nachhaltiger aufgegriffen werden. Das ist selbstredend sehr viel schwerer, als sich mit wenigen Stellvertretern auseinanderzusetzten. Hier gibt es noch sehr viel Spielraum, insbesondere wenn der Ruf nach einer diplomatischen Lösung ernst gemeint ist. Eine internationale Politik, die sich zunehmend auf starke Führungspersönlichkeiten konzentriert, verhindert einen Lösungsprozess, anstatt ihn anzuschieben.
Es ist obendrein zynisch, noch zu versuchen, der einen oder anderen Seite eine höhere Moralität zu unterstellen. Wenn auch in ganz unterschiedlichen Dimensionen, haben sich alle Parteien, syrische wie nicht syrische, am Fortbestehen des Konflikts aktiv beteiligt. Wenn es uns ernsthaft um Lösungswege im Syrienkonflikt gehen soll, dann müssen wir uns von dem Großmachtsdiskurs emanzipieren und auf die diversen Geschichten der Syrer und Syrerinnen hören. Trotz der damit verbundenen Schwierigkeiten ist es sehr viel nachhaltiger als darauf zu hoffen, dass es die großen Mächte schon irgendwann richten werden. Eine der schlimmsten Folgen von Interventionen in Syrien, ob nun durchdacht oder nicht, ist, dass sie möglicherweise die Hoffnung wecken, der Konflikt sei doch noch militärisch zu gewinnen. Ein solche Sichtweise verlängert das Leiden nur, da jegliche internationale Unterstützer auf allen (nicht beiden) Seiten bei einer drohenden Niederlage mehr Ressourcen mobilisieren werden, um eine solche zu verhindern. Es ist gerade diese falsche Hoffnung, die alle internationalen Akteure zu verantworten haben und die gleichzeitig unzähligen Menschen das Leben kostet. Insbesondere die syrische Regierung um Bashar Al-Assad hat ein großes Interesse an dieser Narration, da sie deren Legitimität als völkerrechtlich legal-rechtmäßiger Repräsentant unterstreicht.
Der Einwand mag nun sein, dass es bisher nicht gelungen sei, eine „richtige Opposition“ an den Tisch zu bekommen oder die wichtigsten Kräfte ohnehin bewaffnete Terroristen seien. Auch wenn die Kritik an vielen Gruppen absolut berechtigt ist, so sind noch nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft. Insbesondere die vielen zivilgesellschaftlichen Akteure, von denen sich auch heute noch viele innerhalb und außerhalb Syriens engagieren, müssen ernst genommen werden. Andererseits müssen alle Seiten ihre hohen moralischen Erwartungen und Wahrheiten hinterfragen und sich darauf einstellen, auch weiterhin mit unangenehmen Akteuren ins Gespräch zu kommen, ohne gleich deren Maximalforderungen zu akzeptieren. Der Lösungsprozess ist ebenso komplex wie der Konflikt selbst, davon können viele Gesellschaften in der Region ein Lied singen. Doch entscheidend ist, dass Lösung als Prozess gedacht wird und nicht als Produkt schon feststehender Wahrheiten. Das kann nur gelingen, indem wir die Diversität der Syrer und Syrerinnen ernst nehmen und in den Prozess mit aufnehmen. Genau das Gegenteil geschieht aber, wenn wir dem Konflikt nur Beachtung schenken, wenn Giftgas- und Luftanschläge in unsere eigene Wahrheit zu passen scheinen. Die syrischen Stimmen gehen in dem Getöse zwischen den Hauptstädten von Teheran über Moskau bis Washington meist unter.
Eine kürzere Version dieses Beitrags ist auf FAZ.net erschienen
Autoren
Jan Wilkens ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl Politikwissenschaft, insbesondere Global Governance an der Universität Hamburg wo er zu transnationalen Bewegungen und internationaler Politik des Nahen Ostens promoviert.
Ilyas Saliba ist deutsch-syrer und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Wissenschaftszentrum Berlin in der Abteilung für Demokratie und Demokratisierung. Er promoviert an der Berlin Graduate School for Social Sciences an der Humboldt Universität Berlin zu autoritären Regimen in der Arabischen Welt.