Wolfgang Merkel im Interview mit dem Österreichischen Nachrichtenmagazin Profil über Rechtspopulismus, moralische Überheblichkeit und Sebastian Kurz als konservative Galionsfigur in Europa.
profil: Ralf Dahrendorf sagte für Europa ein autoritäres Jahrhundert voraus. Sehen Sie das auch kommen?
Wolfgang Merkel: Wir sind keine Propheten und haben nicht die methodischen Instrumente, so langfristige Voraussagen zu treffen. Zunächst ist diese Perspektive unwahrscheinlich.
profil: Sie reden auch nicht gern von einer Krise der Demokratie, sondern lieber von Defekten. Wann schrillen bei Ihnen die Alarmglocken?
Merkel: Die Demokratie steht heute bes- ser da als in den 1960er- oder 1970er-Jahren. Denken Sie an die Rolle von Frauen oder Homosexuellen. Aber es gibt uneingelöste Versprechen. Eines davon ist die politische Gleichheit; sie wird zunehmend suspendiert, da sich die wachsende ökonomische Ungleichheit in ungleiche politische Beteiligung übersetzt. Zweitens hat sich die Europäische Union bei ihrer Erweiterung überdehnt und an Zuspruch verloren. Und drittens gibt es eine beachtliche Zahl von Bürgern, insbesondere in der unteren Mittelschicht, die sich in der offiziellen Politik und den Diskursen der Qualitätsmedien nicht wiederfindet.
profil: Sie reden von Gruppen, die über „Genderwahnsinn“ und Migranten herziehen? Ohne Gleichheit ist Demokratie schwer denkbar. Wie darauf antworten?
Merkel: Wir haben gute Argumente gegenüber Rechtspopulisten. Ihre Vision eines homogenen Volkskörpers ist inakzeptabel in den offenen Gesellschaften des 21. Jahrhunderts. Aber wir, die wir für liberale Demokratien eintreten, waren in den vergangenen 20 bis 30 Jahren zu sehr die illiberalen Wächter einer korrekten Begrifflichkeit.
profil: Kritisieren Sie nur den Tonfall oder auch die Argumente?
Merkel: Den schulmeisterlichen Tonfall. Wir sollten Diskursteilnehmer mit abweichenden Ansichten ernst nehmen. Wir Kosmopoliten haben beste emotionale Bindungen zu den Verelendeten der Dritten Welt, aber zeigen nicht selten kulturelle Verachtung gegenüber den abgehängten Schichten.
profil: Sind „wir Kosmopoliten“ auch Schuld am Hass, der uns entgegenschlägt?
Merkel: Wir haben ihn zumindest befeu- ert. Das untere Drittel ist nicht nur vom Diskurs ausgeschlossen, dieses beherbergt oft auch die wirtschaftlichen Verlierer der Globalisierung. Wir haben über Politikverdrossenheit geklagt, nun schwenkt das Pendel hin zu öffentlicher Leidenschaft. Leider mussten da erst die Rechtspopulisten kommen.
profil: Manche traditionelle Volksparteien antworten darauf selbst mit Populis- mus. Kann das gut gehen?
Merkel: Der CSU in Bayern sichert diese alte Strategie von Franz-Josef Strauß konservative Wähler. Das Beunruhigende ist zudem, dass ein klares, liberales Gegennarrativ zum Illiberalismus der Rechtspoulisten den geringsten Erfolg zu versprechen scheint.
profil: Der neue ÖVP-Chef Sebastian Kurz punktet mit der Schließung der BalkanRoute, der Forderung, die EU-Beitritts- verhandlungen mit der Türkei abzubrechen, oder dem Vorhaben, Beihilfen für im Ausland lebende Kinder zu kürzen – alles Themen, die auch bei Rechtspopulisten hoch im Kurs stehen. Bestätigt das Ihre Analyse?
Merkel: Ja. Kurz ist ein Musterbeispiel dafür. Er formuliert das, was die FPÖ viel unverblümter ausspricht, auf eine demokratisch gerade noch erträgliche Art und Weise. Darauf mit dem überschießenden Moralismus der kosmopolitischen Eliten zu antworten, hilft vor allem den Populisten in FPÖ und ÖVP.
profil: Was macht sein Versprechen, vor Flüchtlingen und Konkurrenz aus dem Ausland zu schützen, glaubwürdig?
Merkel: Kurz hat eine Mischung aus symbolischer und faktischer Teilschließung von Grenzen gefunden. Das kann sich in der Wahlarena für die ÖVP auszahlen, zeigt aber, dass die Partei nach rechts marschiert.
profil: Österreich war das erste Land, in dem Rechtspopulisten mitregierten. Ist es nun führend bei der Suche nach einer Antwort auf den Rechtspopulismus?
Merkel: Kurz exploriert schon seit einiger Zeit einen Weg, wie sich konservative Volksparteien mit einer Achsenverschiebung nach rechts wieder als dominante politische Spieler etablieren könnten. In Deutschland macht die CDU übrigens faktisch längst das, was Kurz propagiert. Sie begrenzt massiv den Zuzug von Migranten und Flüchtlingen und folgt damit einer populären Politik, die Merkels europäischem Alleingang widerspricht und die Kanzlerin öffentlich nie erklärt hat.
profil: Der französische Präsident Emmanuel Macron profitierte von der Sehnsucht nach unverbrauchten Gesichtern in der Politik. Ist Kurz mit ihm vergleichbar?
Merkel: Sicher nicht in der Substanz. Macron ist ein Linksliberaler, vielleicht mehr Liberaler als Linker, zudem ist er ein ausgesprochener Europäer. Vergleichbar sind sie höchstens in der Erscheinung: Beide sind jung und gelten aufgrund ihrer medialen Inszenierung als Politiker, die nicht der traditionellen politischen Klasse angehörigen, obwohl sie gerade dort ihre Karriere gemacht haben.
profil: In Frankreich hat sich die Sozialdemokratie aufgerieben. Was bleibt ihr in Österreich, außer nach rechts zu rücken?
Merkel: Seit Ende der 1970er-Jahre gibt es einen kontinuierlichen Niedergang der Mitte-links-Volksparteien, also der Sozi- aldemokratie. Das Problem ist, dass sich ihr einstiger politischer Monopolraum am stärksten fragmentiert hat. Diesen Raum muss sie sich kulturell mit den Grünen, und ökonomisch in vielen Ländern mit Linksozialisten und Linkspopulisten teilen. Intern muss sie den Kosmopolitismus ihrer Mittelschichtswähler und dem Kommunitarismus ihrer traditionellen Sektoren der Arbeiter und Gewerkschaften in Zukunft besser ausbalancieren. In den vergangenen zwei Jahrzehnten haben die kosmopolitischen Mittelschichten die Diskurse in der modernen Sozialdemokratie zu sehr bestimmt.
profil: Sind die beiden Strömungen überhaupt zu versöhnen?
Merkel: Willy Brandt sagte einmal, die SPD sei die Partei des donnernden „Sowohl- als-auch“. Im Moment schlägt sich die Sozialdemokratie in Österreich als Reaktion auf die FPÖ stärker auf die national- kommunitaristische Seite. Die ÖVP kann das aber unverblümter – und ganz unverblümt die FPÖ. Längerfristig verspricht das keinen Erfolg. Die Sozialdemokratie muss die Handlungsfähigkeit des Nationalstaats sozialdemokratisch, im Sinne der sozialen Gerechtigkeit, interpretieren, etwa in dem Sinne, dass innere Sicherheit gerade für die Schwächeren wichtig ist.
profil: In Österreich können sich 26 Prozent der Bevölkerung mit einer Führerfigur anfreunden, die sich nicht um Wahlen und das Parlament kümmern muss.
Merkel: Immer mehr Menschen machen die subjektive Erfahrung, nichts mehr zu verstehen und nicht gehört zu werden. Insofern hat selbst die Strategie von Kurz eine Berechtigung: Die Leute wollen repräsentiert werden. Die Frage ist: Wollen wir sie in einer demokratischen Partei haben, oder drängen wir sie ab in eine Partei, die bestenfalls semi-loyal zur Demokratie ist?
profil: Kann die Demokratie damit leben, dass das untere Drittel der Gesellschaft sich ausklinkt?
Merkel: Sie wird nicht kollabieren. Ich nenne das aber eine Zweidritteldemokratie – ein Drittel beteiligt sich politisch nicht mehr aktiv und wird auch nur sehr bedingt repräsentiert. Das ist keine Ver- schwörungsthese. Die Mehrzahl unserer Abgeordneten hat die kulturelle Verbindung zu den unteren Schichten verloren. Wir erleben auch deshalb eine Oligarisierung der Demokratie. Das obere Drittel bestimmt die Medien, die Kultur und die politischen Entscheidungen. Wir haben es uns in unseren liberalen Echokammern bequem gemacht. Die demokratische Klugheit gebietet es aber, dass das privilegierte obere Drittel nicht ständig die wirtschaftlich und kulturell abgehängten Schichten mit seiner Weltsicht belehrt.
profil: In rechten Kreisen wird Demokratie als Diktatur der Eliten verunglimpft. Die Instrumente der direkten Demokratie sollen dem Volk Gehör verschaffen.
Merkel: Da bin ich skeptisch. In der populistischen Dichotomie von Führer und Volk ist immer das Volk das Gute, und die Eliten sind immer die Korrupten. Das ist auch die Spiegelverkehrung der hochliberalen Diskurse, wo die kosmopolitisch aufgeklärten Gewinner der Globalisierung immer das moralisch Richtige verkörpern. An Volksabstimmungen beteiligt sich „das Volk“ noch viel weniger als an Parlamentswahlen. Vor allem die unteren Schichten bleiben weg.
profil: Die EU reagierte im Jahr 2000 äußerst rigoros auf die ÖVP/FPÖ-Regierung in Österreich. Wie beurteilen Sie die Sanktionen rückblickend?
Merkel: Haider zündelte damals mit nazistischer Symbolik. Die Reaktion der EU darauf war demokratisch fragwürdig und rechtlich problematisch. Bei Berlusconi unternahm sie dann nichts mehr. Dabei war der Koalitionspartner, die italienische Lega Nord, eine der rassistischsten Gruppierungen im Rechtskartell Europas. Heute gibt es in Ungarn und Polen konstitutionelle Vertragsverletzungen illiberaler Regierungen, gegen die die EU viel entschiedener einschreiten müsste. Allerdings hat sie das Problem, dass die Spitzen der Union selbst oft ihre eigenen Vereinbarungen verletzen.
profil: Bei den nächsten Wahlen wird die FPÖ wahrscheinlich wieder in die Regierung kommen. Wird das noch jemanden aufregen?
Merkel: Nein, aber das ist in Österreich auch anders als in Polen oder Ungarn. Erstens wird die FPÖ wohl nicht die stärkste Regierungspartei sein. Zweitens hat Österreich stabile demokratische Institutionen und eine starke Zivilgesellschaft. Es geht die EU zunächst einmal gar nichts an, wenn eine demokratisch gewählte Partei wie die FPÖ in die Regierung kommt. Erst wenn sie eine Regierungspolitik betreibt, die demokratische und rechtsstaatliche Verfahren suspendiert oder die EU-Verträge verletzt, schlägt die Stunde der EU.
Interview: Edith Meinhart
12. Juni 2017 24 23
Wolfgang Merkel, 65, ist Professor für Politikwis- senschaft an der Humboldt Universität Berlin, Direktor am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung und Mitglied der Grundwertekommission der SPD. Er schrieb zahlreiche Bücher und Aufsätze zu demokratiepolitischen und sozialen Problemen. Am 25. Mai hielt er auf der Tagung der Österreichischen Juristenkommission in Schlögen/Oberösterreich eine Rede. Die Veranstaltung widmete sich der Frage: Steckt die liberale Demokratie in der Krise?