Wahlstudie zur NRW-Landtagswahl 2017

Steigende Wahlbeteiligung verschärft die soziale Spaltung

Die gestiegene Wahlbeteiligung hat bei der NRW-Landtagswahl 2017 die soziale Spaltung verschärft, meint Robert Vehrkamp, Director „Zukunft der Demokratie“ bei der Bertelsmann Stiftung und derzeit Gastwissenschaftler der Abteilung Demokratie und Demokratisierung am WZB.

Zum achten Mal in Folge ist bei einer Landtagswahl in Deutschland die Wahlbeteiligung gestiegen. Mit 65,2 Prozent und einem Anstieg in Höhe von 5,6 Prozent aller Wahlberechtigten hat die Wahlbeteiligung den höchsten Wert bei einer NRW-Landtagswahl seit mehr als zwei Jahrzehnten erreicht. Dennoch hat sich die soziale Spaltung der Wahlbeteiligung in NRW nicht verringert. Im Gegenteil: Die soziale Spaltung zwischen Wählern und Nichtwählern hat sich sogar noch einmal leicht verschärft. Auch bei gestiegener Wahlbeteiligung gilt für die NRW-Landtagswahl 2017 deshalb: Je sozial prekärer die Milieustruktur in einem Stimmbezirk ist, umso geringer ist die Wahlbeteiligung, und je höher der Anteil wirtschaftlich stärkerer Milieus der sozialen Mittel- und Oberschicht ausfällt, umso höher ist die Wahlbeteiligung. Die Wahlbeteiligung in Nordrhein-Westfalen bleibt damit auch auf spürbar höherem Niveau sozial tief gespalten. Woran liegt das?

Entscheidend dafür ist das soziale Profil der mobilisierten Nichtwähler. Werden vor allem Wähler aus den wirtschaftlich stärkeren typischen Wählermilieus mobilisiert, führt das zu einer Verschärfung der sozialen Spaltung der Wahlbeteiligung. Kommen die mobilisierten Nichtwähler eher aus den sozial prekären typischen Nichtwählermilieus, führt das zu ihrer Verringerung. Die hier vorgestellten Ergebnisse zeigen, dass die Wahlsieger CDU und die FDP vor allem in der sozialen Mittel- und Oberschicht mobilisiert haben, während der Anstieg der Wahlbeteiligung in den sozial prekären typischen Nichtwählermilieus unterdurchschnittlich geblieben ist. Dadurch hat sich die ohnehin stark ausgeprägte soziale Spaltung der Wahlbeteiligung noch einmal leicht verschärft. Auch die „populäre“ NRW-Landtagswahl 2017 bleibt deshalb eine „sozial prekäre“ Wahl.

Die starke und bei der NRW-Landtagswahl 2017 noch einmal leicht gestiegene Spreizung der Wahlbeteiligung wird deutlich, wenn man die Wahlbeteiligung der repräsentativen Stimmbezirke mit der höchsten und der niedrigsten Wahlbeteiligung vergleicht (Abb. 1).

 

Auf einem insgesamt gestiegenen Niveau der Wahlbeteiligung (65,2 Prozent) hat sich die Spreizung der Wahlbeteiligung zwischen den Stimmbezirken mit der niedrigsten und der höchsten Wahlbeteiligung noch einmal leicht erhöht: von 28,8 Prozentpunkten bei der Landtagswahl 2012 auf 29,9 Prozentpunkte bei der Landtagswahl 2017. Der Grund dafür ist, dass die Wahlbeteiligung in den Stimmbezirken mit der niedrigsten Wahlbeteiligung weniger stark gestiegen ist als in den Stimmbezirken mit der höchsten Wahlbeteiligung. In den Wählerhochburgen mit dem höchsten Niveau der Wahlbeteiligung ist sie leicht überdurchschnittlich um 5,8 Prozentpunkte angestiegen (gegenüber 5,2 Prozent im Durchschnitt der Gesamtwahlbeteiligung). In den Nichtwählerhochburgen mit dem geringsten Niveau der Wahlbeteiligung fiel der Anstieg mit lediglich 4,8 Prozentpunkten dagegen leicht unterdurchschnittlich aus. Das führte auf insgesamt deutlich höherem Niveau zu einem leichten Anstieg in der Spreizung der Wahlbeteiligung. Bereits hier zeigt sich ein interessanter Zusammenhang zwischen der Höhe und der Spreizung der Wahlbeteiligung. Zwar gilt als empirisch gut belegt die Faustregel: Je niedriger die Wahlbeteiligung ausfällt, desto ungleicher ist sie. Umgekehrt ist das jedoch kein Automatismus, d. h. ein Wiederanstieg der Wahlbeteiligung von einem einmal erreichten sehr geringen Niveau mit starker Spreizung führt nicht automatisch dazu, dass sich die Spreizung wieder verringert. Im Gegenteil: Solange das Niveau der Wahlbeteiligung sehr niedrig ist, kann auch eine wieder steigende Wahlbeteiligung sehr leicht mit einer weiteren Zunahme ihrer Spreizung verbunden sein. So war es bei der NRW-Landtagswahl 2017.

Aber worauf beruhen diese sozialen Muster der Veränderung der Wahlbeteiligung? Warum war bei der NRW-Landtagswahl 2017 auch die Veränderung der Wahlbeteiligung sozial ungleich verteilt? Die Erklärung dafür liegt in dem sozialen Profil der für und über alle Parteien hinweg saldierten Nichtwählermobilisierung.

Erfolgreiche Nichtwählermobilisierung der CDU und FDP

Die in Umfragen von infratest dimap am Wahltag ermittelten Wählerwanderungen zeigen zunächst einmal: Fast zwei Drittel (520.000) aller zusätzlich mobilisierten Nichtwähler (810.000) haben bei der Landtagswahl 2017 für die CDU (430.000) oder die FDP (90.000) gestimmt. Damit wird der Mobilisierungssaldo zwischen Wählern und Nichtwählern bei dieser Landtagswahl ganz eindeutig dominiert von den Nichtwählermobilisierungserfolgen der beiden Wahlsieger CDU und FDP. Das soziale Profil ihrer Nichtwählermobilisierung bestimmt damit auch sehr weitgehend die Richtung und Stärke der Veränderung der sozialen Spaltung der Wahlbeteiligung insgesamt.

Aber wie sieht das soziale Profil dieser von der CDU und FDP mobilisierten Nichtwähler aus? Sehr klar und deutlich: Die Wahlergebnisse der CDU und FDP weisen den im Vergleich aller Parteien an stärksten positiven Zusammenhang mit dem Anteil an Haushalten mit mittlerem und hohem sozio-ökonomischen Status auf. Für die FDP zeigt sich überdeutlich: Je höher der Anteil wirtschaftlich besonders starker Haushalte, umso höher ihr Wahlergebnis. Für den Wahlsieger CDU zeigte sich ein ähnlich stark ausgeprägter Zusammenhang vor allem für die mittlere Haushaltsklasse: Je höher der Anteil an sozialen Mittelschichthaushalten in einem Stimmbezirk ist, umso bessere Wahlergebnisse hat sie dort erzielt. Gleichzeitig weisen dieselben Stimmbezirke auch einen positiven Zusammenhang mit der Höhe und der Veränderung der Wahlbeteiligung auf. Das heißt: Je höher der Anteil an Haushalten mit mittlerem und/oder hohem sozio-ökonomischen Status, umso höher sind dort die Wahlbeteiligung und die Wahlergebnisse von CDU und FDP. Gleichzeitig sind dies auch die Stimmbezirke, in denen die Wahlbeteiligung überdurchschnittlich angestiegen ist. Das alleine beweist zwar noch nicht, dass die Mobilisierungserfolge von CDU und FDP auch tatsächlich von Wählern aus diesen wirtschaftlich stärkeren Haushalten kamen. Es ist aber ein starker Hinweis darauf.

Ergänzt wird dieses Muster auch durch einen Vergleich der Zusammenhänge mit der Landtagswahl 2012. Bei beiden Wahlen zeigte sich ein in etwa gleich starker negativer Zusammenhang der Wahlergebnisse der CDU mit dem Anteil an Haushalten mit niedrigem sozio-ökonomischen Status (Abbildung 2).

 

Deutliche Veränderungen zeigen sich für die CDU allerdings bei den wirtschaftlich mittleren und starken Haushalten. Während hier bei der Landtagswahl 2012 lediglich der Zusammenhang mit dem Anteil an Haushalten aus der Mittelklasse stark positiv war, zeigt sich bei der Landtagswahl 2017 für beide Haushaltsgruppen ein deutlich positiver Zusammenhang. Bei der Landtagswahl 2012 weisen die Wahlergebnisse der CDU also einen stärker positiven Zusammenhang mit dem Anteil wirtschaftlich starker Haushalte auf als bei der Landtagswahl 2012. Auch das kann als ein Hinweis darauf gedeutet werden, dass die CDU in diesem Wählersegment stärker mobilisieren konnte als bei der vorherigen Wahl. Gleichzeitig zeigt sich für die FDP ihr bereits starker Zusammenhang mit den Anteilen sozial starker Haushalte auch bei dieser Wahl. Keine andere Partei weist mit einer der drei Haushaltsklassen einen stärkeren Zusammenhang aus als die FDP mit der wirtschaftlich höchsten Haushaltsklasse.

In eine ähnliche Richtung weisen auch die Ergebnisse der Wahltagbefragung von infratest dimap. Die CDU hat danach vor allem bei den Selbstständigen (+10 Prozent), Beamten (+10 Prozent) und in der höchsten Bildungsgruppe (+10 Prozent) überdurchschnittlich stark hinzugewonnen (ihr Zugewinn lag im Durchschnitt bei 6,7 Prozent). Gleichzeitig hat auch die FDP bei der Landtagswahl 2017 in diesen Gruppen ihre gewohnte Stärke gezeigt und bei ihrem durchschnittlichen Wahlergebnis in Höhe von 12,5 Prozent erneut ihre überdurchschnittlichsten Ergebnisse bei den Selbstständigen (21 Prozent) und in der höchsten Bildungsgruppe (14 Prozent) erzielt, während die Veränderungen ihrer Wahlergebnisse in diesen Gruppen uneinheitlich blieben.

Lässt sich aus diesen Zusammenhängen und Ergebnissen eindeutig auf das soziale Profil der Nichtwählermobilisierungserfolge von CDU und FDP schließen? Das nicht, aber sie lassen sich in der Summe und im Gesamtbild dennoch wie folgt interpretieren: Die Nichtwählermobilisierung von CDU und FDP ist mit großer Wahrscheinlichkeit vor allem in der sozialen Mitte und oberhalb davon besonders erfolgreich gewesen. Deutlich weniger wahrscheinlich ist, dass es den beiden Parteien gelungen ist, in den typischerweise sozial prekären Nichtwählermilieus zu mobilisieren. Damit liegt nahe, dass die bürgerlich-etablierten Mobilisierungserfolge von CDU und FDP dazu beigetragen haben, die soziale Spaltung der Wahlbeteiligung bei der Landtagswahl noch einmal leicht zu verschärfen.

SPD Wählerhochburgen in Stimmbezirken mit geringer Wahlbeteiligung

Für die SPD zeigen sich im Vergleich zur CDU und FDP die umgekehrten Zusammenhänge: Sie erzielt ihre besten Ergebnisse nicht in den wirtschaftlich starken Wählerhochburgen, sondern in den wirtschaftlich deutlich schwächeren Nichtwählerhochburgen: Je höher der Anteil wirtschaftlich schwacher Haushalte in einem Stimmbezirk, desto niedriger ist die Wahlbeteiligung und desto höher fällt dort das Wahlergebnis der SPD aus. Umgekehrt gilt für die SPD: Je höher der Anteil wirtschaftlich starker Haushalte in einem Stimmbezirk, desto höher ist die Wahlbeteiligung und desto schlechter fällt zugleich ihr Wahlergebnis aus. Das hat Konsequenzen für das Gesamtwahlergebnis der SPD, weil gleichzeitig gilt: Je geringer die Wahlbeteiligung ausfällt, umso weniger trägt ein hoher Stimmenanteil zum Gesamtergebnis bei. Die vergleichsweise guten Ergebnisse der SPD in den Nichtwählerhochburgen zahlen sich also für das Gesamtergebnis der SPD sehr viel weniger aus, als die guten Ergebnisse von CDU und FDP in den Wählerhochburgen zu deren Gesamtwahlergebnissen beitragen. Auch die Veränderung der Wahlbeteiligung hat sich nicht zugunsten der SPD ausgewirkt. In ihren Wählerhochburgen ist die Wahlbeteiligung nur unterdurchschnittlich gestiegen. Das erklärt auch, warum die SPD nur vergleichsweise wenige Nichtwähler (170.000) für sich mobilisieren konnte. Damit konnte die SPD bei der Landtagswahl 2017 auch keinen nennenswerten Effekt zur Verringerung der sozialen Spaltung der Wahlbeteiligung leisten.

AfD gewinnt in typischen Nichtwählerhochburgen

Ein vergleichbares soziales Wählermuster wie bei der SPD zeigt sich auch bei der AfD, dem dritten Wahlsieger der Landtagswahl. Auch die AfD erzielte vor allem dort ihre besten Ergebnisse, wo der Anteil wirtschaftlich schwacher Haushalte besonders hoch ist: Je höher der Anteil wirtschaftlich schwacher Haushalte in einem Stimmbezirk, desto besser die Wahlergebnisse der AfD. Die AfD hat ihre Wahl- und Mobilisierungserfolge also vor allem in den wirtschaftlich schwächeren Stimmbezirken und Wählermilieus erzielt. Dabei profitierte die AfD in diesen Milieus aber vor allem von ehemaligen Protestwählern der Piratenpartei. Das zeigen ihre Wählerwanderungszuwächse von anderen Parteien (300.000), die zum größten Teil aus der ehemaligen Wählerschaft der Piratenpartei kamen. Ihr Saldo mobilisierter Nichtwähler (120.000) fiel dagegen deutlich geringer aus. Die AfD konnte damit bei der Landtagswahl 2017 nur vergleichsweise wenige zusätzliche Nichtwähler aus den typischen sozial prekären Nichtwählerhochburgen mobilisieren. Sie hat jedoch in diesen typischen Nichtwählermilieus sehr stark von den Mobilisierungserfolgen der Piratenpartei bei der letzten Landtagswahl profitiert. Viele der von den Piraten bei der Landtagswahl 2012 mobilisierten Protest-Nichtwähler haben sich bei der Landtagswahl 2017 für die AfD entschieden. Isoliert betrachtet, hat die AfD damit zwar einen Beitrag zur Verringerung der sozialen Spaltung der Wahlbeteiligung geleistet. Die AfD hat bei der Landtagswahl 2017 allerdings lediglich den Platz eingenommen, den bei der Landtagswahl 2012 die Piraten besetzt hatten. In den sozialen Mustern der Gesamtwahlbeteiligung neutralisiert der Wahlerfolg der AfD somit nur das gleichzeitige Verschwinden der Piraten. Der Nettoeffekt beider Wahlergebnisse auf die soziale Struktur der Wahlbeteiligung bleibt gering.

Das Gleiche gilt auch für die Zugewinne der Linken, die in den wirtschaftlich schwächeren Nichtwählerhochburgen insgesamt zu gering ausfielen, um das soziale Muster der Gesamtwahlbeteiligung zu prägen. Ebenso wenig wie die Verluste der Grünen, die vor allem auf der Abwanderung von Wählern zu anderen Parteien beruhen, und deshalb für das soziale Muster der Gesamtwahlbeteiligung ebenfalls neutral bleiben.

Fazit: Nichtwählermobilisierung von CDU und FDP erhöht die soziale Spaltung

Als Nettoeffekt über alle Parteien hinweg bleibt somit der Effekt der erfolgreichen Nichtwählermobilisierung von CDU und FDP. Ihre Mobilisierungserfolge erklären alleine etwa zwei Drittel der gestiegenen Wahlbeteiligung. Die sozialen Muster ihrer Mobilisierungserfolge weisen gleichzeitig darauf hin, warum die gestiegene Wahlbeteiligung nicht zu einer Verringerung ihrer sozialen Spaltung, sondern im Gegenteil sogar zu ihrer leichten Verschärfung auf ohnehin hohem Niveau beigetragen hat. Das soziale Profil der Nichtwählermobilisierung zeigt damit eine wachsende Gegenmobilisierung der sozialen Mitte und der wirtschaftlich starken Wählerschichten gegen die rechtspopulistischen Mobilisierungserfolge der AfD in den sozial prekäreren Nichtwählerhochburgen. Bei der NRW-Landtagswahl 2017 fiel der Mobilisierungssaldo eindeutig zugunsten der bürgerlich-etablierten Gegenmobilisierung aus. Das führte im sozialen Muster der Wahlbeteiligung zu einer leichten Verschärfung der ohnehin stark ausgeprägten sozialen Spaltung der Wahlbeteiligung.

Die vollständige Studie zum beiliegenden Artikel finden Sie unter dem folgenden Link auf der Webpräsenz der Bertelsmann Stiftung:

https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/publikationen/publikation/did/populaere-wahlen-nrw/

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