Wahlprogramme werden in der Ăffentlichkeit oft kritisch beĂ€ugt: Sie enthielten leere Versprechungen, seien den WĂ€hlern nicht bekannt und die Unterschiede zwischen den Parteien marginal. Die empirische Forschung und das am WZB angesiedelte Manifesto Projekt hingegen zeigen, dass die Wahlprogramme die Politik nach der Wahl bestimmen, die InÂhalte der Programme ĂŒber unterschiedliche KanĂ€le den WĂ€hÂlern bekannt gemacht werden und sich die Wahlprogramme der Parteien sehr wohl hinsichtlich der Themenschwerpunkte und Sachfragenpositionen unterscheiden.
Wahlprogramme Ă€hneln dem Versuch, eine eierlegende Wollmilchsau zu zĂŒchten. In monate- oder gar jahrelangen innerparteilichen Prozessen werden sie entworfen, diskutiert, kritisiert und schlieĂlich verabschiedet, um die gesamte Partei hinter dem Programm zu vereinen und fĂŒr den Wahlkampf zu mobilisieren. Parteien richten sich mit ihren Programmen nicht nur an die eigene Basis, sondern auch an WĂ€hler, Medien und Parlamentarier und nutzen sie fĂŒr verschiedene Zwecke. Die Programme stellen die Unterschiede zu anderen Parteien heraus und dienen so der Profilbildung im Parteienwettbewerb. Gleichzeitig können innerparteiliche Kontroversen durch Kompromissformeln oder vage gehaltene Aussagen verdeckt werden. Zudem soll das Wahlprogramm bei WĂ€hlerinnen und WĂ€hlern fĂŒr die Partei werben und sie von deren Politik und Kompetenz ĂŒberzeugen. Nach der Wahl sollen Programme wiederum als Richtschnur fĂŒr das Handeln von Parlamentariern und gegebenenfalls der Regierung dienen. Im Laufe der Legislaturperiode sollen Parteien ihre vor der Wahl geleisteten Versprechen erfĂŒllen, indem sie ihr Programm beispielsweise in Form von Gesetzen umsetzen.
Wahlprogramme genieĂen allerdings keinen besonders guten Ruf. So tauchen in der öffentlichen Debatte immer wieder drei kritische Argumente gegen Wahlprogramme auf. Es wird in Zweifel gezogen, dass sich Parteien an ihre Wahlversprechen halten. Was Parteien vor der Wahl ins Programm schreiben, interessiere sie nach der Wahl nicht mehr. AuĂerdem wird eingeworfen, dass der Anteil der WĂ€hler, die Wahlprogramme lesen, verschwindend gering ist. Ihre Inhalte seien somit den wenigsten WĂ€hlern bekannt. Die Wahlentscheidung fĂŒr oder gegen eine Partei könne dann auch nicht auf den programmatischen VorschlĂ€gen der Parteien beruhen. SchlieĂlich wird angefĂŒhrt, dass sich die Programme â insbesondere der groĂen Parteien â kaum noch voneinander unterscheiden. Beispielsweise wird der CDU in den letzten Jahren eine âSozialdemokratisierungâ vorgeworfen, die die programmatischen Unterschiede zur SPD verschwinden lasse. Auf Grundlage des aktuellen Forschungsstands zu Wahlprogrammen und den Arbeiten des seit Jahrzehnten am WZB angesiedelten Manifesto-Projekts, in dem Wahlprogramme vergleichend analysiert werden, lassen sich EinwĂ€nde gegen Wahlprogramme entkrĂ€ften.
Laut Umfragen sind 80 Prozent der Bevölkerung ĂŒberzeugt, dass sich Parteien nicht an ihre Wahlversprechen halten. Zu diesem Misstrauen hat vermutlich das Brechen einiger zentraler Wahlversprechen beigetragen. So versprach beispielsweise die SPD im Bundestagswahlkampf 2005, die Mehrwertsteuer nicht zu erhöhen. Die CDU hingegen hielt eine Erhöhung um 2 Prozent fĂŒr notwendig. Im Koalitionsvertrag einigten sich die beiden Parteien sogar auf eine Erhöhung um 3 Prozent. Allerdings zeichnet die Forschung zur Umsetzung von Wahlversprechen ein anderes Bild. Parteien können trotz Kompromissen in Koalitionsregierungen zwischen der HĂ€lfte und zwei Drittel ihrer Versprechen umsetzen. Die Betonung bestimmter Themenbereiche in den Wahlprogrammen der Regierungsparteien signalisiert die Bereitschaft, diese Themen im Haushalt zu stĂ€rken und mehr Geld fĂŒr sie bereitzustellen. Auch Parteien, die nach der Wahl in der Opposition landen, bleiben sich und ihren Wahlprogrammen in ihren parlamentarischen Reden treu.
Der Vorwurf, Wahlprogramme wĂŒrden von den WĂ€hlern nicht gelesen, konnte bisher nur begrenzt entkrĂ€ftet werden. Die Leserschaft von Wahlprogrammen ist vermutlich sehr klein. Eine vollstĂ€ndige LektĂŒre der Wahlprogramme aller etablierten Parteien ist inzwischen zu einer Mammutaufgabe geworden. Die LĂ€nge deutscher Wahlprogramme hat seit den ersten Wahlen in der Bundesrepublik fast kontinuierlich zugenommen. Heute haben die Programme nicht selten die LĂ€nge eines Buches. Das Programm der GrĂŒnen zur Bundestagswahl 2013 umfasste ĂŒber 300 Seiten.
Auf eine vollstĂ€ndige Rezeption der Programme lĂ€sst sich jedoch verzichten, weil ihre wichtigsten Inhalte ĂŒber zahlreiche KanĂ€le indirekt vermittelt werden. So werden Themensetzung und Positionen der Parteien in der Wahlkampagne auch in Form von Flyern und BroschĂŒren einer breiteren Ăffentlichkeit prĂ€sentiert. Zudem veröffentlichen Parteien neben ihren kompletten Wahlprogrammen zunehmend verschiedene Versionen fĂŒr unterschiedliche WĂ€hlergruppen: Kurzfassungen, die inzwischen fast alle Parteien erstellen, Programme in leichter Sprache oder Programme in Form von Videos. Die Inhalte der Programme â insbesondere deren prĂ€gnante Kernaussagen â werden aber auch von den Medien aufgegriffen. Die unterschiedliche Themensetzung und Positionierung der Parteien schlĂ€gt sich in der Berichterstattung allerdings schon dadurch nieder, dass Parteien öfter zu jenen Themen sprechen, die ihnen selbst wichtig sind. Nicht zuletzt tragen Onlineplattformen wie der millionenfach genutzte Wahl-O-Mat dazu bei, dass die Programmatik der Parteien den WĂ€hlern zugĂ€nglich gemacht wird.
Ob die Agenda 2010 der SPD in den 2000er Jahren oder die Kehrtwende der CDU bei der Atomkraft â die Positionen der Parteien scheinen sich bei vielen Sachfragen anzunĂ€hern. Ob und inwiefern sich Wahlprogramme unterscheiden, ist eine Frage, die in vielen Variationen seit Jahrzehnten am WZB empirisch beantwortet wird. Das Manifesto-Projekt ist ein Langfristforschungsprojekt, das seit ĂŒber 35 Jahren Wahlprogramme aus mittlerweile mehr als 50 LĂ€ndern weltweit analysiert, die zumeist bis 1945 zurĂŒckreichen. Beispielsweise könnte das Programm der Italienischen Kommunistischen Partei von 1946 mit dem der CDU/CSU von 2013 verglichen werden. Seit ĂŒber 25 Jahren ist das Projekt am WZB angesiedelt und verfĂŒgt ĂŒber ein groĂes Netzwerk an LĂ€nderexperten, die Wahlprogramme sammeln und nach einem gemeinsamen Schema analysieren. Im Mittelpunkt der Analyse steht die einheitliche Messung von Themensetzung und Positionierung der Parteien.
Seit das Projekt im Jahr 2009 in die Langfristförderung der Deutschen Forschungsgemeinschaft aufgenommen wurde, ist es auf eine digitale Infrastruktur umgestellt und die gesamten Daten in einem Corpus online verfĂŒgbar gemacht worden. Dadurch können nun die digitalisierten Programme vollstĂ€ndig analysiert und auch Aussagen ĂŒber die verwendete Sprache getroffen werden. Zudem lassen sich so die konkreten Textstellen zu bestimmten Positionierungen und Themen einfach extrahieren. Die Daten des Manifesto-Projekts finden in der wissenschaftlichen Gemeinschaft eine breite Verwendung und sind Grundlage von Hunderten politikwissenschaftlicher Publikationen.
Quelle: Volkens, Andrea/Lehmann, Pola/MatthieĂ, Theres/Merz, Nicolas/Regel, Sven: The Manifesto Data Collection. Manifesto Project (MRG/CMP/MARPOR). Version 2016b. Berlin: Wissenschaftszentrum Berlin fĂŒr Sozialforschung.
Die Abbildung basiert auf dem Datensatz des Manifesto-Projekts und zeigt eine Analyse der zu den Bundestagswahlen zwischen 1998 und 2013 veröffentlichten Wahlprogramme der etablierten Parteien. Abgebildet sind die durchschnittliche Betonung und die Positionierung der Parteien zu vier ausgewĂ€hlten Themenkomplexen: der GröĂe des Wohlfahrtsstaats, den Vorstellungen ĂŒber das gesellschaftliche Miteinander, dem Umfang des MilitĂ€rs und der Einstellung zur EuropĂ€ischen Union. Die LĂ€nge der Balken rechts der Nulllinie gibt den Anteil der Aussagen fĂŒr den Ausbau des Wohlfahrtsstaats, fĂŒr progressive gesellschaftliche Wertvorstellungen, fĂŒr eine StĂ€rkung des MilitĂ€rs und eine positivere Einstellung zur EuropĂ€ischen Union. Die LĂ€nge der Balken links der Nulllinie gibt den Anteil der Aussagen fĂŒr den RĂŒckbau des Wohlfahrtsstaats, konservative Wertvorstellungen, fĂŒr militĂ€rische AbrĂŒstung und fĂŒr euroskeptische Positionen an. Die GesamtlĂ€nge der Balken spiegelt die Betonung eines Themas wider. Die Mitte der Balken markiert die Positionierung der Parteien zu diesen Themen. Je nĂ€her die Mitte des Balkens an der Nulllinie liegt, desto mehr halten sich Pro- und Kontra-Aussagen zu einem Thema die Waage.
Bei den vier Sachfragen zeigen sich unterschiedliche Muster. Der Wohlfahrtsstaat erfĂ€hrt von allen Parteien groĂe Aufmerksamkeit â deutlich mehr als die anderen Themen. Hinsichtlich der Positionierung zeigen sich jedoch deutliche Unterschiede. Die FDP ist die einzige Partei, die sich alles in allem eher fĂŒr einen RĂŒckbau des Wohlfahrtsstaats ausspricht. Die Linkspartei ist stĂ€rkster BefĂŒrworter eines Ausbaus des Wohlfahrtsstaats. Dies zeigt sich an der sehr deutlichen Positionierung und starken Betonung. GrĂŒne und SPD unterscheiden sich eher in der Betonung als in der Positionierung zu diesem Thema. Die Union positioniert sich zwischen FDP und SPD, betont das Thema allerdings am wenigsten.
Hinsichtlich der gesellschaftlichen Wertvorstellungen unterscheiden sich die Parteien ebenfalls stark in ihrer Positionierung und in der Betonung des Themas. Die Union nimmt eine deutlich konservative Position ein und unterscheidet sich damit von den anderen Parteien. Gleichzeitig ist sie auch die Partei, die dem Thema die gröĂte Bedeutung beimisst. GrĂŒne und Linke beziehen progressive Positionen, die FDP eine beinahe ausgeglichene und die SPD eine leicht konservative Position.
Beim Thema MilitĂ€r zeigen sich ebenfalls deutliche Unterschiede. Hier stehen sich Union und Linke diametral gegenĂŒber. Beide Parteien betonen das Thema mehr als die anderen Parteien, nehmen jedoch gegensĂ€tzliche Positionen ein. Alle anderen Parteien positionieren sich dazwischen, mit den GrĂŒnen nĂ€her bei der Linkspartei. FDP und SPD befinden sich nĂ€her bei der Union.
Die Betonung und Positionierung hinsichtlich der EuropĂ€ischen Union unterscheidet sich von den anderen Themenkomplexen insofern, als hier nur geringe Unterschiede zwischen den Parteien zu beobachten sind. Alle Parteien vertreten proeuropĂ€ische Positionen und betonen das Thema in Ă€hnlichem MaĂe. Der breite europafreundliche Konsens, der bis zum Aufkommen der AfD unter den deutschen Parteien vorherrschte, spiegelt sich also auch in den Wahlprogrammen wieder. Einzig die Linkspartei sticht hier etwas heraus. Im Vergleich zu den anderen Parteien nimmt sie eine etwas euroskeptischere Position ein.
Die empirische Forschung und die Analysen des Manifesto-Projekts zeigen: Die immer wieder vorgetragene Kritik an Wahlprogrammen ist empirisch nicht untermauert. Wahlversprechen aus den Programmen werden mehrheitlich eingelöst und prĂ€gen parlamentarisches wie auch Regierungshandeln. AuĂerdem werden Wahlprogramme zwar selten vollstĂ€ndig gelesen, aber ihre zentralen Inhalte verbreiten sich ĂŒber zahlreiche andere KanĂ€le. SchlieĂlich unterscheiden sich die Wahlprogramme der etablierten Parteien sehr wohl in ihrer Themensetzung und Positionierung. Parteien gelingt es also durchaus, die unterschiedlichen Adressaten und Funktionen der Programme zu vereinen. Der Versuch die eierlegende Wollmilchsau zu zĂŒchten, scheint den Parteien mit ihren Wahlprogrammen zu gelingen.
Literatur
Merz, Nicolas: âGaining Voice in the Mass Media: The Effect of Partiesâ Strategies on Party-Issue Linkages in Election News Coverageâ. In: Acta Politica, first online 15. November 2016. DOI: 10.1057/s41269-016-0026-9.
Merz, Nicolas/Regel, Sven/Lewandowski, Jirka: âThe Manifesto Corpus: A New Resource for Research on Political Parties and Quantitative Text Analysisâ. In: Research and Politics, 2016, April-June, pp. 1-8.Â
Merz, Nicolas/Regel, Sven: âDie Programmatik der Parteienâ. In: Oskar Niedermayer (Hg.): Handbuch Parteienforschung. Wiesbaden: Springer VS 2013, S. 211-238.
Thomson, Robert/Royed, Terry/Naurin, Elin: âExplaining the Fulfillment of Election Pledges: A Comparative Study on the Impact of Government Institutionsâ. 2016. Manuscript.
Volkens, Andrea/Merz, Nicolas: âVerschwinden die programmatischen Alternativen?â. In: Wolfgang Merkel (Hg.): Demokratie und Krise. Wiesbaden: Springer VS 2015.
Nicolas Merz ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Demokratie und Demokratisierung im âManifesto Research on Political Representation (MARPOR)â-Projekt der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Er forscht vor allem zu Parteienwettbewerb und Wahlkampfberichterstattung.
Sven Regel ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung Demokratie und Demokratisierung und arbeitet im DFG-Projekt âManifesto Research on Political Representation (MARPOR)â. Sein Interesse gilt insbesondere der vergleichenden Wahl- und Parteienforschung sowie der Parlamentarismusforschung.
Die BeitrÀge aus dieser Reihe sind in Àhnlicher Form bereits in den WZB Mitteilungen 156 im Juni 2017 erschienen.