Das katalanische Unabhängigkeitsreferendum war weder legal noch legitim, argumentieren Julian Brückner und Sascha Kneip. In diesem Beitrag gehen die Autoren der Frage nach, ob es sich bei dem Referendum für eine Unabhängigkeit von Spanien um einen Staatstreich handelt, wie die spanische Zentralregierung in Madrid behauptet, und ob ein solcher Coup überhaupt demokratisch sein kann.
Mit diesen denkwürdigen Worten erweiterte der katalanische Ministerpräsident Carles Puigdemont die seit dem arabischen Frühling florierende öffentliche und akademische Debatte über die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten eines „demokratischen Putsches“ (siehe z.B. Varol 2012 „The Democratic Coup d’État“ oder Brückner 2013 „Die Mär vom ‚demokratischen Putsch’ in Ägypten“ auf diesem Blog) um eine weitere interessante Facette. Seitdem er bei seiner Ansprache am 10. Oktober im katalanischen Parlament das Kunststück fertig brachte, die Unabhängigkeit Kataloniens von Spanien gleichzeitig zu erklären und nicht zu erklären, fragt sich die spanische wie die europäische Öffentlichkeit, was genau da in Katalonien eigentlich passiert ist. Strittig ist nicht zuletzt, welche Legitimität das Vorgehen der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung für sich beanspruchen kann – und ob es sich dabei tatsächlich, wie die spanische Zentralregierung behauptet, um einen Putsch bzw. einen Putschversuch handelt.
Tatsächlich fällt es im ersten Moment schwer, die katalanische Unabhängigkeitsbewegung als „Putschbewegung“ zu bezeichnen. Staatsstreiche waren in der langen Geschichte der Menschheit nicht nur, aber doch vor allem finsteren Militärs vorbehalten, die entweder eine Demokratie stürzen oder ein autokratisches Regime durch ein anderes ersetzen wollten. Für erstes stehen klassisch die Militärputsche in Chile 1973, jener in Griechenland 1967 oder kürzlich im Jahr 2013 in Thailand und Ägypten; für zweites stehen die unzähligen Staatsstreiche des Militärs im Lateinamerika des 20. Jahrhunderts, aber auch die vielen Putsche und Putschversuche auf dem afrikanischen Kontinent. Mit all diesen Vorstellungen eines Staatsstreichs hat das Vorgehen der katalanischen Separatisten auf den ersten Blick wenig gemein. Diese haben einerseits seit Jahren und Jahrzehnten versucht, auf demokratisch-rechtsstaatlichem Wege mehr Autonomierechte vom Zentralstaat zu erlangen, und andererseits stets glaubhaft machen können, dass es ihnen bei einer Abspaltung von Spanien nicht darum gehe, ein autokratisches Regime zu errichten. Stattdessen war und ist das proklamierte Ziel ein demokratisches, proeuropäisches Regierungssystem, das der demokratischen Selbstbestimmung der katalanischen Bevölkerung (bzw. besser: des katalanischen Volkes) freie Entfaltungsmöglichkeiten erlaubt, die sie im spanischen Zentralstaat vermeintlich nicht besitzen. Allerdings muss sich auch eine prodemokratische Sezessionsbewegung wie die katalanische vier Dinge fragen lassen: Erstens, ob ihr Vorgehen legal ist, zweitens, ob es legitim ist, drittens, ob bei Verneinung der ersten beiden Fragen der Vorwurf des Putsches gerechtfertigt ist – und viertens schließlich, ob ein solcher Putsch möglicherweise dadurch gerechtfertigt werden kann, dass es sich um einen „demokratischen Putsch“ handelt.
Legalität und Legitimität des Abspaltungsreferendums
Dass das Abspaltungsreferendum nach spanischem Recht illegal gewesen ist, steht außer Frage. Weder erlaubt die spanische Verfassung die Abspaltung einer Region vom Zentralstaat noch hat das spanische Verfassungsgericht ein solches Abspaltungsrecht – oder auch nur das Recht zu einer Volksabstimmung darüber – durch Verfassungsinterpretation etabliert. Im Gegenteil: Schon in seinem Präzedenzurteil zu ähnlich gelagerten Unabhängigkeitsbestrebungen im Baskenland im Jahr 2008 („Plan Ibarretxe“) erklärte das höchste spanische Gericht unmissverständlich, dass ein von den Regionen autonom einberufenes Referendum zur Abspaltung von Spanien verfassungswidrig ist (STC 103/2008 vom 11. September 2008). Ein solches könne erstens nur von der Zentralregierung als Vertreterin der spanischen Nation und des spanischen Volkes einberufen werden (Artikel 149 (1) Nr. 32 der spanischen Verfassung), und zweitens müsste eine solche Abstimmung gegebenenfalls in ganz Spanien – und nicht nur in der abspaltungswilligen Region – stattfinden. Diese Linie hat das Gericht seitdem in ständiger Rechtsprechung aufrechterhalten.
Aber auch die Volksabstimmung am 1. Oktober selbst hinterließ hinsichtlich ihrer demokratischen Legitimation einen mehr als faden Beigeschmack. Nicht nur, dass eine Mehrheit der Bürger Kataloniens eine solche Abstimmung gar nicht unterstützt hat, auch das Referendum selbst genügte kaum den Kriterien freier und fairer Wahlen bzw. Abstimmungen. Damit eine Abstimmung als frei und fair – und damit als in sich legitim – betrachtet werden kann (vgl. zum Folgenden z.B. Grotz/Hartmann/Behnke 2017), muss beispielsweise ein allgemeines und gleiches Wahlrecht implementiert sein, das durch ein Wahlgesetz normiert ist; es muss ein Wahlregister geben, mit dessen Hilfe die Gleichheit der Wahl sichergestellt wird und mit dem verhindert werden kann, dass Personen ihr Stimmrecht mehrmals ausüben; es muss eine Wahlbehörde geben, die über den ordnungsgemäßen Ablauf der Wahl wacht und die Wahlergebnisse erfasst und aggregiert; idealerweise sollte ein Mindestquorum für die Wahlbeteiligung festgelegt sein – gerade bei solch grundlegenden Fragen wie jener der Sezession –, das dem Wahlergebnis ein Mindestmaß an Legitimation verleiht; am Wahltag selbst zeichnet sich eine legitime Abstimmung dadurch aus, dass Wählerinnen und Wähler ihre Stimme frei abgeben können und nicht eingeschüchtert werden, die Stimmen transparent und zügig ausgezählt und dokumentiert werden und überdies die Möglichkeit zur Wahlbeschwerde besteht.
Glaubt man den Berichten aus Katalonien vom Tag der Wahl, erfüllte das Abstimmungsreferendum viele dieser internen Legitimitätskriterien nicht. Weder unterlag der Erfolg der Abstimmung einem bestimmten Teilnehmerquorum noch existierte eine unabhängige Wahlkommission; eine freie und gleiche Stimmabgabe war durch die Intervention der Zentralregierung und der ihre zugeordneten Polizeiorgane ebenfalls nicht gegeben; auf Mehrfachstimmabgabe wurde offenkundig nicht hinreichend kontrolliert, und auch die Auszählung und Aggregation der Stimmen erfolgte, in Ermangelung einer Wahlkommission, überaus intransparent. Auch wenn man einräumen muss, dass diese Mängel zu großen Teilen der Intervention durch die Zentralregierung geschuldet sind, kommt man nicht umhin, der Abstimmung neben der Legalität damit auch die Legitimität abzusprechen.
Verfassungsputsch in Katalonien?
Da es sich beim vorliegenden Abstimmungsreferendum also weder um ein legales noch um ein im Sinne freier und fairer Wahlen legitimes Vorgehen handelte, stellt sich die Frage, wie das Vorgehen der katalanischen Exekutive denn nun demokratietheoretisch und rechtlich zu bewerten ist. Handelt es sich tatsächlich, wie von der spanischen Zentralregierung behauptet, um einen ‚Verfassungsputsch‘? Sind wir in Katalonien Zeuge des vielleicht freundlichsten, demokratischsten und proeuropäischen Staatsstreiches der Geschichte geworden? Einem Staatsstreich mit menschlichem Antlitz sozusagen?
Nun, da ist vielleicht etwas dran. Definiert man einen ‚Staatsstreich‘ ganz allgemein als das ‚Beugen, Brechen oder Ersetzen grundlegender Regeln und Normen auf illegalem Weg durch staatliche Akteure‘, dann erfüllt das Vorgehen in Katalonien diese Definition ziemlich perfekt: Die Ausrufung der katalanischen Unabhängigkeit sollte auf einem von der spanischen Rechtsordnung nicht autorisierten Referendum beruhen, das seinerseits die Ersetzung der bestehenden (spanischen) Rechtsordnung durch eine neue (katalanische) zum Ziel hatte. Dass der Putsch in diesem Fall nicht vom üblichen Verdächtigen, dem Militär, ausgegangen ist, sondern von einer zweifelsfrei demokratisch gewählten Regierung, nimmt dem Vorgehen nichts von seiner Putschqualität.
Dass man als neutraler Beobachter der Vorgänge dennoch vorsichtig ist, diese tatsächlich als Putsch zu bezeichnen, hat zum einen damit zu tun, dass man generell wenig geneigt ist, einer Zentralregierung argumentativ beizuspringen, die sich ihrerseits im Konflikt wenig dialogbereit gezeigt hat und deren treibende Kräfte vor Jahren einen von allen beteiligten Parteien gefundenen Kompromiss mit Hilfe des Verfassungsgerichts zu Fall gebracht hat. Es hat zum anderen aber auch mit der schon erwähnten demokratischen und proeuropäischen Grundausrichtung dieses Putsches zu tun. Wenn wir also zu dem Schluss kommen, dass es sich bei den vorliegenden Unabhängigkeitsbestrebungen tatsächlich um einen (versuchten) Verfassungsputsch handelt, stellt sich gleichwohl die Frage, ob ein solcher durch seine prinzipiell demokratische Natur nicht doch legitimiert werden könnte. Mit anderen Worten: Lässt sich der Putschversuch vielleicht wenigstens dadurch rechtfertigen, dass es sich um einen „demokratischen Putsch“ gehandelt hat?
Zur Beantwortung dieser Frage sollte man sich zunächst vergegenwärtigen, was unter einem „demokratischen“ Putsch zu verstehen ist. Auf den ersten Blick scheinen die Konzepte ‚Putsch‘ und ‚Demokratie‘ wenig miteinander gemein zu haben: Während demokratische Politik auf regelbasierten, legalen und partizipativen Entscheidungsfindungsprozessen beruht, ist ein Putsch so ziemlich genau das Gegenteil davon. Es ist daher kein Zufall, dass Staatsstreiche unvermeidbar das Stigma der Illegitimität tragen, wie der britische Politikwissenschaftler David Beetham (2001) einmal feststellte. Allerdings argumentiert mittlerweile eine wachsende Literatur, dass Putsche, obwohl im Kern anti-demokratisch, in empirisch zunehmendem Maße sowohl dem Ziel der Demokratisierung dienen als auch demokratisierende Effekte haben können – und insofern anders zu beurteilen sind als die klassischen, autoritären Militärputsche. Powell und Thyne (2016) beispielsweise zeigen empirisch, dass Coups mitunter tatsächlich demokratisierende Wirkung entfalten können; Marinov und Goemans (2014) sehen für die Jahre 1991 bis 2004 sogar in der Mehrzahl der Fälle Putschversuche am Werk, durch die Diktatoren ins Wanken und Demokratien auf den Weg gebracht wurden. So ging etwa in Mali der Einführung eines demokratischen Mehrparteiensystems mit freien und fairen Wahlen der Sturz des seit 1968 autokratisch regierenden Langzeitpräsidenten Moussa Traoré durch das Militär am 26. März 1991 voraus. Obwohl eines der ärmsten Länder der Welt, entwickelte sich Mali in der folgenden Dekade, für die meisten Beobachter völlig unerwartet, zur Vorzeigedemokratie Westafrikas – ein Trend, der jedoch nicht unumkehrbar ist, wie das erneute Eingreifen des Militärs am 21. März 2012 infolge der wachsenden islamistischen Bedrohung im Norden des Landes belegt. Trotz dieses Rückschlags gilt das Land heute nicht länger als Autokratie.
Nun kann man dem spanischen Premierminister Mariano Rajoy vieles vorwerfen – ein Diktator ist er sicherlich nicht. Könnten die katalanischen Sezessionisten ihren Putsch dennoch über potenzielle demokratisierende Effekte legitimieren?
Kurz gesagt: nein. Ein ‚demokratischer Coup‘ zeichnet sich durch zwei Dinge aus: Erstens muss er moralische Legitimität für sich beanspruchen können, und zweitens muss er tatsächlich demokratisierende Wirkung entfalten. Legitim kann ein Putsch nach dieser Lesart nur dann sein, wenn durch ihn fundamentale Menschenrechtsverletzungen beendet werden sollen oder wenn er auf die Demokratisierung des bestehenden Systems zielt. Beides ist in Katalonien nicht der Fall. Da Spanien bereits eine funktionierende liberale Demokratie ist, kann im vorliegenden Fall über das Demokratisierungsargument keine Legitimität hergestellt werden. Zwar lassen sich nach den Daten des Demokratiebarometers gerade in der Freiheitsdimension der spanischen Demokratie deutliche Qualitätsmängel entdecken, in den Dimensionen Gleichheit und Kontrolle schneidet das Land aber, verglichen mit den 30 besten OECD-Demokratien, sogar überdurchschnittlich gut ab. Auch, wenn auf den Straßen Barcelonas hin und wieder zu hören ist, das spanische Regierungssystem sei ‚genauso schlimm wie unter Franco‘, deckt sich dies mit objektiven Daten (natürlich) nicht. Überdies: Dass mit einer Abspaltung Kataloniens von Spanien überhaupt ein weiterer Demokratisierungsschub verbunden sein könnte, ist alles andere als ersichtlich. Im Gegenteil: Der Verdacht, dass die Unabhängigkeitsbewegung sich eher in Richtung einer ethno-nationalistischen ‚katalanischen Demokratie‘ hin orientiert, lässt die Aussichten auf eine Qualitätsverbesserung der Demokratie eher zweifelhaft erscheinen.
Wie steht es aber mit der Bekämpfung von fundamentalen Menschenrechtsverletzungen? Stellt nicht vielleicht das der katalanischen Bevölkerung durch den spanischen Nationalstaat vorenthaltene Selbstbestimmungsrecht eine fundamentale Menschenrechtsverletzung dar, die einen Putsch und eine Sezession rechtfertigen könnte? Auch hier sind Zweifel angebracht. Zwar erkennt das Völkerrecht das Selbstbestimmungsrecht der Völker als rechtlichen Grundsatz an, dem steht aber der Grundsatz der territorialen Integrität des Staates entgegen. Ein ‚Recht auf Sezession‘ ist nach herrschender Meinung erst dann gegeben, wenn eine ethnische Gruppe aufgrund ihrer Gruppeneigenschaft systematisch und fundamental von der Mehrheitsgesellschaft diskriminiert wird. Auch wenn das derzeitige Autonomiestatut Kataloniens hinter dem vor 10 Jahren vereinbarten (und dann vom Verfassungsgericht gekippten) Status zurückbleibt, wird man nicht ernsthaft behaupten können, dass der spanische Staat die katalanische Bevölkerung systematisch unterdrückt. Weitreichende Sprach-, Finanz- und Kompetenzrechte sprechen eine deutlich andere Sprache.
Und noch etwas anderes spricht dagegen, den katalanischen Sezessionsputsch als demokratischen Putsch zu interpretieren. Von einem solchen müsste man verlangen dürfen, dass, bevor es zum Putsch kommt, alle weniger weitreichenden Maßnahmen ausgeschöpft wurden. So sah etwa der Vordenker des politischen Liberalismus, John Locke (2017 [1689], Kap. XVIII § 203ff und Kap. XIX § 221ff) das Recht auf Widerstand zum Schutz von Leben, Freiheit oder Eigentum, das einen bewussten Verfassungsbruch der katalanischen Regionalregierung dennoch legitimieren könnte, stets an die Erfüllung zweier notwendiger Voraussetzungen gebunden. Um Chaos und Anarchie zu vermeiden, müsste nicht nur eine tatsächlich oder zumindest unmittelbar bevorstehende Verletzung fundamentaler Freiheitsrechte seitens der Zentralregierung in Madrid nachweisbar sein, vielmehr müssten zudem auch bereits alle legalen Mittel der Abhilfe ausgeschöpft sein. Da die spanische Demokratie Verhandlungen über das Autonomiestatut auf legalem Weg jedoch prinzipiell immer zulässt, spricht auch dies gegen eine Klassifizierung der Sezessionsbewegung als legitim und demokratisch. So verständlich die Frustration der handelnden Akteure in Katalonien ob der strikten Haltung der spanischen Zentralregierung auch sein mag – politische Unbeweglichkeit des Kontrahenten vermag illegalem und illegitimen Tun keine andere oder höhere Legitimität zu verschaffen.
Als Fazit lässt sich damit festhalten, dass das Vorgehen der katalanischen Regionalregierung tatsächlich die Kriterien eines Putsches erfüllt, allerdings nicht die eines demokratischen. Die spanische Zentralregierung hat damit Legalität und Legitimität auf ihrer Seite, wenn sie, wie nun angekündigt, über Artikel 155 der spanischen Verfassung Katalonien die Autonomierechte entzieht. Dass eben jene Zentralregierung selbst zur Eskalation des Konfliktes beigetragen hat, stellt eine besondere Pointe dar, steht aber auf einem anderen Blatt.