von Heiko Giebler und Wolfgang Merkel
Die Demokratietheorie ist sich einig, dass Freiheit und Gleichheit zentral für demokratische Ordnungen sind, schwankt aber in der Einschätzung des Verhältnisses dieser beiden Prinzipien. Gerade in der liberalen Theorie wird zu viel Gleichheit als schädlich für die Freiheit gedeutet. Die WZB Forscher Dr. Heiko Giebler und Prof. Dr. Wolfgang Merkel untersuchen, ob ein Zielkonflikt zwischen Freiheit und Gleichheit existiert. Mit Blick auf die Situation in mehr als 50 Demokratien kann empirisch gezeigt werden, dass in demokratischen Gesellschaften Freiheit und Gleichheit kaum miteinander in Konflikt geraten, sondern sich meist wechselseitig verstärken.
Freiheit und Gleichheit sind Kernprinzipien der liberalen Demokratie. Darüber herrscht weitgehend Einigkeit in der politischen Philosophie, der Demokratietheorie und der empirischen Demokratieforschung. Heftig umstritten sind aber die Bedeutung der beiden demokratischen Prinzipien und das Verhältnis, in dem sie zueinander stehen müssen, um eine gute politische Ordnung zu gewährleisten. Dieser Beitrag befasst sich mit der Frage, ob beide Prinzipien gleichzeitig maximiert werden können oder aber nur jeweils eines auf Kosten des anderen. Wir diskutieren zunächst den theoretischen Hintergrund dieser These. Anschließend betrachten wir Daten zur Messung von Freiheit und Gleichheit für mehr als 50 etablierte und junge Demokratien über einen Zeitraum von 20 Jahren. So können wir empirisch überprüfen, ob es tatsächlich einen Zielkonflikt zwischen Freiheit und Gleichheit gibt – oder ob sich die beiden Prinzipien im Gegenteil sogar wechselseitig verstärken.
Das berühmte Buch „Über die Demokratie in Amerika“, verfasst 1835 von Alexis de Tocqueville, ist wahrscheinlich die prominenteste Schrift, die von einem Zielkonflikt zwischen Freiheit und Gleichheit ausgeht. Tocqueville sieht ein grundlegendes Spannungsverhältnis zwischen Freiheit und Gleichheit im Allgemeinen und zwischen individueller Freiheit und Massendemokratie im Besonderen. Der unaufhörliche Vormarsch politischer und sozialer Gleichheit in den Demokratien birgt dem politischen Philosophen zufolge die Gefahr einer Tyrannei der Mehrheit. Das Problem insbesondere der amerikanischen Demokratie, die aber Europa den Spiegel vorhalte, ist für Tocqueville die unbegrenzte Macht der Mehrheit: Zu viel politische Gleichheit in Politik, Gesellschaft und Wirtschaft schwäche die institutionellen Garantien für die Rechte des Einzelnen und die Rechte von Minderheiten. Tocquevilles Argumentation beruht auf der Annahme, dass Individuen stets der Gleichheit den Vorzug geben. Dasselbe wird für die Makroebene der politischen Ordnung angenommen. Bei Gruppen und Individuen entfesselt die Demokratie den Kampf um mehr Gleichheit. Sie ermuntert die Bürger zu einem politischen Eintreten für die Egalisierung von Macht, Eigentum und Status – immer auf Kosten der Freiheit. Aus diesem Grund müsse, so Tocqueville, jede demokratische politische Ordnung über institutionalisierte Kontrollen zum Schutz der Freiheit verfügen, um eine Tyrannei der gleichheitsgetriebenen Mehrheit zu verhindern.
Schon vor Tocqueville hat Jean-Jacques Rousseau in seiner Schrift „Vom Gesellschaftsvertrag“ aus dem Jahr 1762 eine andere gedankliche Perspektive entwickelt. Sie bildet in der klassischen politischen Philosophie den Gegenpol zur These eines Zielkonflikts von Freiheit und Gleichheit. Wichtig für unsere Zwecke ist vor allem Rousseaus Argument, dass Menschen nur frei sein können, wenn sie politisch gleich bleiben. Politische Gleichheit wiederum kann nur erreicht werden, wenn die soziale Ungleichheit so klein wie möglich gehalten wird. Im „Naturzustand“ seien die Menschen prinzipiell frei und gleich, doch der Fortgang der Zivilisation und die aus dem Privateigentum resultierende Ungleichheit habe beides zerstört: erst die Gleichheit, dann die Freiheit. Rousseau unterscheidet zwei Arten der Gleichheit: politische Gleichheit in Form von direkter Demokratie unter Beteiligung aller Bürger und sozioökonomische Gleichheit, die durch das Privateigentum bedroht ist.
Um die Pole einer Unvereinbarkeit von maximaler Gleichheit bei maximaler Demokratie sowie deren Negation haben sich in Philosophie, Wirtschaft und Politik eigenständige Denkschulen, wenn nicht ideologische Lager, gebildet, die bis heute einflussreich sind. Wir bestreiten nicht, dass individuelle Freiheit unabhängig von ihrer Beziehung zur Gleichheit für sich selbst einen hohen Wert darstellt. Auch erkennen wir an, dass Verfechter des Egalitarismus die Gleichheit als Wert an sich für so bedeutsam halten mögen, dass sie dafür, falls nötig, mit einem Weniger an Freiheit bezahlen würden. Diese anhaltende normative Debatte zwischen Anhängern des Egalitarismus und des Libertarismus kann nicht entschieden werden – nicht hier und wahrscheinlich auch grundsätzlich nicht. Was wir aber tun können, ist zu untersuchen, ob die weitverbreitete „Tocqueville’sche Befürchtung“ eines Zielkonflikts sich in heutigen Demokratien überhaupt empirisch belegen lässt. Gibt es möglicherweise Belege für einen positiven Zusammenhang zwischen Freiheit und Gleichheit, wie dies beispielsweise der Nobelpreisträger und Ökonom Amartya Sen postuliert? Anders ausgedrückt: Ist es möglich – oder vielleicht sogar nötig –, dass beide Prinzipien in ein und demselben demokratischen System realisiert sind und sich wechselseitig stützen? Weiter gefragt: Was passiert, wenn wir zwischen politischer und sozioökonomischer Gleichheit unterscheiden? Der Zielkonflikt ließe sich dann genauer definieren: Es gäbe zwar einen negativen Zusammenhang zwischen sozioökonomischer Gleichheit und Freiheit, aber keinen oder sogar einen positiven Zusammenhang zwischen politischer Gleichheit und Freiheit. Dies ist in der philosophierenden Ökonomie eine populäre These. Insbesondere die sozioökonomische Gleichheit bedränge die politische Freiheit, so die weitverbreitete These der Ökonomen Friedrich August von Hayek und Milton Friedman oder des Philosophen Robert Nozick.
Wir sind nicht darauf aus, Kausalbeziehungen zwischen Freiheit und Gleichheit zu bestimmen. Obwohl sich in der Literatur heroische Thesen und kühne Untersuchungen dazu finden lassen, haben wir uns für einen bescheideneren Ansatz entschieden. Mit unserer Arbeit wollen wir Muster identifizieren, also den Zusammenhang der beiden Prinzipien in real existierenden Demokratien messen. Dies ist als erster Schritt zur Überprüfung normativer Behauptungen gedacht und will damit auch eine Brücke über die Kluft zwischen politischer Philosophie und empirischer Demokratieforschung schlagen.
Zur empirischen Überprüfung der Frage, ob ein Zielkonflikt zwischen Freiheit und Gleichheit vorliegt, verwenden wir Daten aus zwei Quellen: Das Demokratiebarometer bietet Informationen zur politischen Freiheit und politischen Gleichheit im Zeitverlauf für eine große Anzahl von Ländern. Zum Konzept der Freiheit zählen Eigentumsrechte und deren Schutz gegenüber dem Staat. Es umfasst damit individuelle Freiheiten wie körperliche Unversehrtheit sowie Religions-, Meinungs-, Informationsfreiheit und Freizügigkeit. Außerdem beinhaltet das Konzept der Freiheit das Recht zur Organisation und Bildung gesellschaftlicher Assoziationen sowie die Stärke der Zivilgesellschaft selbst. Gleichheit wird als politische Gleichheit verstanden; sozioökonomische Gleichheit zählt in der Anlage des Demokratiebarometers nicht zum Konzept der politischen Gleichheit. Der Leitgedanke ist, dass alle Bürger de facto und de jure gleichen Zugang zu politischer Macht und Beteiligung haben müssen. Da uns aber auch Unterschiede in der Beziehung von politischer und sozioökonomischer Gleichheit zu Freiheit interessieren, benötigen wir für unsere Untersuchung zusätzlich einen verlässlichen Indikator für sozioökonomische Gleichheit. Gut geeignet, wenn auch nicht immer unumstritten, ist ein Blick auf die Einkommensverteilung zur Beurteilung der sozioökonomischen Gleichheit. Zur Darstellung von Einkommensungleichheiten verwenden wir den Netto-Gini-Koeffizienten (berücksichtigt Steuern und Sozialtransfers) aus der Standardized World Income Inequality Database von Frederick Solt. Auf dieser Grundlage stehen uns für unsere Untersuchung jährliche Daten zu 54 Ländern für den Zeitraum (vor allem) von 1990 bis 2012 – insgesamt 1.141 Fälle (Länderjahre) zur Verfügung.
Wie hängen Freiheit und Gleichheit nun empirisch zusammen? Als ersten Schritt zeigt die linke Abbildung grafisch den Zusammenhang zwischen Freiheit (y-Achse) und politischer Gleichheit (x-Achse). Sie zeigt eindeutig einen positiven Zusammenhang zwischen Freiheit und Gleichheit: Ein hohes Maß an politischer Freiheit geht einher mit politischer Gleichheit und umgekehrt. Eine gleichzeitige Umsetzung der beiden demokratischen Kernprinzipien scheint folglich alles andere als unmöglich, sie erscheint geradezu geboten. Dieser quasi symmetrische Zusammenhang gilt durchgehend; das Muster ist bei niedrigen oder hohen Freiheits- und Gleichheitswerten weder stärker noch schwächer ausgeprägt.
Wir haben beide Abbildungen um eine gestrichelte Linie ergänzt. Diese Linie würde identische Werte auf beiden Achsen darstellen. Oberhalb und unterhalb der Linie sind die Fälle mehr oder weniger gleich verteilt – ein Indikator dafür, dass Freiheit sich im Mittel nahezu eins zu eins in politische Gleichheit übersetzen lässt und umgekehrt. Diese Befunde stärken die normativen Überlegungen, dass Freiheit und Gleichheit gleichermaßen Funktionsprinzipien von Demokratien sind, die sich wechselseitig stärken und nicht widersprechen.
Bei der sozioökonomischen Gleichheit gibt es einen negativen Zusammenhang zwischen Ungleichheit und Freiheit (Abbildung rechts). Ein höheres Maß an Freiheit ist verbunden mit einem geringeren Maß an sozioökonomischer Ungleichheit. Oder: Je geringer die sozioökonomische Ungleichheit, umso stärker ist die Freiheit ausgeprägt. Es zeigt sich somit substanziell derselbe Zusammenhang wie in der linken Abbildung. Die Verteilung der Fälle verläuft von links oben nach rechts unten, einfach weil hohe Gini-Koeffizienten für Gesellschaften mit weniger Gleichheit stehen. Auch hier verweisen die Daten auf eine Vereinbarkeit von Freiheit und Gleichheit und eben nicht auf Ausschließlichkeit, wie dies mit Verweis auf Tocqueville gerade von Anhängern Friedrich August von Hayeks immer wieder vorgebracht wird.
Die überwiegende Mehrheit der abgebildeten Fälle befindet sich unterhalb der gestrichelten Linie. Im Vergleich zur linken Abbildung sind damit tendenziell höhere Werte für politische Freiheit notwendig, um ebenso hohe Werte für Gleichheit zu finden. In der Zusammenschau der beiden Abbildungen wird deutlich, dass es keine Belege für einen Zielkonflikt, aber starke Belege für einen positiven Zusammenhang gibt. Gleichzeitig gibt es keinen eindeutigen Unterschied zwischen den beiden Arten der Gleichheit. Es muss also nicht zwischen politischer und wirtschaftlicher Gleichheit unterschieden werden, wenn es um den Zusammenhang mit politischer Freiheit geht.
Analog zu den obigen Abbildungen wurden in einer ausführlicheren Studie zwei komplexere statistische Modelle von uns getestet, da deskriptive Analysen nur begrenzt aussagefähig sind. Das erste Modell zeigt einen signifikanten Effekt der politischen Gleichheit auf die politische Freiheit, ähnlich dem in der Abbildung dargestellten. Allgemein ist mehr Gleichheit mit mehr Freiheit verbunden, selbst wenn im Test strengere Kriterien angelegt werden. Die These eines Zielkonflikts kann somit erneut verworfen werden. Das Modell zeigt allerdings auch erhebliche Variationen zwischen den einzelnen Ländern bezüglich der Wirkung politischer Gleichheit auf die Freiheit. Es existiert somit zwar kein allgemeiner Zielkonflikt, aber es gibt durchaus Ausnahmen von dieser Regel. Unser zweites Modell bestätigt jedoch insgesamt den deskriptiven Befund, dass sich auch die sozioökonomische Gleichheit positiv auf die politische Freiheit auswirkt.
Fassen wir all diese Ergebnisse zusammen, so finden wir keine Belege für einen negativen Zusammenhang zwischen Freiheit auf der einen Seite und den beiden Arten von Gleichheit auf der anderen. Die Zielkonflikt-These kann also prinzipiell verworfen werden. Unsere Ergebnisse widersprechen der traditionellen libertären Furcht vor einem Zielkonflikt zwischen Freiheit und Gleichheit – egal ob wir von politischer oder sozioökonomischer Gleichheit ausgehen. Nach unseren Erkenntnissen ist der Zusammenhang zwischen den beiden demokratischen Kernprinzipien der Freiheit und der Gleichheit einer der wechselseitigen Verstärkung. Wir deuten das als positives Zeichen: Gesellschaften und politische Ordnungen müssen sich nicht zwischen den beiden Prinzipien entscheiden. Sie können vielmehr die gleichzeitige Maximierung von Freiheit und Gleichheit anstreben. Das heißt selbstverständlich nicht, dass Vertreter der normativen Theorie oder der realen Politik nicht dem einen oder anderen Prinzip den Vorzug geben dürfen. Sie sollten aber gute Gründe vorbringen können. Wir möchten jedoch betonen, dass sich kein Argument in diesem Zusammenhang mehr auf die These berufen sollte, dass sich die beiden Prinzipien in modernen Demokratien gegenseitig ausschließen würden. Unsere Befunde weisen in eine andere Richtung. In Zeiten wachsender sozialer und ökonomischer Ungleichheit sind unsere Ergebnisse eher ein Warnsignal an die libertären Verfechter reiner Marktlehren. Nimmt die mit deregulierten Märkten verbundene wirtschaftliche Ungleichheit zu, dann laufen demokratische Gesellschaften auch Gefahr, dass die politische Freiheit erodiert. Ein grundlegendes Prinzip der Demokratie würde damit beschädigt.
Literatur
Bühlmann, Marc/Merkel, Wolfgang/Müller, Lisa/Giebler, Heiko/Weßels, Bernhard: „Demokratiebarometer. Ein neues Instrument zur Messung von Demokratiequalität“. In: Zeitschrift für Vergleichende Politikwissenschaft, 2012, Jahrgang 6, Supplement 1, S. 115-159.
Giebler, Heiko/Merkel, Wolfgang: „Freedom and Equality in Democracies: Is There a Trade-off?“ In: International Political Science Review, 2016, Jg. 37, H. 5, S. 594-605.
Merkel, Wolfgang/Kneip, Sascha (Hg.): Democracy and Crisis. Challenges in Turbulent Times. Cham: Springer International Publishing 2018.
Solt, Frederick: „Standardizing the World Income Inequality Database“. In: Social Science Quarterly, 2009, Jg. 90, H. 2, S. 231-242.
Heiko Giebler ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Demokratie und Demokratisierung und Leiter des Brückenprojekts „Gegen Oben, Gegen Andere: Quellen von Demokratiekritik, Immigrationskritik und Rechtspopulismus“.
Wolfgang Merkel ist Direktor der Abteilung Demokratie und Demokratisierung am WZB und Professor für Vergleichende Politikwissenschaft und Demokratieforschung an der Humboldt-Universität zu Berlin.
* Der vorliegende Artikel ist eine Vorabveröffentlichung und erscheint ebenfalls in der nächsten Ausgabe der WZB-Mitteilungen (Nr. 161). Das Heft wird Ende September veröffentlicht und kann unter Anderem frei und digital hier bezogen werden.