„Aufstehen“: Möglichkeiten und Grenzen eines gegenhegemonialen Projekts

von Seongcheol Kim

Vor drei Wochen war Sahra Wagenknecht auf einer WZB-Podiumsveranstaltung über die von ihr mitgegründete „Aufstehen“-Initiative zu Gast. Seongcheol Kim, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung „Demokratie und Demokratisierung“, nimmt die Gründung von „Aufstehen“ zum Anlass, um über das Verhältnis von Linkspopulismus und (radikaler) Demokratie sowie die strategischen Möglichkeitsspielräume für die neue Bewegung zu reflektieren. Dabei bezieht er sich auf linke wie rechte Mobilisierungsinstrumente in Frankreich und Ungarn, die in ihrer hegemoniepolitischen Stoßrichtung mögliche Referenzpunkte bilden.

Quelle: marchmeena29 / iStock / Getty Images Plus

„Wir wollen die Politik zurück zu den Menschen bringen. Und die Menschen zurück in die Politik“ – so heißt es fettgedruckt im Gründungsaufruf von „Aufstehen“. Damit legt die neue Initiative bereits den Finger auf das, was Margaret Canovan einst „das demokratische Paradox“ nannte: In einer Demokratie gibt es immer ein konstitutiv unüberbrückbares Gefälle zwischen „people“ und „politics“ – und das populistische Versprechen liegt in der Überwindung dieses Gefälles („taking politics to the people“). So entsteht der Populismus, so Canovan, als „Ideologie der Demokratie“, die an deren nie ultimativ einlösbares Versprechen erinnert – weil, um mit Lefort weiterzudenken, „die Macht“ in einer Demokratie nicht an einem Ort oder in einer Person verkörpert werden kann, ohne immer wieder aufgelöst zu werden.

Allerdings holt Canovan an dieser Stelle weiter aus und führt „das demokratische Paradox“ darauf zurück, dass die Inklusion von immer mehr Menschen, Forderungen und Geltungsansprüchen in den politischen Prozess das Gefälle zwischen ebendiesem Prozess und den zu repräsentierenden Menschen vergrößere („[T]he more successful that project of inclusion, the more crowded and congested the political arena, and the harder it is for any particular voter to have a clear picture of democracy“ (Canovan 2002, S. 43)). Die populistische Antwort besteht dann darin, die Blockade der Volkssouveränität auf diejenigen an der Macht zurückzuführen – „Ihr repräsentiert uns nicht! Echte Demokratie jetzt!“, so die Indignados –, was in rechten Varianten mit einer Verteufelung von Migranten und sonstigen Teilhabern am Prozess einhergeht, die angeblich unverdientermaßen von „der Macht“ gefördert und mit kollektiven Gütern ausgestattet werden.

Damit ist auch das strategische Umschaltspiel angesprochen, das die Initiator*innen der „Aufstehen“-Bewegung – und nicht nur sie – gerade versuchen. Vor etwa 30 Jahren plädierten Ernesto Laclau und Chantal Mouffe in ihrer Schrift zu „socialist strategy“ etwa für eine Radikalisierung der Demokratie durch die Ausweitung demokratischer Freiheits- und Gleichheitsansprüche auf immer mehr Subjektpositionen („feminism, anti-racism, the gay movement, etc.“ (Laclau/Mouffe, S. 132); in den letzten Jahren hingegen treten Mouffe (sowie Laclau bis zu seinem Tod) dafür ein, auf die populistische Verteidigung der Volkssouveränität gegen die Machthaber zu rekurrieren – und damit auf das nicht eingelöste Versprechen der Demokratie, das trotz aller Fortschritte im Bereich gesellschaftspolitischer Rechte mit verschärften Ungleichheiten und Oligarchisierungstendenzen einhergeht. In diesem Zusammenhang beziehen sich sowohl Mouffe als auch „Aufstehen“-Mitinitiatorin Sahra Wagenknecht gerne auf Nancy Frasers Theorie des „progressiven Neoliberalismus“, der reale Fortschritte wie die Ehe für alle mit einer asozialen und ungleichheitsfördernden Wirtschaftspolitik verknüpfe, woraufhin sich Rechtsaußenparteien als Verteidiger der verlorengegangen Volkssouveränität gegen den ökonomischen und den kulturellen Liberalismus positionieren würden. Ein linkspopulistischer Gegendiskurs in Anlehnung an Laclau und Mouffe versucht dagegen, die antagonistische Grenze zu verlagern: Die Volkssouveränität wird vom herrschenden ökonomischen Liberalismus bedroht, nicht von Einwanderung und Minderheitenrechten. Ein zugleich radikaldemokratischer Ansatz geht allerdings noch weiter und sagt: Die Rechte von Frauen, LGBT-Menschen, Migranten, Arbeitern, Rentnern u.v.m. gehören gleichermaßen zur Seite der Volkssouveränität und zum nicht eingelösten Versprechen der Demokratie, solange es Ausbeutung und Missachtung gibt. Die Frage für „Aufstehen“ wird sein, inwiefern es diesen radikaldemokratischen Spielraum innerhalb einer linkspopulistischen Strategie der Grenzverlagerung auch nutzt.

Ein Linkspopulismus „für alle Menschen“

In dieser Hinsicht unterscheiden sich der Gründungsaufruf von „Aufstehen“ – sowie die meisten Äußerungen Wagenknechts – allerdings wenig vom programmatischen Diskurs der Partei DIE LINKE. Dieser lässt sich seit der Gründung 2007 als ein humanistischer Linkspopulismus bezeichnen, der mit Slogans wie „Menschen vor Profite“, „Ein Schutzschirm für die Menschen“ (und nicht die Banken), „Für ein Europa der Menschen statt der Banken und Konzerne“ eine antagonistische Gegenüberstellung zwischen „den Menschen“ einerseits und mächtigen ökonomischen Interessen sowie „dem neoliberalen Konsens“ andererseits schafft.

Im Zuge des AfD-Aufstiegs ab 2015/16 hat die Parteiführung der LINKEN diese Strategie fortgeführt, indem sie für eine „soziale Offensive“ für „alle Menschen“ plädierte und insistierte, die Hauptkonfliktlinie in der Gesellschaft verlaufe „zwischen Oben und Unten und nicht zwischen Innen und Außen“. Im Bundestagswahlkampf konkurrierten zwei fundamental gegensätzliche Volkskonstruktionen miteinander: die AfD mit ihrem völkisch-reduktionistischen „Volk“, das sowohl in seiner Souveränität als auch in seiner ethnisch-kulturellen Essenz von den „Altparteien“ und der von diesen eingeleiteten „Völkerwanderung“ bedroht werde, und DIE LINKE mit ihrem Appell an „alle Menschen“, denen soziale Kollektivgüter zustehen und dennoch durch mächtige Interessen verwehrt würden. Damit zeigt sich abermals, dass sich die Konstruktion des Volkssubjekts grundsätzlich auf einem Kontinuum bewegt: zwischen dem Volk als angeblich (ethno-)national reduzierbarem Gemeinwesen und den universalen Ansprüchen auf Freiheit und Gleichheit, die durch die Volkssouveränität eingelöst werden sollen. Hier bleibt „das symbolische Dispositiv der Demokratie“ (Lefort 1992, S. 326) konstitutiv gespalten: Die Demokratie gilt „dem deutschen Volke“, aber mit dem Selbstverständnis, „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ – wie die Berliner Spitzenkandidatin Petra Pau zu Beginn jeder Wahlkampfrede betonte: „die Würde aller Menschen, nicht nur der Reichen und Schönen, nicht nur der Weißen und Deutschen“.

Vor diesem Hintergrund drehen sich die medial hochgetriebenen Differenzen zwischen Wagenknecht und Kipping/Riexinger um die Frage, ob sich die humanistisch-linkspopulistische Diskursstrategie auf eine Kritik an Merkels Flüchtlingspolitik ausdehnen lässt. Seit 2016 versucht Wagenknecht, eine solche Kritik mit Verweisen auf das Ausbleiben der dringend notwendigen „sozialen Offensive“ hierzulande, ungelöste (in Krieg und globalen Ungleichheiten begründeten) Fluchtursachen sowie die Menschenrechte der Flüchtlinge selber (die „tief frustriert“ und völlig inadäquat versorgt seien) zu begründen. Zugespitzt mündet diese Argumentationslinie in die Position, „‚Offene Grenzen für alle‘ ist weltfremd“ und verschärfe zudem soziale Problemlagen in den Empfänger- wie auch den Herkunftsländern – eine Position, die der programmatischen Beschlusslage der LINKEN tatsächlich widerspricht.

Allerdings deuten der „Aufstehen“-Aufruf sowie die Auftritte Wagenknechts seit der Gründung der Initiative darauf hin, dass es nicht darum geht, eine linke Anti-No-Border-Plattform zu gründen, sondern im Gegenteil darum, durch die Schaffung eines neuen Mobilisierungsterrains das Konfliktfeld – das derzeit von den Differenzen zwischen den Spitzen von „party in public office“ (Wagenknecht) und „party in national office“ (Kipping/Riexinger) überschattet wird – neu zu mischen.

Ein neues Mobilisierungsinstrument: Politik „für die Menschen“ – auch performativ

Das Alleinstellungsmerkmal oder auch der oft hinterfragte „Mehrwert“ von „Aufstehen“ liegt wohl nicht in etwaigen programmatischen Aussagen, sondern vielmehr in der Mobilisierungsform. Wagenknecht betont immer wieder, dass es nicht um die Gründung einer weiteren Partei geht, sondern um die Erzeugung von mehr Druck von links, als mit einer etablierten Linkspartei zu schaffen sei. Darin besteht die wohl wichtigste Ähnlichkeit mit Jean-Luc Mélenchon, der mit der Gründung der „France insoumise“ (FI) eine zweigleisige Strategie verfolgte: Einerseits blieb seine kleine Linkspartei (Partei de gauche, PG), seit 2008 mit den Kommunisten (PCF) verbündet, weiter bestehen; andererseits schuf er ein neues Instrument, das durch eine fluide, digitalisierte Struktur (Anmeldung und Partizipation im Internet statt bezahlter Mitgliedschaft) Mobilisierungseffekte entfalten und sich jenseits der etablierten Parteien positionieren konnte. So verkündete Mélenchon 2016 seine Präsidentschaftskandidatur für die FI beim traditionellen PCF-Pressefest mit der Aussage: „Ich bin ein Kandidat außerhalb der Parteien aber ich bin kein Kandidat gegen die Parteien, ich bin selber Mitglied einer Partei“. Im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen schaffte es Mélenchon, (nach langen innerparteilichen Auseinandersetzungen) die Unterstützung seines langjährigen Bündnispartners, des PCF, zu sichern und sich gleichzeitig auf großen Platzversammlungen als Volkstribun zu profilieren. Im Vergleich zu seiner Kandidatur für das Linksfront-Bündnis 2012 gelang es Mélenchon vor allem, die Sprecherposition zu wechseln: Die populistische Anrufung des „Volkes“ kam nicht mehr aus einem etablierten, mit einer wechselhaften Geschichte behafteten linken Parteiapparat heraus – „die Linksfront ist die Volksfront“, wie Mélenchon 2012 auf der Titelseite der PCF-Zeitung „L’humanité“ zitiert wurde –, sondern von „außerhalb der Parteien“, die mit dem System der „präsidentieller Monarchie“ so stark assoziiert sind .

Zwar besteht ein wichtiger Unterschied zu Frankreich in der Tatsache, dass „Aufstehen“ im deutschen Parteiensystem nicht bei Wahlen antreten könnte, indem es die bereits bestehenden Parteien einfach so übergeht. Was aber Wagenknecht ebenfalls treibt, ist nichts Geringeres als der Versuch, die Sprecherposition zu wechseln und damit dem Anspruch „taking politics to the people“ auch in der performativen Dimension gerecht zu werden, indem „die Menschen“ etwa durch die Pol.is-Plattform eigene Forderungen artikulieren und sich auf gemeinsame Positionen einigen können. Insofern bildet „Aufstehen“ einen gegenhegemonialen Versuch der Verlagerung antagonistischer Grenzen, aber auch (ganz im Gramscianischen Sinne) der Schaffung eines Mobilisierungsterrains, auf dem die in den Mittelpunkt gestellten Konfliktlinien performativ (re-)produziert und in einen neuen Gemeinschaftssinn herauskristallisiert werden können.

Einen kontraintuitiven Referenzpunkt in diesem Zusammenhang bildet Viktor Orbáns Mobilisierung von „Bürgerkreisen“ nach der Abwahl der Fidesz-Regierung bei den Parlamentswahlen 2002. Mit dem Knotenpunkt „bürgerliches Ungarn“ hatte Orbán den Fidesz-Diskurs seit den späten 90er Jahren organisiert und auch die Regierungsarbeit der Partei begleitet; da es allerdings für die nächsten vier Jahre keine Parlamentsmehrheit mehr gäbe, gehe es nun darum, so Orbán auf einer öffentlichen Versammlung im Mai 2002, „die Öffentlichkeit des bürgerlichen Ungarns zu organisieren“ und damit ein Terrain zu schaffen, auf dem die tagespolitische Agenda mit eigenen Themen besetzt werden könnte. So fungierten die sog. Bürgerkreise als außerinstitutionelle Mobilisierungsräume, in denen Menschen u.a. ihr gemeinsames Interesse an (obskuren) Aspekten der ungarischen Geschichte identitätsbildend ausleben konnten, aber auch Protestaktionen gegen die Regierung in gezielten Themenfeldern organisierten. Auch wenn man hier die zugrundeliegende Ablehnung der Legitimität der neuen Regierung ausdrücklich nicht unterschreibt – „die Heimat kann nicht in Opposition sein“, so Orbán in derselben Rede –, lässt sich kaum bestreiten, dass Hegemonie auch darin besteht, die „Macht der Vielheit“ performativ zu behaupten, indem die Vielen sich organisieren und den Anspruch erheben, für das Allgemeine zu sprechen.

Es ist kein Zufall, dass die Figur des „Kreises“ gerade bei solchen Mobilisierungen von Gegenmacht weit verbreitet ist – von Orbáns Bürgerkreisen bis hin zu den círculos bei Podemos. Neben dem Schlüsselaspekt der kollektiven Identitätsbildung ist damit eine zentrale Herausforderung angesprochen, mit der auch „Aufstehen“ umgehen muss: nämlich die Verknüpfung von „weak“ und „strong links“, von der anonymen Welt massenhafter Internet-Abstimmungen einerseits und der Schaffung von Räumen andererseits, in denen gemeinschaftliche Nähe gelebt und daraus auch zahlenmäßige Stärke sichtbar behauptet werden kann. Eine Bewegung, die den Namen verdient, muss das Mobilisierungsterrain irgendwann auch auf die Straße ausweiten. Nur so wird einer Bewegung das gelingen, was einer neuen Partei in den letzten zehn Jahren nach Wagenknechts Diagnose nicht gelungen ist.


Literatur

Canovan, Margaret (2002): Taking Politics to the People: Populism as the Ideology of Democracy. In: Mény, Yves/Saurel, Yves (Hrsg.): Democracies and the Populist Challenge. Basingstoke: Palgrave, S. 25-44.

Fraser, Nancy (2016): Progressive Neoliberalism versus Reactionary Populism: A Choice that Feminists Should Refuse. In: NORA – Nordic Journal of Feminist and Gender Research, Jg. 24, H. 4, S. 281-284.

Kim, Seongcheol (2018): “Populism and Anti-Populism in the 2017 Dutch, French, and German Elections: A Discourse and Hegemony Analytic Approach.” POPULISMUS Working Papers No. 8, hier S. 14ff.

Laclau, Ernesto/Mouffe, Chantal (2001 [1985]): Hegemony and Socialist Strategy: Towards a Radical Democratic Politics. London: Verso.

Lefort, Claude (1992): Écrire. À l’épreuve du politique. Paris: Calmann-Lévy.


Seongcheol Kim ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung „Demokratie und Demokratisierung“ am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). Seine Forschungsinteressen sind an der Schnittstelle zwischen Vergleichender Politikwissenschaft und Diskursforschung verortet und gelten insbesondere Populismus und radikaler Demokratie aus diskurs- und hegemonieanalytischer Perspektive.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert