Warum ein Paritätsgesetz die Demokratie stärkt*
Eine fraktionsübergreifende Initiative setzt sich für ein Geschlechterparitätsgesetz ein, um den Frauenanteil im Bundestag zu erhöhen. Einwänden, das Paritätsgesetz sei ein Eingriff in die Grundsätze der freien und gleichen Wahl, begegnet Vanessa Wintermantel, wissenschaftliche Mitarbeiterin der Abteilung „Demokratie und Demokratisierung“, in diesem Beitrag mit demokratietheoretischen Argumenten. Denn das Paritätsgesetz kann ein wichtiger Schritt sein, um struktureller Diskriminierung entgegenzuwirken und die durch die Parteien organisierte politische Willensbildung zu demokratisieren.
„Die Hälfte der Welt gehört den Frauen – und damit auch die Hälfte der Parlamentssitze“. Mit diesen Worten begründete Andrea Nahles in einem Interview im Februar den Vorstoß einer fraktionsübergreifenden Initiative von Parlamentarier*innen, die sich dafür einsetzt, den Frauenanteil im Bundestag per Gesetz zu erhöhen. Dieser ist mit knapp 31 Prozent gegenüber der letzten Legislaturperiode sogar gesunken. Paritätsgesetze, wie sie etwa in Frankreich oder Tunesien bereits existieren, verpflichten Parteien dazu, abwechselnd männliche und weibliche Kandidat*innen auf ihre Wahllisten zu nominieren. Diesem Prinzip folgt auch das Paritätsgesetz, das der Brandenburger Landtag im Januar verabschiedet hat. Die Gleichstellung von Frauen und Männern ist in der Verfassung vorgeschrieben – und damit keineswegs der inhaltlichen Ausrichtung oder freiwilligen Verpflichtung einzelner Parteien oder der Präferenz der Wahlberechtigten überlassen. Grund genug, sich mit der vehement geführten Auseinandersetzung über ein Paritätsgesetz aus demokratietheoretischer Perspektive zu befassen.
Einige Verfassungsrechtler*innen halten den Vorschlag eines Paritätsgesetzes für unvereinbar mit dem Grundgesetz: Es schränke erstens das freie Wahlvorschlagsrecht ein. Zweitens sei das Paritätsgesetz ein Eingriff in die Wahlgleichheit, da nicht mehr alle Parteimitglieder die gleichen Chancen auf einen aussichtsreichen Listenplatz hätten. Drittens schränke es die Parteienautonomie ein, da es das inhaltliche Profil und die Unabhängigkeit einer Partei beeinflusse.
Gelten die Grundsätze der freien und gleichen Wahl für alle gleichermaßen?
Diese Auffassung unterstellt, dass die Chancen auf günstige Listenplätze, Ämter und Führungspositionen heute – ohne das Gesetz – bereits für alle gleich sind. Von diesem Ideal ist die Bundesrepublik jedoch weit entfernt: Tradierte Parteistrukturen und Rekrutierungsmaßnahmen, stereotype Rollenzuschreibungen, die Frauen den größten Anteil an Haus-, Familien- und Sorgearbeit aufbürden, organisatorische Bedingungen wie abendliche Sitzungen und informelle „Männerbünde“ erschweren Frauen bis heute nicht nur den Zugang zu politischen Führungsämtern, sondern bereits den Einstieg in die Parteienpolitik. Diese diskriminierenden Strukturen sind so tief in Konventionen und Traditionen verankert, dass die Andersbehandlung von Frauen häufig sogar den Betroffenen natürlich vorkommt.
Entgegen manchen Einwänden würde das Paritätsgesetz keine neue Ungleichbehandlung auf Grund des Geschlechts erschaffen, sondern einer bestehenden entgegenwirken – und zwar der Privilegierung männlicher Kandidaten. Immer noch wird Männern grundsätzlich eine größere Sachverständigkeit unterstellt. Sicheres Auftreten wird ihnen als Führungsstärke und nicht als Herrschsucht ausgelegt. Niemand fragt sie, wie sie es schaffen, ihr politisches Amt mit der Familie zu vereinbaren oder ob sie sich ein Amt wirklich zutrauen. Männer sind niemandes Mädchen und niemandes Mutti. Sie sind in ihrem Amt, weil sie es drauf haben und nicht, wegen ihrer schönen Beine. Niemand findet ihre Stimme oder ihr Auftreten zu laut, zu schrill, zu burschikos oder zu unscheinbar.
Dieser strukturelle gender bias sorgt dafür, dass Frauen und Männer nicht unter den gleichen Bedingungen für Ämter ins Rennen gehen. Das Paritätsgesetz würde einen wichtigen Beitrag dazu leisten, die alten Strukturen zu durchbrechen. Weit davon entfernt, die Grundsätze der freien und gleichen Wahl zu verletzen, könnte es gewährleisten, dass diese wichtigen Wahlrechtsgrundsätze künftig auch uneingeschränkt für Frauen gelten.
Mehr Frauen für eine empathischere Politik?
Gegner*innen des Paritätsgesetzes beschreiben es häufig als falsch verstandene Identitätspolitik. Sie kritisieren, dass es Frauen auf ihre weiblichen Geschlechtsmerkmale reduziere. Dabei teilen nicht alle Frauen bestimmte Eigenschaften wie Empathie oder Risikobewusstsein, die sie von allen Männern unterscheiden. Solche geschlechterstereotypen Zuschreibungen sind gefährlich, da sie diskriminierende Vorurteile reproduzieren und verfestigen. Denn gerade auf Grund der Rollen und Eigenschaften, die die Gesellschaft Frauen seit Jahrhunderten zuschreibt, haben sie bis heute schlechtere Chancen auf eine Karriere in der Politik – oder sonst wo. Nicht die romantisierenden Vorstellungen weiblicher Eigenschaften begründen die Notwendigkeit eines Paritätsgesetzes, sondern die Tatsache, dass Frauen als Hälfte der Gesellschaft zu gleichen Teilen an politischen Entscheidungen beteiligt werden müssen.
Dass drei der wichtigsten Parteipositionen in Deutschland bis vor kurzem von Frauen besetzt waren, ist übrigens kein Grund zur Entwarnung. Angela Merkel, Annegret Kramp-Karrenbauer und Andrea Nahles müssen und mussten eine unverhältnismäßige öffentliche Infragestellung ihrer politischen und persönlichen Kompetenzen in Kauf nehmen. Und der Blick in die zweite Reihe zeigt, dass sie noch immer Ausnahmen sind. Volle Gleichberechtigung der Geschlechter ist heute in Deutschland ebenso wenig erreicht wie die postrassistische Gesellschaft in den USA – trotz der Präsidentschaft Barack Obamas.
Auch manche Frauen lehnen frauenfördernde Maßnahmen wie das Paritätsgesetz ab, da sie befürchten, dass sie als „Quotenfrau“ belächelt werden könnten. Dabei ist es heute häufig noch so, dass Frauen erheblich besser qualifiziert sein müssen, um objektiv weniger kompetente männliche Konkurrenten auszustechen. Dieser Ungleichbehandlung würde das Paritätsgesetz ein Ende setzen. Niemand möchte sich vorwerfen lassen, auf Grund einer Quote gewählt worden zu sein – aber noch viel weniger sollte qualifizierten Frauen mangels einer Quote der Weg ins Amt verwehrt werden.
Die Politik der Präsenz bestimmt die Politik der Ideen
Da sich die Lebenswirklichkeiten von Frauen und Männern auch heute noch maßgeblich unterscheiden, kann demokratische Repräsentation nur gewährleistet werden, wenn Frauen dieselben Chancen haben, ihre Anliegen in den politischen Entscheidungsprozess einzubringen. Es geht nicht darum, eine etwa von der Repräsentationstheoretikerin Hanna Pitkin geringgeschätzte „deskriptive Repräsentation“ zu erreichen, bei der die rein äußerlichen Eigenschaften der Bevölkerung im Parlament bestmöglich gespiegelt werden müssten. Vielmehr muss sichergestellt werden, dass politisch bedeutsame Unterschiede repräsentiert werden und benachteiligte Gruppen so ihre Interessen gleichermaßen in den demokratischen Entscheidungsprozess einbringen können. Das Geschlecht eines Menschen ist kein rein äußerliches Merkmal, sondern hat durch die daran gekoppelte Andersbehandlung eine politische Dimension. Wie Anne Philips überzeugend darlegte, bestimmt die Politik der Präsenz maßgeblich, welche Ideen in der politischen Arena verhandelt werden. Welche Ideen das sind, lasse sich im Voraus allerdings nicht bestimmen: Das Interesse jeder benachteiligten Gruppe sei zunächst das inter-esse, das Dabeisein und Mitbestimmen.
Solange sich die Lebenswirklichkeiten der Menschen nach Geschlecht unterscheiden, ist die paritätische Repräsentation von Frauen ein wichtiger Maßstab zur Bewertung der Qualität einer Demokratie. Sicherlich kann auch ein Mann eine frauenfördernde Politik vertreten, ebenso wie sich westdeutsche Abgeordnete für ostdeutsche Interessen oder Besserverdiener*innen für die Belange der sozial Benachteiligten einsetzen können. Auch kann eine Frau durchaus eine antiemanzipatorische Politik vertreten. Die Unterrepräsentation einer benachteiligten Gruppe und die daraus resultierende unverhältnismäßige Homogenität unter den Repräsentierenden führen jedoch dazu, dass die Auswirkungen eines politischen Vorhabens auf sie nicht mitgedacht werden.
Versuche, die Benachteiligung sichtbar zu machen, müssen unter diesen Umständen scheitern. Die Interessen der Benachteiligten können entweder gar nicht erst vorgebracht werden oder haben geringe Chancen, eine Mehrheit zu finden. Es ist ein Teufelskreis: Je schlechter eine benachteiligte Gruppe im politischen Prozess vertreten ist, desto unwahrscheinlicher ist es, dass die Anliegen und Interessen, die sich aus ihrer schlechter gestellten Position ergeben, proportional vertreten werden. Aktuelle Forschung geht davon aus, dass es einer critical mass an Frauen bedarf, damit sich ihre Präsenz in substantielle Repräsentation übersetzt. Die paritätische Repräsentation von Frauen muss also gesetzlich garantiert werden, weil das Fortbestehen ihrer Diskriminierung eine Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes darstellt.
Werden Männer durch das Paritätsgesetz diskriminiert?
Einige Kritiker*innen befürchten, dass das Paritätsgesetz Männer diskriminieren könnte, da durch seine Einführung manch qualifizierter Mann schlechtere Chancen auf einen aussichtsreichen Listenplatz hätte. Durchaus kann sich Gleichberechtigung aus einer privilegierten Position heraus wie Diskriminierung anfühlen. Aber dieses Gefühl kann nicht die Grundlage für das Fortbestehen der faktischen Benachteiligung von Frauen sein. Das Paritätsgesetz hat zum Ziel, jede Diskriminierung auf Grund des Geschlechts zu bekämpfen. Würde eine Partei versuchen, wesentlich mehr Frauen auf ihre Wahlliste zu nominieren, würde das Paritätsgesetz auch diesem Ungleichgewicht entgegenwirken und die paritätische Repräsentation von Männern erhalten.
Ein ernstzunehmender Einwand gegen das Paritätsgesetz ist, dass es das Konstrukt binärer Geschlechteridentitäten verfestige und somit Menschen, die sich weder dem weiblichen noch dem männlichen Geschlecht zugehörig fühlen, benachteilige. Dieser Einwand markiert drei wichtige Einsichten: Erstens weist er zu Recht darauf hin, dass jede Kategorisierung nicht nur Gewinner*innen und Verlierer*innen schafft, sondern auch Marginalisierte, die durch jedes Raster fallen und somit unsichtbar werden. Zweitens verdeutlicht er, dass gesellschaftliche Identitätszuschreibungen diskriminierend sein können – vor allem, wenn sie von den Betroffenen als unzutreffend empfunden werden. Drittens unterstreicht er, dass Frauen nicht die einzige soziale Gruppe sind, die gesellschaftlich benachteiligt und in politischen Ämtern unterrepräsentiert sind. Schlecht vertreten in der Politik sind auch Menschen, die sich jenseits der Kategorien Mann und Frau verorten, junge Menschen und solche mit Behinderung oder geringer Bildung, Ostdeutsche, Armutsgefährdete, Menschen mit eigener oder familiärer Migrationsgeschichte, LGBTIQ – und vor allem Menschen, auf die mehrere dieser Merkmale zutreffen. Diese Einsichten zeigen, dass das Gesetz zur Geschlechterparität nur ein erster Schritt auf dem langen Weg der umfassenden Demokratisierung der politischen Repräsentation sein kann. Denn das Prinzip der Gleichheit erfordert eine angemessen Vertretung aller benachteiligten sozialen Gruppen.
Der Bundestag muss repräsentativer werden
Diese Erkenntnis liefert allerdings den Gegner*innen des Paritätsgesetzes ein weiteres Argument: Sie warnen, dass seine Einführung der Zerstückelung des Parlaments durch komplexe Quotierungen die Tür öffnen könnte, dass also demnächst alle möglichen Gruppen eine eigene Quotenregelung einfordern könnten: Menschen mit Rassismuserfahrung, Armutsgefährdete und Unter-30-Jährige, aber auch Hobby-Jäger*innen, Bankangestellte oder Reichsbürger*innen. Wie könnte entschieden werden, welche sozialen Gruppen politisch relevant sind, und wie müssten die Gruppen zugeschnitten sein, um allen gerecht zu werden? Entscheidend ist dafür, inwiefern die Zugehörigkeit zu einer Gruppe die Grundlage für eine andauernde gesellschaftliche Benachteiligung darstellt. Nun ist die politische Bedeutung verschiedener Gruppenzugehörigkeiten wandelbar: Vielleicht wird das Merkmal Geschlecht im Laufe der Zeit an politischer Bedeutung verlieren, anderen Gruppenzugehörigkeiten könnte dafür eine größere politische Wichtigkeit zukommen. Um vor dem Hintergrund dieser Kontingenz gleiche Teilhabe für alle zu garantieren, müsste das Recht auf angemessene Repräsentation für benachteiligte Gruppen grundsätzlich verfassungsrechtlich gestärkt werden. Als selbstreflexives System ist die Demokratie verpflichtet, immer wieder zu hinterfragen, wen sie entgegen ihren eigenen Grundsätzen benachteiligt oder gar ausschließt. Das ist kompliziert, unbequem und lästig – aber genau das bedeutet Demokratie.
Literatur
Blome, Agnes/Fuchs, Gesine: Macht und substantielle Repräsentation von Frauen. In: Femina Politica, 1-2017, S. 55-69.
Phillips, Anne (1995): The Politics of Presence. Oxford: Oxford University Press.
Pitkin, Hanna Fenichel (1967): The Concept of Representation. Berkeley/ Los Angeles/ London: University of California Press.
Young, Iris Marion (1990): Justice and the Politics of Difference. Princeton: Princeton University Press.
Vanessa Wintermantel ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Abteilung Demokratie und Demokratisierung und Doktorandin an der Humboldt-Universität zu Berlin. In ihrer Dissertation beschäftigt sie sich mit der demokratischen Legitimität verschiedener Arten von Grenzen.
*Dieser Beitrag erscheint auch im Juniheft der WZB-Mitteilungen: https://www.wzb.eu/de/publikationen/wzb-mitteilungen