von Bernhard Weßels und Wolfgang Schröder
Wir leben in einer gesundheitlichen Notsituation. Diese darf allerdings nicht Anlass für eine politische Ausnahmesituation werden, in der die Rechte der Verfassungsorgane beschnitten werden. Im Gegenteil: Der Rede von der „Stunde der Exekutive“ muss die Forderung nach einer „Stunde der Legislative“ entgegengestellt werden. Denn die in einer solchen Krisensituation geforderten gesellschaftlichen Einschränkungen mit all ihren Konsequenzen für Freiheits- und Partizipationsrechte müssen demokratisch so eingebettet werden, dass der Notstand nicht zur Alltäglichkeit wird. Reichweite und Zeithorizonte müssen klar abgesteckt sein.
Der Bundestag billigte am 25. März eine bis zum 30. September 2020 gültige Änderung der Geschäftsordnung: Das Parlament ist auch dann beschlussfähig, wenn gerade mehr als ein Viertel seiner Mitglieder im Sitzungssaal anwesend sind – bisher musste es mehr als die Hälfte sein. Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble geht in einem Brief an alle Fraktionschefs noch weiter: Er plädiert für einen Notausschuss des Bundestags, der analog zur grundgesetzlichen Notstandslage im Verteidigungsfall aus 48 Repräsentanten von Bundestag und Bundesrat bestehen soll. Dafür wäre eine Verfassungsänderung nötig.
Der Berliner Verfassungsjurist Christoph Möllers warnt allerdings davor, dass Bundestag und Landesparlamente jetzt „Strukturen schaffen, mit denen sie sich selbst ersetzen“. Vielmehr sollten die Abgeordneten die Corona-Krise als technisches Problem begreifen, um handlungsfähig zu bleiben.
Wie kann die aktuelle Notsituation in eine demokratische Entscheidungsarena eingebettet werden? Werfen wir einen Blick in die New York Stock Exchange, deren Broker Milliarden bewegen. Zurzeit lassen sie das Parkett leer und bewältigen den Handel vom Homeoffice aus. Warum ist dies für Bundestags- und Landtagsabgeordnete nicht möglich? Ja, die Sicherheitsstandards. Aber wenn es eine Börse schafft, wo es um hohe Transaktionsrisiken geht, dann sollte es der Politik erst recht gelingen.
Die neue Geschäftsordnung des Bundestags erlaubt gleichzeitig eine „Verzwergung“ und eine Digitalisierung des Parlaments. Übrigens erlauben die Ausschüsse des Bundestags bereits jetzt eine Beschlussfähigkeit, die dann gegeben ist, wenn mehr als ein Viertel der Ausschussmitglieder an der Sitzung teilnehmen „oder über elektronische Kommunikationsmittel zugeschaltet sind“. Und: Bei öffentlichen Ausschussberatungen und Anhörungen kann der Öffentlichkeit der Zugang ausschließlich durch elektronische Übermittlungswege gewährt werden.
Politik braucht in normalen Zeiten die Anwesenheit und den persönlichen Kontakt. Durch die Routinen der Politik werden Vertrauen und Verlässlichkeit aufgebaut, die in Zeiten der Not als kulturelles Kapital genutzt werden können. So bleibt Deliberation auch in der Krise möglich. Warum nicht konsequent auf Digitalisierung setzen, anstatt einen politischen Notstand zu kreieren? Unserer Meinung nach wäre es geboten, eine technische Infrastruktur zu schaffen, in der es den Abgeordneten möglich wird, in Ausschüssen und im Plenum nach den gewohnten, und nicht nach Notstandsregeln zu operieren und dabei zwar nicht die physische, wohl aber die virtuelle Anwesenheit aufrechtzuerhalten. Es geht um die Selbstbestimmung der freien Abgeordneten und um die Selbstbestimmung der Gesellschaft. Die Öffentlichkeit könnte eingeschaltet bleiben und virtuell stattfindende Plenumsdebatten genauso beobachten wie solche, die tatsächlich im Plenum stattfinden. Für öffentliche Ausschusssitzungen und öffentliche Anhörungen müsste es keine „Kann“-Bestimmung, sondern eine „Soll“-Bestimmung sein, den Zugang über elektronische Übermittlungswege zu gewährleisten.
Das ist kein Plädoyer für virtuelle Parlamentssitzungen als Regel, wohl aber das Plädoyer, begründete Ausnahmen zuzulassen. Im Europäischen Parlament ist das schon Praxis, und sechs seiner Ausschüsse nutzen bereits seit 2014 den elektronischen Weg als normalen Modus Operandi. Das Konzept heißt E-Parlament und vereint die Grundsätze der Mobilität, Konnektivität und Interoperabilität für den gesamten Gesetzgebungszyklus. Der ehemalige Generaldirektor für Innovation und technologischen Support der Europäischen Union, Giancarlo Vilella, hat das Konzept 2019 in seinem Buch „E-Democracy“ ausgeführt. Warum sollte das in Deutschland nicht gehen?
Die „Selbstverzwergung“ der Verfassungsorgane ist jedenfalls der falsche Weg. Es muss genau in die entgegengesetzte Richtung gehen: Demokratische Präsenzverfahren müssen durch digitale Kommunikationsformen ergänzt werden. Digitalisierung wird so zum Mittel, in der Krise handlungsfähig zu bleiben, und zum Instrument, um parlamentarische Kompetenz und Selbstbestimmung nachhaltig zu verstärken – auch für die Zeit nach der Krise.
Bernhard Weßels (rechts) ist Kommissarischer Direktor der WZB-Abteilung Demokratie und Demokratisierung. Wolfgang Schroeder, Professor an der Universität Kassel, ist Fellow in dieser Abteilung.
Der Beitrag ist zuerst in der WZB-Serie “Corona und die Folgen” erschienen. In diesem Format beschäftigen sich WZB-Forscher*innen regelmäßig mit der Corona-Pandemie aus sozialwissenschaftlicher Perspektive.