von Wolfgang Merkel
Eigentlich schien die Sache lĂ€ngst geregelt. Als 1989 das Sowjetimperium zusammenbrach, verkĂŒndete Francis Fukuyama das Ende der Geschichte, die in der Idee der Vernunft zu sich selbst gekommen sei. Der Sieger hieĂ Liberalismus. Er sei als Ordnungsprinzip nun ohne Alternative (sic). Doch schon 15 Jahre spĂ€ter wurde die Spekulation durch die WeltlĂ€ufte entzaubert. Der Kapitalismus hatte sich zwar global durchgesetzt, auch waren die Demokratien zahlreicher geworden, doch selten in liberal-rechtsstaatlichen Varianten. Alte Diktaturen wie China stiegen zur Weltmacht auf. Russland und die TĂŒrkei wurden Autokratien. In SĂŒdkorea und Taiwan etablierten sich neue Demokratien, Singapur konsolidierte sein semi-autoritĂ€res Regime, und Hongkong rĂŒckte in die Grauzone von Autokratie und Demokratie. Der Wettlauf der Systeme war wieder offen.
COVID-19 hat die Welt infiziert. Wir erleben vermutlich die erste wirklich globale Krise. Sie nahm in China ihren Ausgang, breitete sich rasch in NachbarlĂ€ndern und in Europa aus, wanderte in die USA und nach Lateinamerika. Aus Afrika, SĂŒd- oder Zentralasien haben wir kaum Informationen; dort verhindert die schwache oder autokratische Staatlichkeit, dass getestet oder gemeldet wird. Anfang April 2020 meldete die World Health Organization (WHO) Infektionen in 181 (von ca. 200) LĂ€ndern. Unter den âgesundenâ Staaten figurierten bezeichnenderweise totalitĂ€re Staaten wie Nordkorea, Turkmenistan, Usbekistan oder die Mikrostaaten Ozeaniens. Erstere unterdrĂŒcken Informationen, erfinden Erfolgsmeldungen oder âverbietenâ das Virus, letztere testen kaum.
Auch den Zahlen aus China kann man nur bedingt Glauben schenken. Wir wissen jedoch, dass die Volksrepublik gegen die Epidemie mit rĂŒcksichtsloser Effizienz vorging. Die Elf-Millionen-Stadt Wuhan wurde abgeriegelt, KlinikkapazitĂ€ten wurden in Rekordzeit und unter fragwĂŒrdigen Arbeitsbedingungen ausgeweitet. Die dort eingesetzten Zwangsinstrumente stehen demokratischen Systemen nicht zur VerfĂŒgung. Zwar sind auch die statistischen Daten von Demokratien nur bedingt valide; zu unterschiedlich sind âsamplingâ, âtestingâ und âreportingâ. Dennoch verfĂŒgen wir jenseits der problematischen Datenlage ĂŒber Variablen, die uns die Effizienz und LegitimitĂ€t staatlichen Handelns einschĂ€tzen lassen. Sie kommen von Theorien aus der Regime-, Transformations- und Staatsinterventionsforschung und sind auch fĂŒr die Analyse der PandemiebekĂ€mpfung bedeutsam.
An dieser Stelle will ich sechs Variablen nennen, die ĂŒber Erfolg und Misserfolg entscheiden. Sie sind den Teilsystemen Staat, Gesellschaft und Gesundheitssystem zuzuordnen: Regimecharakter (demokratisch vs. autokratisch); StaatskapazitĂ€t (hoch vs. niedrig); StaatsfĂŒhrung (klug vs. unklug); Staatslernen aus vorherigen Epidemien (offen vs. geschlossen) â die âStaatsvariablenâ. Aber Staatshandeln bedarf der Folgebereitschaft der Gesellschaft. Hier können wir grob zwischen individualistischen und kollektiven Gesellschaften unterscheiden. Das dritte Teilsystem, die Gesundheitsversorgung, kann man in gut finanzierte öffentliche, unterfinanzierte und stark privatisierte Systeme unterteilen.
Bei der PandemiebekĂ€mpfung lassen sich prima facie keine Erfolgsunterschiede zwischen Demokratien und Autokratien erkennen. China (autokratisch) scheint erfolgreich zu sein, die USA (demokratisch) ein Desaster; Singapur (autoritĂ€r) und SĂŒdkorea (demokratisch) handeln hoch effizient. Italien und Spanien verzeichnen hohe Opferzahlen, Schweden und Deutschland haben die Krise bisher gut bewĂ€ltigt. Alle vier LĂ€nder sind gut funktionierende Demokratien; Deutschlands Strategien sind denen Spaniens und Italiens verwandter als im ebenfalls âerfolgreichenâ Schweden.
Wichtiger als der Regimecharakter ist der Grad der Staatlichkeit. StaatskapazitĂ€t, Staatswille, Staatslernen und Staatshandeln sind entscheidend fĂŒr den Erfolg. Der Erfolg des Staatshandelns ist aber von der Gesellschaft abhĂ€ngig, die den staatlichen Entscheidungen folgen muss. Diese Folgebereitschaft lĂ€sst sich unterschiedlich herstellen: in Autokratien mit offener harter Repression gegenĂŒber Untertanen, in Demokratien mit guten Argumenten gegenĂŒber BĂŒrgern. Aber auch in den entwickelten Demokratien unterscheiden sich Gesellschaften. Den individualisierten Gesellschaften des Westens stehen in ostasiatischen LĂ€ndern kollektiv orientierte konfuzianische Gesellschaften gegenĂŒber. Letztere haben eine hohe gesellschaftliche KohĂ€sion; das Allgemein- und Familienwohl steht ĂŒber dem Individuum. Der Westen ist heterogener. Die am Gemeinwohl orientierten skandinavischen Gesellschaften weisen eine höhere soziale KohĂ€sion auf als die hyperindividualisierte Gesellschaft der USA. Je höher die soziale KohĂ€sion, umso besser kommt ein Land durch die Krise.
Das dritte System, das der medizinischen Versorgung, tut ein Ăbriges. Ist es öffentlich und gut finanziert wie in Skandinavien und Deutschland, sind die BehandlungskapazitĂ€ten umfangreich und egalitĂ€r. Es sterben weniger Menschen; das Virus trĂ€gt keinen Klassencharakter. Ist die Gesundheitsversorgung stark privatisiert und der öffentliche Teil grotesk unterfinanziert wie in den USA, sterben mehr Infizierte; zuerst die Armen, nicht selten Afroamerikaner. Die Krise offenbart: Das Gesundheitssystem ist in Demokratien ein Gradmesser fĂŒr die Menschlichkeit einer Gesellschaft.
Die politikwissenschaftliche Forschung kann anhand idealtypischer sozio-politischer Konfigurationen einschĂ€tzen, wie gut oder schlecht LĂ€nder aus der Pandemie kommen. Geringe Staatlichkeit, ein fragmentiertes und polarisiertes politisches Entscheidungssystem, eine hyperindividualisierte Gesellschaft und ein unterfinanziertes öffentliches Gesundheitssystem sind idealtypische Konfigurationen des Misserfolgs. Diesem Strukturtyp kommen die USA sehr nahe. Ein wesentlicher Faktor bleibt dabei noch unberĂŒcksichtigt: Leadership. Da fehlen einem allerdings bei der gegenwĂ€rtigen FĂŒhrung der demokratischen Vormacht des Westens die Worte â wieder einmal.
Prof. Dr. Wolfgang Merkel war Direktor der Abteilung Demokratie und Demokratisierung und ist aktuell Professor Emeritus am Wissenschaftszentrum Berlin fĂŒr Sozialfoschung und der Humboldt UniversitĂ€t Berlin.
Der Beitrag ist zuerst in der WZB-Serie “Corona und die Folgen” erschienen. In diesem Format beschĂ€ftigen sich WZB-Forscher*innen Wochen regelmĂ€Ăig mit der Corona-Pandemie aus sozialwissenschaftlicher Perspektive.