Wie „normal“ ist die AfD?
von Lisa Zehnter und Leonie Schwichtenberg
2013, im Jahr ihrer Gründung, trat die AfD zum ersten Mal bei einer Bundestagswahl an. Als sie dann vier Jahre später den Sprung in den Bundestag schaffte, löste das ein Beben auf der politischen Bühne aus. 2021 hat sie sich dort etabliert. Während die Kernforderung der AfD 2013 primär in der Ablehnung der Europäischen Union bestand, verbreiterte sich das Themenspektrum zur Wahl 2017. Statt anti-europäischen Forderungen dominierten immigrationsablehnende Haltungen das Wahlprogramm, womit sie als erste rechtspopulistische Partei in den Bundestag einzog. Doch wofür steht die AfD heute? In diesem Artikel analysieren wir (Lisa Zehnter und Leonie Schwichtenberg vom Manifesto-Projekt des WZB) die Kernthemen der AfD in ihrem Wahlprogramm zur Bundestagswahl 2021 und ordnen die Positionen ein. Dieser Beitrag dient als Auftakt der Manifesto Monday Serie, in welcher ab August jeden Montag ein Artikel zu einem Wahlprogramm erscheint.
Dieser Beitrag ist Teil einer Serie zu den Wahlprogrammen der deutschen Parteien zur Bundestagswahl am 26. September 2021. Ab dem 2. August erscheint immer montags (dem sogenannten Manifesto Monday) ein Beitrag zu jeweils einem Wahlprogramm. Als Staffelfinale ist für Mitte September ein längerer Beitrag geplant, der alle Wahlprogramme vergleicht und in Kontext setzt. Die Daten dazu erheben wir im Rahmen des Manifesto-Projekts aus der Abteilung Demokratie & Demokratisierung am WZB. Detailliertere Informationen zu Projekt und Methodik lassen sich sowohl auf unserer Webseite als auch in einem Überblicksblogartikel finden. Im Zuge der Kodierung des Manifesto-Projekts bewerten wir für jede Aussage in den Wahlprogrammen, welches politische Ziel eine Partei verfolgt. Insgesamt unterscheiden wir dabei 76 unterschiedliche politische Ziele, von Umweltschutz und Wohlfahrtsstaatsausbau über freie Marktwirtschaft, Demokratie und Menschenrechte. Nach dem Motto „die Jüngste“ beginnt, starten wir die Serie mit dem Wahlprogramm der Alternative für Deutschland (AfD).
Der Parlamentseinzug der Alternative für Deutschland nach den letzten Bundestagswahlen stellte in doppelter Hinsicht ein Novum dar: Erstmals seit 1953 waren nach der Wahl im September 2017 wieder sieben Parteien (bzw. sechs Fraktionen aufgrund der Fraktionsgemeinschaft von CDU/CSU) im Parlament vertreten. Darüber hinaus ist die AfD die erste rechtspopulistische Partei, welche die Fünf-Prozent-Hürde überspringen konnte und damit auf Bundesebene vertreten ist. Während die Partei diese Hürde im Jahr ihrer Gründung 2013 mit 4,6% noch knapp verpasste, wurde die AfD 2017 mit 12,6 % der Stimmen drittstärkste Kraft und damit größte Oppositionspartei im Deutschen Bundestag. Obwohl die AfD seit 2014 in allen Landesparlamenten vertreten ist und in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen sogar die zweitstärkste Fraktion stellt, haben die anderen Parteien eine Regierungszusammenarbeit mit der rechtspopulistischen Partei bisher ausgeschlossen (sogenannter cordon sanitaire). Als Spitzenkandidat:innen für den Bundestagswahlkampf 2021 wurden die Fraktionsvorsitzende Alice Weidel sowie der Bundessprecher Tino Chrupalla gewählt. Beide sind dem rechten Lager zuzurechnen und werden auch vom – offiziell aufgelösten – rechtsextremen „Flügel“, unterstützt. Das Wahlprogramm der AfD zur Bundestagswahl 2021 wurde auf dem Bundesparteitag in Dresden im April diesen Jahres beschlossen und im Mai veröffentlicht.
Die AfD im deutschen Parteienspektrum
Klassischerweise können Parteien auf einer Links-Rechts-Achse eingeordnet werden. Eine Möglichkeit die Links-Rechts-Position der Parteien zu bestimmen, ergibt sich aus der relativen Häufigkeit von linken und rechten Themen in ihren Wahlprogrammen. Allerdings wird auch immer häufiger diskutiert, dass die eindimensionale Verortung der Parteien auf der klassischen sozio-ökonomischen Links-Rechts-Achse die Wirklichkeit des Parteienwettbewerbs nicht ausreichend wiedergibt. Vielmehr spielen sozio-kulturelle Themen eine immer größere Rolle für die Wahlentscheidung der Wähler:innen. Entsprechend lässt die Positionierung in einem zweidimensionalen Raum (Abbildung 1), der beide genannten Konfliktdimensionen umfasst, einen differenzierteren Blick zu.
Die sozio-ökonomische Dimension beschreibt das Verhältnis von Markt und Staat, wobei sich eine rechte Positionierung durch die Forderung nach weniger Eingriffen des Staates in die freie Marktwirtschaft, weniger Staatsschulden und Abbau des Wohlfahrtsstaates auszeichnet. Als sozio-ökonomisch links beschreibt man dagegen Positionen, die Marktregulierungen, Schutz der Verbraucher:innen und Ausbau des Wohlfahrtsstaates fordern. Die sozio-kulturelle Konfliktlinie spiegelt gesellschaftspolitische Pole wider: konservativ-autoritär und liberal-progressiv. Die rechte Position, konservativ-autoritär, zeichnet sich durch nationalstaatliches und patriotisches Denken, konservative Moralvorstellungen und Multikulturalismus ablehnende Haltungen aus. Die liberal-progressive Position beinhaltet positive Referenzen auf Demokratie, Freiheit, Menschen- sowie Bürgerrechte, die Unterstützung von Multikulturalismus, progressive Moralvorstellungen und die Ablehnung nationalstaatlichen Denkens.
Abbildung 1 zeigt die Positionen aller 2017 in den Bundestag eingezogenen Parteien auf Basis ihrer Wahlprogramme aus dem 2017er Wahlkampf. Für die AfD zeigt die Grafik zusätzlich, wie sich die Position von 2017 nach 2021 verschoben hat. 2017 lag die Position der Linken auf beiden Achsen am weitesten links. Etwas weiter rechts auf der sozio-ökonomischen Achse positionierten sich die Grünen und die SPD. Auf der sozio-kulturellen Achse positionierte sich die SPD jedoch deutlich weniger progressiv-liberal als sowohl Grüne als auch Linke. Die Union war 2017 als eher konservativ-autoritär einzuordnen und sozio-ökonomisch rechter als SPD und Grüne, aber linker als die FDP, die auf der sozio-ökonomischen Dimension die rechteste Position von allen Parteien einnahm. Vor vier Jahren stach die AfD vor allem durch ihre auffallend rechte Position auf der sozio-kulturellen Achse heraus. Um die Positionsveränderung der AfD auf beiden Achsen im Vergleich zu 2017 zu beschreiben, beleuchtet dieser Artikel im Detail, welche Themen 2021 das Wahlprogramm der AfD dominieren.
Die Kernthemen der AfD in 2021: Traditionelle Werte und freie Marktwirtschaft
Die Alternative für Deutschland betont in dieser Wahl am häufigsten folgende Kernthemen (Abbildung 2): Traditionelle Werte, freie Marktwirtschaft, Anti-EU, Freiheitsrechte und Förderung nationaler Lebensweise. Traditionelle Werte bedeutet im Fall der AfD Familie als zentraler Wert („Die AfD bekennt sich zur Familie als Keimzelle unserer Gesellschaft.“, S. 102), Ablehnung von Schwangerschaftsabbrüchen („Ungeborene Kinder haben ein Recht auf Leben.“, S. 108) und ein heteronormatives Verständnis von Geschlecht und Geschlechterrollen („Statt Gleichstellungsbeauftragten wollen wir Familienbeauftragte, die familienfreundliche Entscheidungen sicherstellen und somit die aktivierende Familienpolitik unterstützen.“, S. 106). Priorisierung von freier Marktwirtschaft beinhaltet die Unterstützung des ungehinderten Wettbewerbs („Generationsübergreifender Werterhalt zum Nutzen von uns allen wird seit Jahrzehnten durch sozialistische Gleichheitsvorstellungen und klassenkämpferische Neidgefühle verhindert.“, S. 34), Ablehnung von Vermögens- und Erbschaftssteuer und die Förderung von Eigentum. Eine Anti-EU Positionierung zeigt sich in der Haltung, dass nationales Recht über Europäischem Recht stehen sollte und in der Ablehnung des Euros. Darüber hinaus schreibt die AfD: „Wir halten einen Austritt Deutschlands aus der Europäischen Union und die Gründung einer neuen europäischen Wirtschafts- und Interessengemeinschaft für notwendig.“ (S. 26). Freiheitsrechte beinhaltet die Freiheit der einzelnen Person gegenüber Eingriffen des Staates und, angelehnt an aktuelle Debatten, die Opposition zu „Politischer Korrektheit“ und „Cancel Culture“ („Diffuse Vorstellungen von „politischer Korrektheit“ ersticken die öffentliche Diskussion durch Sprach- und Denkverbote.“, S. 162). Die Kategorie „Förderung nationaler Lebensweise“ beschreibt positive Referenzen zu Patriotismus und Nationalismus sowie Stolz auf deutsche Werte, Eigenschaften und Errungenschaften: „Als zentrales Element deutscher Identität will die AfD die deutsche Sprache als Staatssprache im Grundgesetz festschreiben.“ (S. 157)
Immigration hat zwar an Bedeutung verloren, aber die AfD bleibt rechts
Der Vergleich zur Bundestagswahl 2017 offenbart, dass viele Kernthemen der AfD dieselben geblieben sind. So waren auch bei der Wahl 2017 traditionelle Werte, Anti-EU und Freiheitsrechte unter den meistgenannten Themen. Die größte Veränderung zeigt sich bei den Themen Immigrationsbeschränkung und freie Marktwirtschaft. Immigrationsbeschränkung war 2017 noch das relevanteste Thema des Wahlprogramms, während es 2021 nicht mehr unter den Top-Fünf-Themen liegt. Freie Marktwirtschaft dagegen wird 2021, im Vergleich zu 2017, beinahe doppelt so häufig als Ziel genannt.
Auf der sozio-ökonomischen Achse (Abbildung 3b) ist die Position der AfD 2021 im Vergleich zu 2017 wieder rechter geworden. Damit nähert sich die Partei wieder ihrer ökonomischen Position von 2013 an. Auf der sozio-kulturellen Konfliktdimension (Abbildung 3a) vertrat die AfD 2013 noch eine liberal-progressive Position. 2017 veränderte die Position sich dramatisch zu konservativ-autoritär. Auch 2021 nimmt die AfD weiterhin eine klare sozio-kulturell rechte Position ein. Wie sich die Positionen der AfD im Vergleich zu den anderen Parteien einordnen lässt, werden die Analysen der anderen Wahlprogramme in den nächsten Wochen zeigen.
Nicht genug Normalität für eine Regierungsbeteiligung
Das Wahlprogramm der Alternative für Deutschland ist nicht so „normal“, wie es der Titel vorgeben möchte. Denn die Positionen der Partei liegen nicht in der Mitte des politischen Spektrums, sondern auf beiden Achsen deutlich rechts der Mitte, auf der sozio-kulturellen Achse sogar am rechten Rand. Da sich die rechte Position in Bezug auf sozio-kulturelle Themen aus dem starken Fokus auf traditionelle Werte und die nationale Lebensweise erklärt, hätte die AfD ihr Programm dementsprechend eher „Deutschland. Aber traditionell und deutsch“ nennen können. Die Betonung des freien Marktes und die Ablehnung der EU führt insgesamt zwar nicht zu einer vergleichbar radikalen sozio-ökonomischen Position. Dennoch ist eine Regierungsbeteiligung der AfD nach der Wahl auszuschließen – dafür ist die Partei nicht „normal“ genug.
Die Autorinnen
Lisa Zehnter ist Research Fellow im Manifesto-Projekt in der Abteilung Demokratie & Demokratisierung am WZB und Doktorandin an der Humboldt-Universität zu Berlin. Ihre Forschungsinteressen sind Populismus, politische Kommunikation und quantitative Textanalyse.
Leonie Schwichtenberg ist studentische Hilfskraft im Manifesto-Projekt in der Abteilung Demokratie & Demokratisierung am WZB und studiert den Masterstudiengang Sociology: European Societies an der Freien Universität Berlin.
In der nächsten Woche folgt dann die Analyse des Bundestagswahlprogramms einer Partei, die an den letzten beiden Regierungen als Juniorpartnerin beteiligt war – der SPD.
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