Alles âneuâ bei der Union nach Merkel?
von Marvin MĂŒller und Tobias Burst
Quo vadis Union? Nach vier Amtszeiten tritt Bundeskanzlerin Angela Merkel 2021 nicht erneut zur Wahl an und zwingt die Union somit zur personellen Neuaufstellung. Nachdem der derzeitige MinisterprĂ€sident des Landes Nordrhein-Westfalen Armin Laschet die Wahl um den Vorsitz der CDU im Januar des Jahres gewann, konnte er auch die intensiv gefĂŒhrte Auseinandersetzung um die âK-Frageâ mit dem Vorsitzenden der bayrischen Schwester-Partei CSU, Markus Söder, fĂŒr sich entscheiden. Gleichzeitig bringt sich in der CDU, mit prominenten Politikern wie Friedrich Merz oder Jens Spahn, eine neue FĂŒhrungsriege in Stellung. Diese hatte in der Vergangenheit immer wieder Unzufriedenheit ĂŒber die politische Ausrichtung der Union unter Angela Merkel geĂ€uĂert. Die Zeichen stehen also klar auf Wandel. Doch spiegeln sich diese personellen VerĂ€nderungen in der FĂŒhrung von CDU/CSU auch in einem programmatischen Neuanfang wider? Um diese Frage zu klĂ€ren haben wir (Tobias Burst und Marvin MĂŒller vom Manifesto-Projekt des WZB) das Wahlprogramm der Union analysiert. Wir arbeiten mit den Hauptanliegen der Partei und klopfen sie auf Unterschiede zu ihren Positionen im 2017er Wahlprogramm ab.

Dieser Beitrag ist Teil einer Serie zu den Wahlprogrammen der deutschen Parteien zur Bundestagswahl am 26. September 2021. Ab dem 2. August erscheint immer montags (dem sogenannten Manifesto Monday) ein Beitrag zu jeweils einem Wahlprogramm. Als Staffelfinale ist fĂŒr Mitte September ein lĂ€ngerer Beitrag geplant, der alle Wahlprogramme vergleicht und in Kontext setzt. Die Daten dazu erheben wir im Rahmen des Manifesto-Projekts aus der Abteilung Demokratie & Demokratisierung am WZB. Detailliertere Information zu Projekt und Methodik lassen sich sowohl auf unserer Webseite als auch in einem Ăberblicksblogartikel auffinden. Im Rahmen der Kodierung des Manifesto-Projekts bewerten wir fĂŒr jede Aussage in den Wahlprogrammen, welches politische Ziel eine Partei verfolgt. Insgesamt unterscheiden wir dabei 76 unterschiedliche politische Ziele, von Umweltschutz und Wohlfahrtsstaatsausbau ĂŒber freie Marktwirtschaft, Demokratie und Menschenrechte. Der heutige Beitrag stellt das Wahlprogramm der Union vor.
CDU/CSU in der aktuellen deutschen Parteienlandschaft â Konservativ und etwas marktliberal
Nach 16 Jahren als Bundeskanzlerin tritt Angela Merkel 2021 nicht erneut zur Wahl an. Wie sehr wird sich die Union dadurch politisch verĂ€ndern? Zumindest auf den ersten Blick scheint das Wahlprogramm von CDU/CSU die Erwartung deutlicher VerĂ€nderungen zu bestĂ€tigen. Bereits im Titel (âProgramm fĂŒr StabilitĂ€t und Erneuerung. Gemeinsam fĂŒr ein modernes Deutschlandâ) und in der Einleitung (âModernisierungsjahrzehntâ (S. 4)) werden Fortschritt und Wandel als prominente Leitthemen des Programms angekĂŒndigt. Was der FDP ihr dringliches âNieâ zu Beginn jedes thematischen Abschnitts war (FDP-Blogartikel), ist der Union ihr progressives âNeuâ, mit dem jede KapitelĂŒberschrift eingeleitet wird (âNeue WeltpolitikfĂ€higkeitâ, âNeues Aufstiegsversprechenâ, âNeue LebensqualitĂ€tâ usw.). Um herauszufinden, ob die politische Ausrichtung der Union in 2021 tatsĂ€chlich passender mit Erneuerung oder doch mit StabilitĂ€t betitelt ist, haben Marvin MĂŒller und Tobias Burst das 140-seitige Dokument im Detail mittels der Methodik des Manifesto-Projekts analysiert.
FĂŒr eine erste Einordnung der CDU/CSU im deutschen Parteienspektrum werden ihre Positionen bei der Bundestagswahl 2021 auf der sozio-kulturellen und der sozio-ökonomischen Konfliktlinien betrachtet und mit der eigenen Position sowie den Standpunkten der anderen Parteien im vorherigen Wahljahr 2017 verglichen (Abbildung 1).[1] Gemeinsam mit der AfD befindet sich die Union hier im oberen rechten Quadranten, da sie sich in einem höheren MaĂe gesellschaftlich konservativ positioniert als andere Parteien und weniger starke Eingriffe des Staates in die Wirtschaft fordert. Auf der sozio-kulturellen Konfliktdimension liegen CDU/CSU zwischen der deutlich konservativ-autoritĂ€ren Positionen der AfD und der mittigen Haltung der SPD. Seit der letzten Bundestagswahl 2017 hat sich ihre Position nur sehr leicht verĂ€ndert und ist minimal progressiver geworden. Eine etwas deutlichere programmatische Verschiebung zeigt sich auf der sozio-ökonomischen Konfliktdimension. WĂ€hrend die Union 2017 noch eine fast mittige Positionierung eingenommen hat, hat sich diese zugunsten einer zurĂŒckhaltenderen Rolle des Staates verĂ€ndert. In ihrer grundlegenden wirtschaftspolitischen Ausrichtung ist sie 2021 auf Ă€hnlichem Niveau wie die AfD 2017 zu verorten, nur die FDP vertritt auf dieser Konfliktdimension eine noch marktliberalere Haltung.

Die politische Entwicklung von CDU/CSU â Abkehr vom vermeintlichen âLinkskursâ?
Wie lĂ€sst sich diese aktuelle politische Verortung der Union im gröĂeren zeitlichen Kontext einordnen? Der scheidenden Bundeskanzlerin Angela Merkel wurde innerhalb und auĂerhalb ihrer Partei im Laufe ihrer Amtszeit immer wieder vorgeworfen, die Union auf einen âLinkskursâ zu fĂŒhren. Die Daten des Manifesto-Projekts stĂŒtzen diese Behauptung, allerdings nicht uneingeschrĂ€nkt: Auf der sozio-kulturellen Konfliktdimension ist zwar eine deutliche Linksbewegung von 1994 bis 2005 festzustellen, seitdem ist die Position der CDU/CSU allerdings auf Ă€hnlichem Niveau geblieben (Abbildung 2a). AuĂerdem ist die Union selbst mit ihrer sozio-kulturell âlinkerenâ Position zwischen 2005 bis heute immer noch, mit Ausnahme der AfD, inhaltlich die mit Abstand konservativste deutsche Partei. Daran Ă€ndert sich auch am Wahlprogramm 2021 unter Armin Laschet nichts, denn durch die nur leichte Verschiebung in die liberal-progressive Richtung liegt das Wahlprogramm wieder nahezu auf dem gleichen Wert, auf dem sich die Union bereits 2005 eingependelt hatte.
Die Entwicklungen im sozio-ökonomischen Bereich von 2005 bis 2017 lassen sich dagegen treffender als Verschiebung nach links charakterisieren (Abbildung 2b). Obwohl die Position der Union hier in den letzten 30 Jahren stĂ€rker von Wahl zu Wahl geschwankt hat als auf der sozio-kulturellen Dimension, ist seit 2005 ein klarer Trend von einer marktwirtschaftlichen zu einer mittigen Position zwischen dem marktwirtschaftlichen und wohlfahrtstaatlichen Polen erkennbar. Die Post-Merkel Union im Jahr 2021 scheint diese Bewegung nun wieder umzukehren und tritt nach den Erfahrungen der Corona-Pandemie mit einer neuen Vorstellung der Rolle des Staates an: âWir brauchen auch einen Neustart im VerhĂ€ltnis zwischen Staat und BĂŒrger. Der Staat muss sich nach der Pandemie wieder deutlich zurĂŒckziehen und den BĂŒrgerinnen und BĂŒrgern sowie den Unternehmen mehr Freiraum lassenâ (S. 4). Die CDU/CSU zieht damit aus den letzten Jahren Ă€hnliche Schlussfolgerungen wie die anderen beiden Parteien, die klassisch der rechten sozio-ökonomischen Konfliktdimension zuzuordnen sind: AfD und FDP sprechen sich 2021 ebenfalls fĂŒr eine begrenztere Rolle des Staates aus als noch 2017. Der bisherige Koalitionspartner SPD sieht hingehen ein Mehr an staatlichem Handeln im Anschluss an die Krise fĂŒr geboten. Festhalten lassen sich also einerseits ein unverĂ€ndertes sozio-kulturelles Profil, das verglichen mit den 90er Jahren gemĂ€Ăigter, aber immer noch klassisch konservativ ist, und eine Entwicklung hin zu einer etwas stĂ€rkeren Betonung von MarktliberalitĂ€t andererseits.

Kernthemen der Union: Viel StabilitÀt, etwas Erneuerung
Ein genauerer Blick auf die bestimmenden Politikfelder des aktuellen Wahlprogramms zeigt vor allem KontinuitĂ€t. Unter den Top-Themen gibt es viele Bereiche, auf die die Union bereits in der Vergangenheit groĂen Wert gelegt hat (Abbildung 3). An der Spitze der wichtigsten Themen liegt 2021, wie schon 2017, Technologie & Infrastruktur. Ganze 11% des gesamten Wahlprogramms beziehen sich auf diesen Themenkomplex. Damit ist dieses Thema noch prĂ€senter als 2017. Entscheidend dazu trĂ€gt bei, dass die Union, passend zum ausgerufenen Modernisierungsjahrzehnt, der Förderung von Innovationen ein gesamtes Kapitel ihres Wahlprogramms widmet. Nahezu konstant bleibt ebenso der Anteil von Aussagen, die sich auf den Ausbau des Wohlfahrtsstaat, die Marktregulierung oder Wirtschaftsförderung beziehen. Auch bei den meisten anderen Kernthemen der Union zeigt sich nur wenig Bewegung.

StĂ€rkere VerĂ€nderungen im inhaltlichen Profil sind vor allem bei den beiden Themengebieten Recht & Ordnung und BĂŒrokratieabbau spĂŒrbar. Der Anteil von Aussagen, die sich auf das Themenfeld Recht & Ordnung beziehen nimmt verglichen mit 2017 um mehr als 5 Prozentpunkte zu und wird damit zum zweihĂ€ufigsten Thema der Union ĂŒberhaupt. CDU/CSU inszenieren sich deutlich erkennbar als âLaw & Orderâ-Partei und schreiben âSicherheit â aus Verantwortung fĂŒr unsere Freiheitâ (S. 106) eine groĂe Bedeutung zu. Auch der BĂŒrokratieabbau, der 2017 noch kaum im Union-Wahlprogramm vorkam, ist 2021 ein zentrales Anliegen der CDU/CSU. Im ambivalenten StaatsverstĂ€ndnis der Union vereint sich damit noch deutlicher als frĂŒher das Bild vom aus sicherheitspolitischer Sicht zu schwachen Staat, der gleichzeitig bĂŒrokratisch nach wie vor zu âstarkâ und schwerfĂ€llig auftritt.
2021 setzen CDU/CSU auĂerdem einen besonderen Fokus auf die AuĂenpolitik: Im aktuellen Wahlprogramm bilden Forderungen nach einer tiefergehenden EU-Integration das fĂŒnfthĂ€ufigste Thema, das damit deutlich mehr Raum einnimmt als noch 2017. Das geht einher mit einer gleichbleibend starken Betonung von internationaler Zusammenarbeit, die weiterhin verlĂ€sslich zu den zehn wichtigsten Kernthemen der Union gehört. Schon am Aufbau des Wahlprogramms wird dieser internationale Fokus der Union deutlich: WĂ€hrend das Wahlprogramm 2017 noch mit Bemerkungen zur BeschĂ€ftigungspolitik startete, widmen sich die ersten zwei Kapitel 2021 welt- und europapolitischen Themen. Mit dem Einfordern einer Mitwirkung bei der Gestaltung der aufkommenden multipolaren Weltordnung und dem klaren Bekenntnis zu âMehr Europa!â (S. 17) spricht sich die Union fĂŒr ein pro-aktiveres Auftreten Deutschlands und der EU auf dem internationalen Parkett aus. Unter den EindrĂŒcken der schwierigen transatlantischen Beziehungen unter Trump scheint die Neufindung der internationalen Rolle Deutschlands auf der politischen Agenda der Union nach oben zu rutschen.
Dem gesellschaftlich polarisierenden Thema- und Konfliktfeld âUmwelt/Klimaâ schenkt die Union dagegen verhĂ€ltnismĂ€Ăig wenig Beachtung. Obwohl âUmwelt und Klimaâ 2021 fĂŒr die WĂ€hler:innen zu einem der mit Abstand wichtigsten Wahlthemen gehört, verĂ€nderte sich der Anteil von Nachhaltigkeit und Umweltschutz am gesamten Wahlprogramm der Union verglichen zu 2017 nur ĂŒberschaubar: Zwar kletterte der Umweltschutz zumindest auf Platz 9 der zehn umfangreichsten politischen Kernthemen im Wahlprogramm, ist dabei allerdings nur um weniger als einen Prozentpunkt gewachsen und auch der Anteil von Aussagen zum Thema Nachhaltigkeit ist nahezu unverĂ€ndert. Die Union scheint auf dem Weg zur KlimaneutralitĂ€t âdeutlich vor Mitte des Jahrhundertsâ (S. 5) vielmehr auf ihre bewĂ€hrten Mantras zu setzen: âVernunft statt Ideologie, Innovationen statt Verbote, soziale Marktwirtschaft statt sozialistischer Umverteilungâ (S. 5).
Fazit â Wo steht die Post-Merkel Union bei der Wahl 2021?
Alles in allem verĂ€ndert sich die politische Ausrichtung der Union trotz des personellen Umbruchs kaum. Die sozio-kulturelle Ausrichtung, auf die sie sich seit 2005 eingependelt hat, behĂ€lt sie auch bei dieser Wahl unverĂ€ndert bei, sozio-ökonomisch ist im Wahlprogramm nur eine kleinere Verschiebung hin zu mehr MarktliberalitĂ€t zu erkennen. Ob diese Verschiebung aber tatsĂ€chlich auch eine Trendwende in der politischen Ausrichtung bedeutet, mĂŒssen die nĂ€chsten Jahre zeigen. Auch die meisten Kernthemen aus 2017 stehen im 2021er Wahlprogramm wieder im Vordergrund. Die kommunizierte und angestrebte Erneuerung Ă€uĂert sich somit noch nicht in einer grundlegend neuen politischen Ausrichtung. Aus programmatischer Sicht ist das Wort âStabilitĂ€tâ aus dem Titel des Union-Programms die wesentlich treffendere Beschreibung.
Auch an der Benennung des Papiers selbst hat sich seit 2002 nichts geĂ€ndert: Selbstbewusst bezeichnet die Union ihr Wahlprogramm stets als âRegierungsprogrammâ und markiert damit den Anspruch der âletzten verbliebenen Volksparteiâ die Bundesrepublik zu fĂŒhren. Um allerdings weiterhin regieren zu können, brĂ€uchte die CDU/CSU aller Voraussicht nach mindestens einen oder sogar erstmals auf Bundesebene zwei Koalitionspartnerinnen. Nachdem 2017 die Jamaika-Koalitionsverhandlungen krachend scheiterten, traten CDU, CSU und SPD widerwillig erneut in eine groĂe Koalition ein. Eine weitere Fortsetzung von Schwarz-Rot hĂ€tte nach derzeitigen Prognosen nicht die erforderliche Mehrheit im Bundestag und wird insbesondere von SPD-Seite auch nicht angestrebt. Unsere Analyse unterstreicht, dass auch programmatisch eine Abkehr voneinander deutlich wird: Dem etwas marktliberaleren Kurs der Union steht eine sozio-ökonomisch linker auftretende SPD gegenĂŒber. Ob aber CDU/CSU und GrĂŒne besser zusammenpassen wĂŒrden?
[1] Eine genauere Beschreibung dieses zwei-dimensionalen Raums â die sozio-kulturelle und die sozio-ökonomische â findet sich im ersten Artikel dieser Serie.
In der nĂ€chsten Woche folgt unser Artikel zum Wahlprogramm der GrĂŒnen, die in diversen derzeit diskutierten Regierungsformaten fĂŒr die Zeit nach der Bundestagswahl (Schwarz-GrĂŒn, Jamaika oder der âKeniaâ-Koalition) als Koalitionspartnerin mit der Union zusammenarbeiten wĂŒrden.
Die Autoren
Marvin MĂŒller ist seit 2019 studentische Hilfskraft im Manifesto-Projekt in der Abteilung âDemokratie und Demokratisierungâ am WZB. Er studiert den Masterstudiengang Politikwissenschaft an der Freien UniversitĂ€t Berlin.
Tobias Burst ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Manifesto-Projekt in der Abteilung âDemokratie und Demokratisierungâ am WZB. Sein Forschungsschwerpunkt liegt auf der Analyse von politischer Sprache mittels computergestĂŒtzten âtext-as-dataâ-Methoden.
Sehr gut und genau analysiert!!
FĂŒhlt euch gelobt!!