The voting dead – entscheiden am Wahltag bereits verstorbene Briefwähler*innen womöglich die Bundestagswahl?

von Aiko Wagner und Sven Regel

Seit dem 16. August ist die Briefwahl für die Bundestagswahl 2021 möglich und es gibt kaum Zweifel daran, dass wir ein neues Rekordhoch des Briefwähler*innenanteils beobachten werden. Durch die Möglichkeit der Vorabwahl ergibt sich das Phänomen der voting dead – Briefwähler*innen, die zwischen Stimmabgabe und Wahltag versterben. Beeinflussen deren Stimmen das Wahlergebnis? In diesem Artikel ermitteln Aiko Wagner und Sven Regel den Effekt auf die Stimmanteile der Parteien bei der Bundestagswahl 2017 und erlauben damit Rückschlüsse auf die Frage, ob the voting dead über die nächste Regierung entscheiden könnten.

Die Briefwahl soll den Wahlrechtsgrundsatz der allgemeinen Wahl befördern helfen – auch, wer am Wahltag selbst verhindert ist, soll vom politischen Beteiligungsrecht Gebrauch machen können. Beruf, Urlaub, Krankheit oder sonstige Terminkollisionen am Wahltag sollen der Partizipation der Bürger*innen nicht im Wege stehen. Die Briefwahl ist als Vorabwahlmöglichkeit bereits mehrere Wochen vor dem Wahltag möglich. Daraus ergibt sich jedoch zugleich, dass einige Briefwähler*innen in der Zeit bis zum Wahltag bereits verstorben sind. Dies gilt umso mehr, wenn (a) sehr viele Bürger*innen vorab wählen – was zur Bundestagswahl zu erwarten ist – und (b) die Briefwähler*innen überdurchschnittlich alt sind – was zumindest in der Vergangenheit der Fall war. Zugespitzt lässt sich fragen: Können die am Wahltag bereits Verstorbenen den Wahlausgang entscheiden? Entscheiden the voting dead über die nächste Regierung? Dass dies keineswegs (nur) ein bizarres Gedankenspiel ist, zeigt der Blick in die USA. Dort wurde, wenngleich vor etwas anders gelagertem Hintergrund, im Umfeld der Präsidentschaftswahlen darüber debattiert, welchen Anteil und Einfluss bereits Verstorbene auf das Wahlergebnis hatten – also die Frage, ob die Stimmen von Toten die Wahlen entschieden hätten. Für die Integrität der Wahlen und die Legitimität repräsentativer Demokratie ist dies demnach mitnichten irrelevant.

Wir nutzen die Ergebnisse der Bundestagswahl 2017 und fragen, ob das Wahlergebnis anders ausgesehen hätte, wenn diese voting dead nicht berücksichtigt oder herausgerechnet worden wären. Dazu müssen wir ermitteln, wie wahrscheinlich es ist, dass eine Person nach der Abgabe der Briefwahlstimme und vor der Wahl verstirbt. Hierfür müssen wir einige Annahmen treffen. Wir versuchen dabei, jeweils plausible Entscheidungen zu Grunde zu legen, im Zweifelsfall aber stets solche, die einen größeren Effekt zum Wahltag bereits Verstorbener nach sich ziehen. Die folgenden Analysen stellen damit so etwas wie den maximal zu erwartenden Effekt dar.

Erstens gehen wir davon aus, dass Briefwähler*innen im Mittel einen Monat vor dem Wahltag ihre Briefwahlunterlagen abgeben. Genaue Angaben dazu liegen leider nicht vor. Zweitens ermitteln wir die Wahrscheinlichkeit, dass eine Person innerhalb des nächsten Monats verstirbt, indem wir die Sterbewahrscheinlichkeit innerhalb des nächsten Jahres durch zwölf teilen. Damit gehen wir davon aus, dass eine Person genauso wahrscheinlich innerhalb des nächsten Monats verstirbt wie im 12. Monat. Drittens nehmen wir an, dass die Wahrscheinlichkeit der Wahlbeteiligung unabhängig vom Gesundheitszustand ist. Wir gehen also davon aus, dass Menschen in den letzten Wochen ihres Lebens genauso wahrscheinlich noch per Briefwahl partizipieren wie gleichaltrige gesunde Personen.

Als Datengrundlage dient einerseits die repräsentative Wahlstatistik. Sie gibt Auskunft darüber, wie viele Personen in welchen Altersgruppen und welchen Geschlechts bei der Bundestagswahl 2017 die Briefwahlbriefoption genutzt und welche Parteien sie gewählt haben[1]. Für das Alter werden sechs Gruppen ausgewiesen: 18–24, 25–34, 35–44, 45–59, 60–69, 70 und älter[2]. Zusammen mit den Daten für die Sterbewahrscheinlichkeit, die für beide Geschlechter und jedes ganzzahlige Alter zwischen 0 und 100 veröffentlicht wird, sowie den formulierten Annahmen lässt sich für jede Kombination aus Alter, Geschlecht, Abstimmungsart und gewählter Partei bestimmen, wie viele Personen der ursprünglichen Population zwischen der Abgabe der Briefwahlstimme und dem Wahltermin gestorben sind. Da wir über keine Informationen hinsichtlich der Verteilung innerhalb der Altersgruppen verfügen, verwenden wir die Sterbewahrscheinlichkeit des aufgerundeten Mittels des jeweiligen Altersbereiches[3]. Für den Bereich „70 und älter“ gehen wir von einem Durchschnittsalter von 78 aus. Die Wahrscheinlichkeit zu sterben, liegt für die verschiedenen Gruppen zwischen 0,0014% bei Frauen zwischen 18–24 und 0,38% bei Männern, die 70 Jahre und älter sind. Die Wahrscheinlichkeit der Briefwahlnutzung liegt zwischen 22,1% bei Männern zwischen 18–24 und 37,4% bei Frauen über 70 Jahren. Nach Parteien aufgeschlüsselt weisen männliche AfD-Wähler zwischen 40–49 mit 15,7% die geringste Briefwahlquote auf und weibliche FDP-Wählerinnen über 70 mit 40,9% die höchste.

Ein Beispiel für die Berechnung der voting dead für die männlichen Wähler in der Altersgruppe 60–69 der CDU/CSU: Die 353.443 Briefwähler dieser Gruppe haben ein (aufgerundetes) Durchschnittsalter von 65. Die Wahrscheinlichkeit, innerhalb der nächsten 12 Monate zu sterben, liegt bei 1,54%. Unter den oben genannten Annahmen sollten zwischen dem Zeitpunkt der Briefwahl und dem Wahltag (gerundet) 454 Personen aus der Gruppe gestorben sein (353.443 Personen * (1,54%/12) ≈ 453,6 Personen bzw. 0,13%) und noch 99,87% leben. Der Anteil dieser gestorbenen an der ursprünglichen Gesamtzahl an Wähler*innen der CDU/CSU beträgt damit 0,003%.

Insgesamt wären unter den gegebenen Annahmen 13.541 (gerundet) der 46.515.492 Wähler*innen aller Parteien (also anteilig 0,029%) zwischen dem Zeitpunkt ihrer Stimmabgabe und dem Wahltag 2017 verstorben. Aufgrund der verschiedenen Alters- und Beteiligungsstrukturen zwischen den Briefwähler*innen und Urnenwähler*innen der Parteien hat die Einbeziehung respektive das Herausrechnen der voting dead unterschiedliche Auswirkungen auf den Wähler*innenanteil der einzelnen Parteien.

Abbildung 1 zeigt, dass die CDU/CSU mit knapp 0,0026 Prozentpunkten und absolut 5.689 Stimmen am meisten verlieren würde, während die Grünen lediglich 668 Wähler*innen verlieren würden. Damit würden sie relativ insgesamt 0,001 Prozentpunkte (in Worten: ein Hunderttausendstel) gewinnen. Die AfD und die Linke würden auch etwas hinzugewinnen, während sich der Stimmenanteil von SPD und FDP leicht reduzieren würde, absolut würden sie über 3.000 resp. 1.500 Stimmen verlieren. Der allgemeine Einfluss der voting dead kann damit als äußerst gering eingeschätzt werden und sollte fast nie einen Einfluss auf das Wahlergebnis haben. Selbst mit unserer den Effekt tendenziell überschätzenden Analyse hätte der Unterschied zwischen CDU/CSU und SPD mit rund -5.700 zu -3.100 noch keine Änderung etwa in der historisch knappen Bundestagswahl 2002 bedeutet, bei der die SPD lediglich knapp 6.000 Stimmen Vorsprung vor der CDU/CSU hatte. Auch für die Bundestagswahlen kann somit Entwarnung gegeben werden: höchstwahrscheinlich werden die voting dead trotz zu erwartendem höherem Briefwähler*innenanteil auch die Bundestagswahl 2021 nicht entscheiden.


Die Autoren

© David Ausserhofer

Aiko Wagner ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung „Demokratie und Demokratisierung“ am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). Er ist Mitglied der German Longitudinal Election Study (GLES).

© David Ausserhofer

Sven Regel ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Manifesto-Projekt in der Abteilung Demokratie & Demokratisierung am WZB. Seine Forschungsinteressen sind Parteien, parlamentarisches Verhalten, quantitative Inhaltsanalyse und politische Geographie.


[1] Detaillierte Zahlen finden sich in: Bundeswahlleiter (Hrsg.). 2018. Wahl zum 19. Deutschen Bundestag am 24. September 2017 – Heft 4 – Wahlbeteiligung und Stimmabgabe der Frauen und Männer nach Altersgruppen.

[2] Bei der Zuweisung zu den Altersgruppen werden von der offiziellen Statistik nicht das tagesaktuelle Alter, sondern Geburtsjahrgänge verwendet.

[3] Diese Form der Operationalisierung könnte unter Umständen dazu führen, dass der Effekt leicht unterschätzt wird.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert