Auf der Suche nach der goldenen Mitte
von Juliane Hanel und Christoph Ivanusch
Nach 16 Jahren in der parlamentarischen Opposition könnte die Bundestagswahl 2021 einen Kurswechsel für die Grünen einleiten. Laut Wahlumfragen liegt die Partei so gut wie noch nie. Zwischenzeitlich galt sie sogar erstmals in ihrer Geschichte in Umfragen als stärkste Kraft. Die ehemalige Milieupartei scheint also in der Mitte der Gesellschaft angekommen zu sein. In diesem Artikel analysieren wir (Juliane Hanel und Christoph Ivanusch vom Manifesto-Projekt des WZB), ob sich diese Entwicklung auch im Wahlprogramm der Grünen widerspiegelt. Hierbei beziehen wir uns auf die Hauptanliegen der Partei und setzen sie mit jenen Positionen in Kontext, die die Partei 2017 in ihrem Wahlprogramm vertrat.
Dieser Beitrag ist Teil einer Serie zu den Wahlprogrammen der deutschen Parteien zur Bundestagswahl am 26. September 2021. Ab dem 2. August erscheint immer montags (dem sogenannten Manifesto Monday) ein Beitrag zu jeweils einem Wahlprogramm. Als Staffelfinale ist für Mitte September ein längerer Beitrag geplant, der alle Wahlprogramme vergleicht und in Kontext setzt. Die Daten dazu erheben wir im Rahmen des Manifesto-Projekts aus der Abteilung Demokratie & Demokratisierung am WZB. Detailliertere Information zu Projekt und Methodik lassen sich sowohl auf unserer Webseite als auch in einem Überblicksblogartikel auffinden. Im Rahmen der Kodierung des Manifesto-Projekts bewerten wir für jede Aussage in den Wahlprogrammen, welches politische Ziel eine Partei verfolgt. Insgesamt unterscheiden wir dabei 76 unterschiedliche politische Ziele, von Umweltschutz und Wohlfahrtsstaatsausbau über freie Marktwirtschaft, Demokratie und Menschenrechte. Der heutige Beitrag stellt das Wahlprogramm der Grünen vor.
Seit die Grünen bei der Bundestagswahl 1983 das erste Mal die Fünfprozenthürde nahmen, haben sie einen festen Platz im deutschen Parteiensystem. Trotz schwieriger Anfangsphase ist die Partei mittlerweile fest im Bundestag etabliert und erreichte bei den letzten vier Wahlen jeweils zwischen 8 und 11 Prozent der Stimmen. Doch dieses Jahr scheint einiges anders zu sein: in Umfragen liegen die Grünen so gut wie noch nie, zwischenzeitlich sahen sie manche Umfragen sogar als stärkste Kraft. Das grüne Kernthema Umweltschutz steht in der öffentlichen Debatte hoch im Kurs, die große Koalition zwischen CDU/CSU und SPD ist unbeliebt. All dies spricht für die Grünen. Damit ist die Partei voll im Rennen, wenn es um eine mögliche Regierungsbeteiligung geht. Verschiedenste Konstellationen sind denkbar — nicht zuletzt sogar eine grüne Kanzlerin.
„Deutschland. Alles ist drin.“ lautet der Titel des diesjährigen Wahlprogramms. In Anbetracht der aktuellen Ausgangsposition für die Wahl trifft dieser Leitspruch auch auf die Partei und ihre Spitzenkandidatin Annalena Baerbock zu. Aber was steckt tatsächlich alles im Wahlprogramm „drin“? Wie gehen die Grünen mit ihrer neuen Rolle um und wofür steht die Partei in 2021? Wir haben das Wahlprogramm analysiert und zeigen, wie sich die Partei inhaltlich positioniert und was ihre Kernthemen für die Bundestagswahl 2021 sind.
Die Grünen im deutschen Parteienspektrum: Von links auf dem Weg in die politische Mitte?
Im vereinfachten zweidimensionalen Raum der deutschen Parteienlandschaft befinden sich die Grünen auf beiden Dimensionen im linken Spektrum, das heißt im linken unteren Quadranten in Abbildung 1[1]. Auf der sozio-kulturellen Konfliktdimension ist die Partei nach der Linken als eine der liberal-progressivsten Parteien einzuordnen. Gerade auf dieser Dimension vollzieht sie in diesem Wahlkampf jedoch einen recht deutlichen Wandel. Während die Grünen 2017 hier noch ihre historisch liberalste Position eingenommen haben, positioniert sich die Partei 2021 weniger liberal und damit deutlich zentraler. Die Partei bewegt sich auf der sozio-kulturellen Dimension also von links in Richtung politischer Mitte und ist dort nunmehr gleichauf mit der FDP einzuordnen.
Die sozio-ökonomische Dimension beschreibt das Verhältnis von Markt und Staat. Die Grünen sind hier im deutschen Vergleich ebenfalls eher mittig-links verortet. Linker sind nur die Linke und die SPD einzuordnen. Im Gegensatz zur Entwicklung auf der sozio-kulturellen Dimension hat sich die Position der Grünen auf der sozio-ökonomischen Dimension im Vergleich zu 2017 kaum gewandelt. Hier kann nur eine minimale Bewegung in Richtung Mitte festgestellt werden.
Insgesamt haben sich die Grünen in diesem Wahlkampf im Vergleich zu anderen Parteien (z.B.: FDP) sehr stark bewegt. Die Grünen positionieren sich 2021 deutlich zentraler als noch vor vier Jahren. Doch wie sieht es im längeren Zeitverlauf aus? Wie stark und in welche Richtung hat sich die Partei seit den 90er-Jahren entwickelt?
Drei Dekaden Bundestag – Back to the roots?
Auch in der historischen Perspektive der letzten 30 Jahre bestätigt sich, dass die Grünen auf der sozio-kulturellen Dimension eine deutliche Trendwende vollziehen (siehe Abbildung 2a). Seit Beginn der 2000er-Jahre ist die Partei zusehends liberaler und progressiver geworden. Diese Entwicklung dreht sich 2021 jedoch deutlich. Die Grünen sind auf dieser Dimension nun wieder ähnlich zentral positioniert wie noch in den 90er-Jahren — vom progressiven Trend nach der Jahrtausendwende ist nicht mehr viel zu sehen. Diese Entwicklung ist beispielsweise bedingt durch die gewachsene Unterstützung von Institutionen wie Polizei und Bundeswehr („Für ihre Aufgaben wie Prävention, Aufklärung und Strafverfolgung und den Schutz der Grundrechte wollen wir die Polizei stärken, in der Stadt und auf dem Land, analog und digital.“) und der im Vergleich zu 2017 gesunkenen Aufmerksamkeit, die der Diskussion von Gleichheit und Multikulturalismus zuteil wird (beide Themen waren 2021 etwa 3% seltener vertreten als 2017).
Auf der sozio-ökonomischen Dimension (Abbildung 2b) orientieren sich die Grünen seit jeher wesentlich stärker am ideologischen Zentrum. Erst in den letzten 10-15 Jahren hat die Partei eine vergleichsweise linke Position eingenommen und gesteht dem Staat somit eine stärkere Rolle in wirtschaftlichen Fragen zu. Im diesjährigen Wahlkampf positioniert sich die Partei auf der sozio-ökonomischen Dimension zwar wieder marginal zentraler als 2017, historisch betrachtet waren die Grünen auf dieser Achse ansonsten aber noch nie so links wie 2021. Dies ist zum Beispiel durch ihre positive Position zum Wohlfahrtsstaatsausbau („ Wir wollen Schritt für Schritt die sozialen Systeme so verändern, dass sie allen Menschen Sicherheit und Halt geben, auch in Zeiten persönlicher und gesellschaftlicher Umbrüche, und ihnen Teilhabe ermöglichen.“) und zur Marktregulierung („Banken sollen nicht spekulieren, sondern die Realwirtschaft finanzieren. Statt der immer undurchsichtigeren Regulierungsflut wollen wir einfache und harte Regeln.“) bedingt.
Klimagerechter Wohlstand statt Naturschutz?
Abgesehen von der Positionierung der Parteien auf den beiden vorgestellten Konfliktdimensionen, sind auch Themen ein wichtiger Faktor im Wahlkampf. Parteien fokussieren sich in unterschiedlichem Ausmaß auf verschiedene Themen. Die fünf Top-Themen der Grünen in absteigender Reihenfolge sind: Gleichheit, Wohlfahrtsstaatsausbau, Umweltschutz, Technologie & Infrastruktur und Nachhaltigkeit (siehe Abbildung 3).
Das Hauptthema im Wahlprogramm, die Gleichheit, war auch schon 2017 das wichtigste Anliegen der Partei und ist trotz der vergleichsweise stark gesunkenen Präsenz im Wahlprogramm nach wie vor von großer Wichtigkeit. Dieser eher breite Begriff der „Gleichheit“ bezieht sich aus Perspektive der Grünen insbesondere auf soziale Gleichheit und „Klimagerechtigkeit“, also den Appell an die Politik, Verantwortung in Hinblick auf den menschengemachten Klimawandel zu übernehmen („[E]s sind vor allem die mit den geringsten Einkommen und insbesondere die Menschen im globalen Süden, die den Preis dafür zahlen, dass der ökologische Fußabdruck der Reichsten am größten ist.“). Gerechtigkeit im Grünen Sinne ist also häufig eng verknüpft mit den Themen Nachhaltigkeit und Umweltschutz, die auch in den Top 5 Themen vertreten sind. Eine interessante Beobachtung hier ist, dass das Thema Umweltschutz im Wahlprogramm 2017 noch an zweiter Stelle zu finden war, 2021 jedoch auf den dritten Platz abgerutscht ist. Ebenso verlor Nachhaltigkeit an Bedeutung und befindet sich mittlerweile auf Platz 5. Der vorherige Idealismus scheint also etwas abgeebbt. Zudem drehten sich die ökologischen Ziele der Partei 2017 um Natur- und Artenschutz, während sie nun auf eine sozial-ökonomische Transformation zum Erreichen der Klimaneutralität baut („Klimagerechter Wohlstand bedeutet Ökologie und Soziales zusammenzudenken und den Übergang gut zu gestalten: für Menschen in der Stadt und auf dem Land.“). Konkret hält die Partei fest: „Wir begreifen es als unsere Aufgabe, bessere Regeln zu schaffen, nicht den besseren Menschen.“
Das Thema Technologie & Infrastruktur ist 2021 ebenfalls in die Top-5 Themen der Grünen eingezogen. Im Bereich der Technologie wird ein klares Streben der Partei nach Innovation und Exzellenz deutlich. Die Devise lautet: Deutschland darf nicht abgehängt werden („Wir müssen nicht nur technologisch exzellent sein, sondern bahnbrechende Technologien auch in neue Geschäftsmodelle, Märkte, Dienstleistungen und Produkte umwandeln können.“). Zwar kommt bei diesen Forderungen zur Digitalisierung und Innovation auch „grüne Politik“ zur Sprache, der Fokus liegt aber klar auf der Wirtschaft („So machen wir unsere Wirtschaft zur Spitzenreiterin bei den modernsten Technologien und schützen unsere natürlichen Lebensgrundlagen.“). In Hinblick auf Infrastruktur liegt der Partei besonders der Ausbau des ÖPNV- und Fahrradnetzes am Herzen („Statt wie seit Jahrzehnten einen Verkehrsträger einseitig zu bevorzugen, sorgen wir für eine faire Balance – mit einer starken Bahn, einem modernen ÖPNV und besten Bedingungen für Radfahrer*innen und Fußgänger*innen.“). Eine effiziente Implementierung der Forderungen soll auf der Basis eines neuen Bundesmobilitätsgesetzes geschehen („Die Mobilitätswende braucht nicht nur eine bessere gesetzliche Grundlage, sondern auch eine Beschleunigung in der Umsetzung.“).
Obwohl die Grünen nie eine klassische „Arbeitnehmer:innenpartei“ war, überrascht eine thematische Entwicklung: während im Wahlprogramm 2017 die Rechte von Arbeitnehmer:innen noch auf Platz 4 der wichtigsten Themen standen, sind sie 2021 auf Platz 11 abgerutscht. Ungerechtigkeit in der Arbeitswelt wird zwar thematisiert („Wir wollen, dass die neuen Jobs nach Möglichkeit einem Tarifvertrag oder mindestens gleichwertigen Bedingungen unterliegen.“), aber nicht mehr im gleichen Umfang wie noch vor vier Jahren.
Die Prioritäten der Grünen haben sich in den letzten vier Jahren also augenscheinlich verändert. Umweltschutz nimmt nach wie vor eine wichtige Stellung ein, allerdings hat die Partei mittlerweile eine etwas andere Herangehensweise und fokussiert sich bei ihrer Strategie vermehrt auf wirtschaftliche, technologische und infrastrukturelle Aspekte.
Neue Rolle – neue Positionen
Im Wahlkampf 2021 scheint die Partei immer noch im grünen Licht, zeigt sich aber dennoch in einer völlig neuen Rolle als Partei mit Regierungsanspruch. Dieser Anspruch spiegelt sich schließlich auch deutlich im Wahlprogramm wider. Die Partei positioniert sich in diesem Wahlkampf vor allem in sozio-kulturellen Fragen deutlich zentraler als 2017. Diese Bewegung in Richtung politischer Mitte kann durchaus als Signal an die Wähler:innen und potentielle Koalitionspartner verstanden werden. Die Grünen scheinen ihr Image als Milieupartei endgültig gegen einen Platz in der Mitte der Gesellschaft eintauschen zu wollen. Das macht ihre Position einerseits anschlussfähiger aber auch komplizierter, denn sowohl Koalitionsfrage als auch Kanzler:innen-Frage sind völlig offen. Wie kompatibel der zentrale Kurs mit potentiellen Koalitionspartnern rechts und links der Mitte ist, wird sich in den kommenden Monaten zeigen. Besonders von linker Seite ist Skepsis bei der Entwicklung zur Mitte zu erwarten.
[1] Für eine genauere Beschreibung dieses zwei-dimensionalen Raums und der zwei ihn aufspannenden Dimensionen – die sozio-kulturelle und die sozio-ökonomische – siehe den ersten Artikel in dieser Serie.
Wie kompatibel sind die Linken und die Grünen eigentlich noch? Macht der neue Kurs der Grünen eine Koalition der beiden Parteien unmöglich? Unser nächster Beitrag könnte etwas Licht ins Dunkel bringen, denn in der nächsten Woche folgt die Analyse des Bundestagswahlprogramms der Partei Die Linke.
Die Autor:innen
Juliane Hanel ist seit 2019 studentische Hilfskraft im Manifesto-Projekt in der Abteilung Demokratie & Demokratisierung am WZB. Sie studiert den Masterstudiengang Cognitive Systems: Language, Learning and Reasoning an der Universität Potsdam.
Christoph Ivanusch ist seit März 2021 Research Fellow in der Abteilung Demokratie & Demokratisierung am WZB. Seine Forschungsinteressen umfassen Parteien, politische Kommunikation und quantitative Textanalyse.
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Das ist ein interessanter Artikel. Mich würde sehr interessieren, wie Sie die strategisch mediale Gesamt-Positionierung der derzeitigen Grünen Politik im Politikfeld Globale-Gerechtigkeit und/oder Globale-Klima-Gerechtigkeit (GKG) beurteilen würden oder noch besser in einem soziallagenspezifischen Politikfeld-Faktoren-Diagramm darstellen würden.
Wie wirkt soziallagenspezifisch die mediale GKG-Darstellung der Grünen in Bezug auf das Wahlverhalten?