Viel Konkretes mit einer Prise Kompromiss. Ist die Linke bereit mitzuregieren?
von Sarah Hegazy und Pola Lehmann
„Soziale Sicherheit, Frieden, und Klimagerechtigkeit“ – die Ziele, mit denen die Linke für die Wahl am 26. September antritt, sind klar definiert. Die Analyse des Wahlprogramms der Partei Die Linke von Sarah Hegazy und Pola Lehmann vom Manifesto-Projekt am WZB zeigt, dass auch drin ist, was drauf steht: Gleichheit und der Wohlfahrtsstaatsausbau machen gemeinsam mehr als 30 % des Wahlprogramms aus, und auch Nachhaltigkeit, Umweltschutz und Abrüstung finden sich unter den 10 wichtigsten Themen. Aber hat die Linke auch eine konkrete Machtoption, um diese Ziele umzusetzen? Zumindest zeigt sie sich kompromissbereit und verschiebt ihre Position sowohl auf der sozioökonomischen als auch auf der soziokulturellen Konfliktdimension Richtung Mitte. Ein Wink an Grüne und SPD? Mit diesem Beitrag schließen wir die Einzelanalysen unserer Manifesto Monday-Reihe ab. In ca. zwei Wochen folgt im Staffelfinale ein Wiedersehen mit allen bisherigen Akteur:innen.
Dieser Beitrag ist Teil einer Serie zu den Wahlprogrammen der deutschen Parteien zur Bundestagswahl am 26. September 2021. Seit dem 2. August erscheint immer montags (dem sogenannten Manifesto Monday) ein Beitrag zu jeweils einem Wahlprogramm. Als Staffelfinale ist für Mitte September ein längerer Beitrag geplant, der alle Wahlprogramme vergleicht und in Kontext setzt. Die Daten dazu erheben wir im Rahmen des Manifesto-Projekts aus der Abteilung Demokratie & Demokratisierung am WZB. Detailliertere Information zu Projekt und Methodik lassen sich sowohl auf unserer Webseite als auch in einem Überblicksblogartikel auffinden. Im Rahmen der Kodierung des Manifesto-Projekts bewerten wir für jede Aussage in den Wahlprogrammen, welches politische Ziel eine Partei verfolgt. Insgesamt unterscheiden wir dabei 76 unterschiedliche politische Ziele, von Umweltschutz und Wohlfahrtsstaatsausbau über freie Marktwirtschaft, Demokratie und Menschenrechte. Der heutige Beitrag stellt das Wahlprogramm der Partei Die Linke vor.
Mit über 71.000 Wörtern ist das Programm der Linken das längste Wahlprogramm der aktuell im Bundestag vertretenen Parteien. Durch 168 Seiten muss sich die interessierte Wählerin oder der interessierte Wähler durcharbeiten, wenn er oder sie wissen möchte, welche Positionen die Linke im Wahlkampf vertritt und was sie erreichen möchte, wenn sie gewählt wird. Belohnt wird die Arbeit damit, dass nach einer ausführlichen Lektüre des Programms tatsächlich ein gutes Bild über die Pläne der Linken entsteht. Das Programm ist an vielen Stellen sehr konkret gehalten, auch wenn die Chancen die Pläne auch umzusetzen im Vergleich zu anderen Parteien als eher gering einzuschätzen sind. Das allerdings scheint die Partei ändern zu wollen: Die Einleitung des Programms endet mit der Aussage „DIE LINKE ist kompromissbereit, was die Schrittlänge angeht. Doch die Richtung des Schrittes muss stimmen“ (S. 15). Eine klare Botschaft an die anderen Parteien, dass die Linke bereit ist für eine Koalition; auch wenn sich viele der konkreten Aussagen im Programm eher durch eine klare Positionierung denn durch Kompromissbereitschaft auszeichnen.
Überschrieben ist das Wahlprogramm, das die Linke auf ihrem Parteitag am 19./20. Juni verabschiedete, mit dem Ausruf „Zeit zu handeln!“. Die Unmittelbarkeit und Dringlichkeit, die in dieser Aussage steckt, zieht sich durch das gesamte Programm, das mit vielen Ausrufungszeichen durchzogen ist und in dem für vieles „gekämpft“ werden soll – allen voran für den „ökologische[n] und demokratische[n] Sozialismus“ (S. 9). Für diesen Kampf und ihre Ziele will sie auch ihre Genossinnen und Genossen und allgemein die Wählerinnen und Wähler gewinnen, denen sie zuruft „Mach mit, es lohnt sich“ (S. 15). Dieses Wahlprogramm, mit dem es die Linke auf die Regierungsbank schaffen möchte, schauen wir uns im Folgenden genauer an.
Eine Partei in Bewegung
Abbildung 1 zeigt, wo die Linke im zweidimensionalen politischen Raum im Vergleich zu den Positionen der anderen Parteien in 2017 zu verorten ist und wie sich die Positionierung der Linken seit der letzten Bundestagswahl verändert hat. Generell findet sich die Partei im linken-unteren Quadranten, wo sie nicht unweit von den Grünen ihren Platz einnimmt. So steht die Linke in sozio-ökonomischer Hinsicht für einen in den Markt intervenierenden Staat und den Ausbau des Wohlfahrtstaates. Wie keine andere im Bundestag vertretene Partei verkörpert sie das Motto: mehr Staat als Markt.
Die sozio-kulturelle Konfliktlinie zeigt die liberal-progressive Ausrichtung der Partei. Diese Konfliktdimension betreffend ist eine bemerkenswerte programmatische Verschiebung zwischen dem 2017er und dem 2021er Wahlprogramm auszumachen: Während die Linke 2017 im Parteienvergleich noch die liberal-progressivste Ausrichtung innehatte, bewegt sie sich nun in Richtung einer mittigeren Position, und liegt damit ungefähr auf dem Niveau der Grünen aus 2017. Da wir von dem Beitrag über die Grünen aus der letzten Woche allerdings wissen, dass sich auch die Grünen auf dieser Konfliktlinie hin zu einer mittigeren Position bewegt haben, bleibt die linke damit die Partei mit der liberal-progressivsten Ausrichtung. Auch im Kontext der Richtungsstreitigkeiten innerhalb der Partei, insbesondere um die Person Sahra Wagenknecht, ist diese Dynamik auf der sozio-kulturellen Achse interessant. Insgesamt fällt auf, dass das Wahlprogramm nicht allzu sehr auf identitätspolitische Fragen ausgerichtet ist, sondern tendenziell allgemeinere Angebote an Geringverdienende und die Arbeitendenschaft macht. Dementsprechend wurde beispielsweise ein Änderungsantrag für das Wahlprogramm, welcher dafür plädierte, die Gendersternchen mit Doppelpunkten zu ersetzen, zurückgenommen. Durch das Vermeiden solcher Debatten entzieht sich die Partei dem Vorwurf – unter anderem vorgetragen von Wagenknecht – (zu viel) Politik für Privilegierte zu machen.
In Hinblick auf die sozio-kulturelle Konfliktlinie stellt der in dieser Reihe bereits erschienen Artikel über das Wahlprogramm der AfD heraus, dass sich die auffallend rechte Position der AfD 2021 im Vergleich zu 2017 etwas mäßigte. Mit der Tendenz der Linken sozio-kulturell ebenfalls auf die Mitte zuzusteuern, scheint der Polarisierungsgrad der Wahlprogramme auf dieser Konfliktdimension zurückzugehen.
Sowohl auf der sozio-kulturellen als auch auf der sozio-ökonomischen Konfliktdimension nähert sich die Linke an die beiden ihr wohl am nächsten stehenden Parteien, die Grünen und die SPD, an. Dies könnte ein etwaiges Regierungsbündnis der Parteien erleichtern und somit auch über die in der Einleitung ausgesprochene Kompromissbereitschaft hinaus eine Einladung an die beiden anderen linken Parteien sein, eine gemeinsame Koalition nicht auszuschließen.
Trotz der aktuellen Bewegung zur Mitte – Die Linke bleibt links
Und wie verhält sich die Dynamik der Parteiausrichtung in den letzten 30 Jahren? Auch hier zeigen die Daten die positionellen Verschiebungen, wobei zwischen den beiden Dimensionen unterschieden werden sollte (vgl. Abbildung 2). Bis zur Wahl 2009 verlief die sozio-ökonomische Ausrichtung der Linken zickzackförmig – mal war mehr und mal weniger Staat gefordert –, ab 2013 hingegen wird das vorherige, relativ konstante Niveau gebrochen und die Partei tendiert zu (noch) mehr staatlichen Eingriffen. Die sozio-kulturelle Dimension legt eine ähnliche Entwicklung nahe, wobei der Trend hin zu ausgeprägteren liberal-progressiven Werten bereits im Jahr 2009 sichtbar wird. Den beiden Dimensionen gemeinsam ist das Jahr 2017 das mit den „linkesten“ Positionen: Sowohl die liberal-progressive Ausrichtung als auch die Forderungen nach staatlichen Interventionen und Auffangnetzen waren zu keinem Zeitpunkt stärker ausgeprägt. Das Programm zur Bundestagswahl 2021 setzt diesen Trend zwar nicht fort, dennoch gehört es im zeitlichen Längsschnitt zu den linkeren Programmatiken. Daher sollte die erste Abbildung nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Partei von 2017 zu 2021 zwar einen Schritt (zurück) in die „politische Mitte“ geht, sie sich jedoch im Längsschnitt seit 1990 von dieser entfernt hat.
Gleichheit – das LINKE Kernthema Nummer eins
Das Wahlprogramm der Linken wird durch Themen rund um Gleichheit dominiert: Mehr als 17 % aller Statements widmen sich der Notwendigkeit von sozialer Gerechtigkeit. Die Aussagen kennzeichnen sich durch die Forderung zur Bekämpfung sozialer Spaltungen und Ungleichheit – sei es beispielsweise bei Lohnunterschieden, ungleichen Teilhabemöglichkeiten oder ungleichen Lebensverhältnisse zwischen Ost und West. Dazu gehört für die Linke beispielsweise die Einführung einer Vermögenssteuer für Privatvermögen ab einer Million Euro ohne Schulden. Zur Umsetzung gleicher Lebensverhältnisse setzt die Linke auf den Ausbau des Wohlfahrtsstaates. Ähnlich wie im Wahlprogramm 2017 nehmen diese Forderungen mit einem Anteil von rund 11 % den zweiten Platz im Wahlprogramm ein. Die Partei die Linke versteht sich als Vertreterin der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, was sich auch mit Platz 3 unter ihren wichtigsten Themen widerspiegelt.
Insgesamt bleibt die Partei sich bei ihren Themen treu. Lediglich die Forderung nach Abrüstung kommt im Jahr 2021 zu den zehn Kernthemen hinzu. Auslandseinsätze der Bundeswehr sollen beendet, Waffenexporte unterbunden werden und langfristig hält die Partei „an der Vision einer Welt ohne Armeen fest“ (S. 134). Ein möglicher Grund für die stärkere Betonung der Abrüstung sind die jährlich steigenden Ausgaben der Bundesregierung im Verteidigungshaushalt: Dem Bundesministerium der Verteidigung zu Folge stieg der Verteidigungsetat im vergangenen Jahr bereits um 2,8 %.
Der Vergleich der Wahlprogramme 2017 und 2021 ermöglicht eine weitere Erkenntnis: Während 2017 die Statements zur stärkeren Kontrolle der Wirtschaft bei rund 8 % lagen, haben sich diese 2021 mehr als halbiert und wurden aus den zehn Kernthemen gedrängt. Simultan dazu stieg jedoch der Anteil der Forderungen nach Marktregulierungsmaßnahmen stark an.[1] Während 2017 lediglich rund 2,5 % der Aussagen sich diesem Thema widmen, sind es im Wahlprogramm 2021 mehr als doppelt so viele. Dies bekräftigt die Ergebnisse aus Abbildung 1 und 2, welche nahelegen, dass die Rolle des Staates in der Wirtschaft bei der diesjährigen Wahl weniger salient ist als bei der vorherigen.
Auch die Klimakatastrophe geht nicht am Wahlprogramm der Linken vorbei. So ist ein leichter Anstieg der Statements bezüglich des Umweltschutzes und der Nachhaltigkeit auszumachen. Die Begründung orientiert sich auch hier an der sozialen Gerechtigkeit – die Forderung nach „Klimagerechtigkeit“ hat es sogar in den Titel des Wahlprogramms geschafft.
Klare Ziele – aber ohne Machtoption?
„Soziale Sicherheit, Frieden und Klimagerechtigkeit“ – diese drei Ziele hat sich die Linke auf die Fahnen (bzw. die Titelseite ihres Wahlprogramms) geschrieben. Unsere Analyse zeigt, dass drin ist was drauf steht. Unter den 10 wichtigsten Themen drehen sich die ersten drei um Fragen sozialer Gleichheit und Sicherheit, Nachhaltigkeit und Umweltschutz folgen auf Platz 4 und 7 und Abrüstung steht zumindest auf dem 9. Platz. Eine andere Frage ist dagegen, wie viele dieser Inhalte die Linke in der nächsten Legislaturperiode tatsächlich wird umsetzen können. Auch wenn sie Kompromissbereitschaft signalisiert, sind ihre Positionen dennoch am linken Rand angesiedelt. Im Sinne einer Koalitionsbildung stellt sich die kritische Haltung der Linken gegenüber der NATO als besonders problematisch heraus. Der Kanzlerkandidat der SPD, Olaf Scholz, äußerte sich dahingehend bereits und formulierte die Bedingung, nur mit Parteien zu koalieren, welche sich zur NATO bekennen. Im ersten Triell der Kanzlerkandidat:innen am 29. August hat Scholz eine Koalition mit der Linken, auch auf Drängen Laschets hin, aber nicht explizit ausgeschlossen. Allerdings ist der Abstand zur SPD bei sozio-ökonomischen Fragen im Vergleich zu 2017 deutlich gesunken und auf der sozio-kulturellen Dimension unterscheiden sie sich kaum von den Grünen. Ein rot-rot-grünes Bündnis scheint daher aus positioneller Sicht so machbar wie lange nicht, aus realpolitischer Sicht aber wohl immer noch relativ unwahrscheinlich.
Welche Koalitionsoptionen es gibt, welche Parteien in welchen Fragen gut miteinander könnten und was für Kompromisse die unterschiedlichen Koalitionen erfordern würden, das schauen wir uns im großen Staffelfinale an. Bis dahin machen wir eine kurze Pause und melden uns in der Wahlwoche zurück.
[1] Bei beiden Kategorien, Wirtschaftskontrolle und Marktregulierung geht es um die Regulierung der Wirtschaft durch den Staat. Allerdings sind die Eingriffe, die als Wirtschaftskontrolle kodiert werden, noch stärker, ein Beispiel ist der Mindestlohn. Bei Marktregulierung sind die Eingriffe etwas sanfter, zum Beispiel geht es hier um Verbraucherrechte.
Die Autor:innen
Sarah Hegazy ist seit 2021 studentische Hilfskraft im Manifesto-Projekt in der Abteilung „Demokratie und Demokratisierung“ am WZB. Sie studiert den Bachelorstudiengang Sozialwissenschaften mit Schwerpunkt Politikwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin.
Pola Lehmann ist Postdoc im Manifesto-Projekt in der Abteilung „Demokratie und Demokratisierung“ am WZB. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Parteien- und Wahlforschung. Sie promovierte zur Repräsentation im Deutschen Bundestag an der Humboldt- Universität zu Berlin und arbeitet mit unterschiedlichen Formen der Textanalyse (von quantifizierenden zu automatisierten Verfahren).
spannende Reihe, vielen Dank!
Das ist ebenso wie der Artikel über die Grünen ein sehr interessanter Artikel.
Ebenso wie bei dem vorigen o.a. Artikel würde mich sehr interessieren, wie Sie die strategisch mediale Gesamt-Positionierung der derzeitigen Linken Politik im Politikfeld Globale-Gerechtigkeit und/oder Globale-Klima-Gerechtigkeit (GKG) beurteilen würden oder noch besser in einem soziallagenspezifischen Politikfeld-Faktoren-Diagramm darstellen würden.
Wie wirkt soziallagenspezifisch die mediale GKG-Darstellung der Linken in Bezug auf das Wahlverhalten?