von Jan Berz
Im Hinblick auf die Wählergunst war der diesjährige Wahlkampf zu den Bundestagswahlen – zumindest auf den ersten Blick – enorm starken Schwankungen unterworfen. Nach einem Umfragehoch von 37% zu Beginn des Wahljahres erzielte die Union am Wahltag letztlich nur 24,1%, während die SPD nach einem Umfragetief von 15% im Januar letztendlich mit 25,7% als Wahlsiegerin hervorging. Doch hält dieser erste Eindruck auch der empirischen Analyse stand? In diesem Artikel vergleicht Jan Berz die Volatilität in den Wahlkampfjahren von 2002 bis 2021 anhand von Umfragedaten und zeigt auf, dass der Wählerwillen im Jahr 2021 tatsächlich volatiler war als in den vorangegangenen Wahlkampfperioden. Des Weiteren diskutiert er warum die Wahrscheinlichkeit extrem volatiler Bundestagswahlkämpfe im Zeitverlauf zugenommen hat und langfristig anhalten dürfte.

Unter Volatilität versteht die Politikwissenschaft und Statistik hierbei Veränderungen zwischen zwei Zeitpunkten wie beispielsweise die Veränderung in den Stimmenanteilen der Parteien in der ersten Umfrage des Wahljahres auf die zeitlich nächstgelegene Umfrage. Um die Volatilität der Bundestagswahlkämpfe empirisch zu erfassen nutze ich die zwischen dem 1. Januar eines Wahljahres bis zur Bundestagswahl veröffentlichten repräsentativen Wahlumfragen der renommierten Forschungsgruppe Wahlen für das Politbarometer. Hierbei betrachte ich alle Wahlkampfjahre zwischen 2002 und 2021, um einen langfristigen Vergleich zu ermöglichen. Zur Bestimmung der Volatilität des Wahlkampfes berechne ich die Nettoveränderung in den Stimmenanteilen aller ausgewiesenen Parteien, und der Kategorie ‚Sonstige‘, von einer veröffentlichten Umfrage des Politbarometers auf die jeweils nächste Umfrage.
Am Beispiel der letzten vor der Bundestagswahl veröffentlichten Umfrage des Politbarometers am 23. September (Union 23%, SPD 25%, Grüne 16.5%, FDP 11%, Die Linke 6%, AfD 10%, Sonstige 8,5%) des diesjährigen Wahljahres ergibt sich im Vergleich mit der vorangegangen Umfrage am 17. September (Union 22%, SPD 25%, Grüne 16%, FDP 11%, Die Linke 6%, AfD 11%, Sonstige 9%) eine Volatilität von 1.5%. Die so errechnete Prozentzahl zeigt auf, welcher Anteil der Wählerschaft seine Wahlabsicht zwischen zwei Umfragen verändert hat. Diese Messung der Wahlkampf-Volatilität überträgt somit die Logik des etablierten Pedersen-Indizes der – im Gegensatz zu den hier vorgestellten Berechnungen – die Volatilität in den endgültigen Wahlergebnisse zwischen einzelnen Wahlen erfasst.
Bei dieser Messung der Volatilität im Wahlkampf besteht in Wahljahren mit einem hohen Anteil an als ‚Sonstige‘ ausgewiesenen Parteien die Möglichkeit, dass die Volatilität des Wahlkampfes etwas unterschätzt wird, weil Veränderungen zwischen Umfragen innerhalb dieser Kategorie nicht erfasst werden können. Die hier vorgestellten Zahlen sind deshalb als konservativer Wert zu interpretieren – insbesondere, weil im diesjährigen Wahljahr der Anteil der als ‚Sonstige‘ ausgewiesenen Parteien mit durchschnittlich 7% vergleichsweise hoch lag.

Ein enorm volatiles Wahljahr
Abbildung 1 zeigt die Entwicklung der Umfrage-auf-Umfrage Volatilität in den sechs Wahljahren zwischen 2002 und 2021. Hierbei wird deutlich, dass sich die Volatilität des Wahlkampfes zwischen den sechs Wahljahren maßgeblich unterscheidet. Während im Wahlkampfjahr 2002 bis auf eine einzelne Umfrage keine Volatilität von über 2% auftrat, und sich somit das Stimmungsbild in der Bevölkerung über den Verlauf des Wahlkampfes nicht merklich veränderte, zeigten im Wahlkampfjahr 2021 drei von vier Umfragen eine Volatilität von über 2% und in vielen Fällen eine deutlich höhere Volatilität von bis zu 8%. Jedoch wird ebenfalls erkenntlich das bereits der Bundestagswahlkampf 2017, insbesondere zu Beginn des Wahljahres, von hoher Volatilität gekennzeichnet war, welche sich wahrscheinlich auf eine Reaktion der Wählerschaft auf die Bekanntgabe von Martin Schulz als Kanzlerkandidat der SPD Ende Januar 2017 zurückführen lässt. Deutlich wird ebenfalls, dass die Volatilität sowohl zu Beginn als auch zum Ende des Wahljahres besonders ausgeprägt ist und nicht auf den Start oder Ende des Bundestagswahlkampfes begrenzt ist.
Abbildung 2 verdeutlicht anhand der Verteilung der Umfrage-auf-Umfrage Volatilität in welchem Ausmaß Wahlkämpfe zwischen 2002 und 2021 in Tendenz immer volatiler geworden sind. Vergleicht man die Median-Werte in den Wahlkampfjahren 2002 und 2021 dann lässt sich ein Anstieg von 1.5% auf 3% verzeichnen. Ein Vergleich mit den Wahljahren 2005-2017 zeigt, dass es sich bei diesem Anstieg um keinen strikt linearen Trend handelt, jedoch verdeutlicht Abbildung 2 das über die Zeit die Volatilität des Bundestagswahlkampfes sichtbar zugenommen hat. Insbesondere extreme Stimmungsschwankungen, wie beispielsweise eine Umfrage-auf-Umfrage Volatilität von 7%, waren erstmals im Wahlkampfjahr 2017 zu verzeichnen. Plausibel ist ebenfalls der in Abbildung 2 erkenntliche Sprung in der Volatilität des Bundestagswahlkampfes von 2009 auf 2013, zu welchem der erstmalige Antritt der Alternative für Deutschland (AfD) maßgeblich beigetragen haben dürfte.

Warum war der diesjährige Wahlkampf so volatil?
Könnte es sich bei der diesjährigen Bundestagswahl um einen einmalig extrem volatilen Bundestagswahlkampf gehandelt haben und inwiefern ist mit einem andauernden Trend hin zu immer volatileren Bundestagswahlkämpfen zu rechnen? Zunächst gibt es einige Gründe, die für eine Besonderheit des diesjährigen Bundestagswahlkampfes sprechen. Die Anwesenheit von drei, anstelle der üblichen zwei, aussichtsreichen Kandidat*innen auf das Bundeskanzleramt dürfte die Wahrscheinlichkeit erhöht haben, dass ein größerer Anteil der Wählerschaft innerhalb des Wahljahres ihre Stimmabsicht auf Grund des erhöhten Angebots an Persönlichkeiten und Regierungsagenden überdacht hat. Insbesondere das erstmalige TV-Triell der Kanzlerkandidat*innen vermittelte den Wähler*innen ein breites Angebot Persönlichkeiten und Agenden.
Darüber hinaus waren die Kandidat:innen in diesem Wahlkampf in eine Vielzahl von (vermeintlichen) politischen Skandalen verwickelt: Armin Laschets Gelächter nach der Flutkatastrophe im Juli, die Kontroverse um Anna-Lena Baerbocks Lebenslauf und vermeintliches Buchplagiat, die Durchsuchung einer Stelle des Finanzministeriums unter der Führung des Kanzlerkandidaten Olaf Scholz. Diese Skandale dürften maßgeblich dazu beigetragen haben das in der diesjährigen Bundestagswahl ein besonders hoher Anteil der Wählerschaft ihre Bewertung der Kanzlerkandidat*innen – und in Folge ihre Wahlabsicht – im Laufe des Wahljahres überdacht haben. Zudem dürfte die Union zu Beginn dieses Wahljahres noch von einem durch die Corona-Pandemie ausgelösten rally-round-the-flag Effekt profitiert haben, der zu hohen Umfragewerten führte. Dieser in Krisen- und Kriegssituationen häufig zu beobachtende Effekt beschreibt das sich Wähler*innen in nationalen Notlagen auf die Regierung verlassen und diese im hohen Maße unterstützen. Die Abnahme dieses rally-round-the-flag Effektes durch die zunehmende Normalisierung der Corona-Pandemie, und ihrem nach dem Start der Impfkampagne scheinbarem Ende, machte eine signifikante Stimmungsschwankung im Bundestagswahljahr bereits wahrscheinlich.
Volatile Wahlkämpfe – ein langfristiger Trend?
Langfristige Entwicklungen deuten jedoch auch auf zukünftige Bundestagswahlkämpfe mit extremer Volatilität hin. So ist ein immer geringerer Anteil der Wähler*innen langfristig an Parteien gebunden. In der Folge nimmt der Anteil der Wechselwähler*innen, die von Bundestagswahl zu Bundestagswahl ihre Stimmabgabe revidieren, und somit die Wahrscheinlichkeit eines volatilen Bundestagswahlkampfes erhöhen, zu. Mit der zunehmend ungebunden Wählerschaft geht zudem eine Krise der beiden einstigen Volksparteien CDU und SPD einher, die auch nach dieser Bundestagswahl weiterhin anhalten dürfte. Zwar konnte die SPD mit ihrem diesjährigen Wahlergebnis ihren Negativtrend aus den vier vorangegangenen Bundestagswahlen stoppen, jedoch erzielte sie im historischen Vergleich trotzdem ihr viert schlechtestes Ergebnis bei einer Bundestagswahl; während die CDU Sogar nie zuvor weniger Stimmen erhielt als 2021.
Die Schwäche der ehemals dominanten Parteien CDU und SPD erhöht die Komplexität der Regierungsbildung nach der Bundestagswahl und macht Koalitionsregierungen mit drei Parteien wahrscheinlicher. Infolgedessen hat sich die Anzahl möglicher, im Bundestagswahlkampf von Medien und Politiker*innen diskutierter, Koalitionskonstellationen erhöht und die Klarheit von Koalitionsaussagen verringert. Wähler*innen ohne feste Parteibindung, die eine Präferenz für eine bestimmte Regierungskoalition haben, dürften somit je nach taktischen Überlegungen, und dem jeweils aktuellen Umfragestand, im Verlauf des Wahlkampfes ihre Absicht zur Stimmabgabe überdenken und zur Volatilität von Wahlkämpfen beitragen. Die anhaltende Schwäche der Volksparteien macht es zudem wahrscheinlich, dass zukünftige Bundestagswahlkämpfe den Wähler*innen abermals mehr als zwei Kanzlerkandidat*innen zur Auswahl stellen werden.
Der Bundestagswahlkampf gestaltete sich im Jahr 2021 im Vergleich mit den fünf vorherigen Wahljahren als extrem volatil. Höchstwahrscheinlich dürften zukünftige Bundestagswahlkämpfe diesem Beispiel folgen und von hohen Stimmungsschwankungen unter den Wähler*innen gekennzeichnet sein.
Jan Berz ist Juniorprofessor für Politikwissenschaft am Department of Political Science, Trinity College Dublin. Seine Forschungsinteressen sind Wahlverhalten, Personalisierung der Politik, politische Parteien und Regierungschefs.