Zwischen den Stühlen: Kann eine Regionalpartei Bundestag?
von Juliane Hanel, Sarah Hegazy, Leonie Schwichtenberg, Leila van Rinsum
„Politik skandinavisch gestalten“ ist der Slogan des Südschleswigschen Wählerverbands (SSW). Die Partei wurde 1948 als Vertretung der dänischen Minderheit und der friesischen Volksgruppe in Schleswig-Holstein gegründet und befindet sich nach der letztjährigen Bundestagswahl erstmals seit 1953 im Deutschen Bundestag. Wegen einer Ausnahmeregelung zur Repräsentation von Minderheiten gilt die Fünf-Prozent-Hürde nicht.[1] Die Partei kann zwar nur in Schleswig-Holstein gewählt werden, doch auf ihrer Agenda stehen keinesfalls nur lokale Interessen. Insbesondere Themen der sozialen Gerechtigkeit wie Wohlfahrtsstaatsausbau, Mindestlohnanstieg auf 13 Euro und die Abschaffung des § 219a StGB, der Informationen zu Schwangerschaftsabbrüchen unter Strafe stellt, spielen eine zentrale Rolle im Wahlprogramm des SSW. Auch das Jahrhundertthema Klimakrise wird von der Partei aufgegriffen: „Schon in den 1970er Jahren, bevor die Grünen überhaupt existierten, hatte der SSW vergeblich vor der Nutzung der Kernenergie sowie vor enormen Risiken und Problemen gewarnt.” (S. 22). Wie der SSW den Spagat zwischen lokaler und bundesweiter Interessenvertretung meistert und was von der weitestgehend unbekannten Partei zu erwarten ist, haben wir durch eine Analyse des Wahlprogramms zur Bundestagswahl 2021 herausgearbeitet.
Dieser Beitrag ist Teil einer Serie zu den Wahlprogrammen der deutschen Parteien zur vergangenen Bundestagswahl am 26. September 2021. Immer montags (am sogenannten Manifesto Monday) erschien ein Beitrag zu jeweils einem Wahlprogramm. Der Südschleswigsche Wählerverband ist seit 1953 zum ersten Mal wieder im Bundestag mit einem Abgeordnetem vertreten. Deshalb beschäftigen wir uns in diesem Spezial mit der inhaltlichen Schwerpunktsetzung des Wahlprogramms. Die Daten dazu erheben wir im Rahmen des Manifesto-Projekts am WZB. Detailliertere Information zu Projekt und Methodik lassen sich sowohl auf unserer Webseite als auch in einem Überblicksblogartikel auffinden. Im Rahmen der Kodierung des Manifesto-Projekts bewerten wir für jede Aussage in den Wahlprogrammen, welches politische Ziel eine Partei verfolgt. Insgesamt unterscheiden wir dabei 76 unterschiedliche politische Ziele, von Umweltschutz und Wohlfahrtsstaatsausbau über freie Marktwirtschaft, Demokratie und Menschenrechte. Der heutige Beitrag stellt das Wahlprogramm der Partei Südschleswigscher Wählerverband vor.
Der SSW sitzt zwischen SPD und Grünen
Mit der vergangenen Bundestagswahl änderten sich die Mehrheitsverhältnisse der Fraktionen deutlich und somit entfachte ein Streit über die Sitzordnung des 20. Bundestags. Denn wer wo sitzt, hat einen maßgeblichen Einfluss auf die Außenwahrnehmung der politischen Ausrichtung der Parteien. Der Konflikt über die Sitzordnung ist auch ein Streit um die Deutungshoheit der Parteien. Vor diesem Hintergrund lohnt ein Blick auf die Sitzreihen des Bundestags: der fraktionslose SSW-Abgeordnete Stefan Seidler findet zwischen den Grünen und der SPD seinen Platz.
Diese Einordnung deckt sich zumindest in der sozio-ökonomischen Konfliktdimension mit der in Abbildung 1 dargestellten Positionierung des SSW im zweidimensionalen politischen Raum. Unsere Analyse der Wahlprogramme positioniert den SSW somit in inhaltlicher Nähe zu Grünen und SPD. Gemeinsam mit der Partei Die Linke sind diese vier Parteien in dem Quadranten links-unten zu verorten: Auf der sozio-kulturellen Konfliktdimension eint sie die liberal-progressive Einstellung; auf der sozio-ökonomischen Konfliktdimension dominiert der Leitsatz Mehr Staat als Markt.
Es fällt auf, dass die Position des SSW auf beiden Dimensionen die größte Nähe zu den Grünen aufweist. In sozio-kultureller Hinsicht ist der SSW die zweit liberal-progressivste Partei. Lediglich die Linke steht gesellschaftspolitisch weiter links. Liberal-progressive Positionen umfassen u.A. die Ablehnung nationalstaatlichen Denkens und positive Bezugnahmen auf Demokratie, Freiheit sowie Menschen- und Bürgerrechte. Ein Blick auf die sozio-ökonomische Dimension zeigt, dass der SSW auch hier links steht und gemäß dem skandinavischen Vorbild auf eine vorsorgende und umfassende Sozialpolitik setzt. Dazu gehören beispielsweise Forderungen nach einer Vermögenssteuer und einem neuen solidarischen Sozialstaatsmodell, welches Hartz IV überwindet. Lediglich Linke und SPD sind in ihren sozio-ökonomischen Positionen linker und setzten sich noch mehr für staatliche Interventionen und einen stärkeren Ausbau des Wohlfahrtstaats ein als der SSW.
Im Kern südschleswigsch: Skandinavischer Sozialstaat und Minderheitenschutz
Wie schon im Vergleich anhand der zwei Dimensionen erkennbar, zeigt der SSW auch in seinen Kernthemen Parallelen zu den Grünen, der Linken und der SPD auf. In der Themensetzung spiegelt sich das Spannungsfeld von bundespolitischen Themen und lokalen Bezügen wider.
Abbildung 2 zeigt die am häufigsten genannten Themen in dem Wahlprogramm des SSW. An der Spitze steht Gleichheit. Der SSW fordert Maßnahmen zur Gleichbehandlung der Geschlechter, sexueller Orientierungen, Menschen mit Migrationshintergrund und Menschen mit Behinderung. So fordert er zum Beispiel die Abschaffung des Ehegattensplittings und dass jeder Mensch ungeachtet seiner sexuellen Orientierung Blut spenden darf. Einmalig an der Schwerpunktsetzung des SSW ist sein Fokus auf Themen, die Schleswig-Holstein und den Minderheitenschutz betreffen. Er fordert die Unterstützung wirtschaftlich schwächerer Regionen und einen erhöhten Schutz der dänischen und friesischen Minderheit in Deutschland. Hier geht der SSW zudem über seinen regionalen Schwerpunkt hinaus, positioniert sich als Vertreter aller Minderheiten und fordert so auch Gleichberechtigung für Sorb*innen, Sinti*zze und Rom*nja.
Die zweithäufigste Kategorie im Wahlprogramm ist der Ausbau des Wohlfahrtsstaats. Hier hat der SSW ein klares Vorbild: Skandinavien. Die Leitmotive sind somit Universalismus und Gleichheit. Es soll ein staatlicher Haftungsfonds für Hebammen nach dänischem Beispiel eingeführt werden sowie ein „Housing First“-Konzept gegen Wohnungslosigkeit wie in Finnland. Auch das schwedische Rentenmodell soll „geprüft“ werden, bei dem hohe Sozialleistungen zum Beispiel durch eine höhere Mehrwertsteuer und gesetzliche Rentenbeiträge an den Kapitalmarkt mitfinanziert werden. Insgesamt setzt sich der SSW zudem gegen die Privatisierung öffentlicher Gesundheitsleistungen und für den Ausbau der Betreuungsinfrastruktur in öffentlicher Hand ein. Auch der Klima- und Umweltschutz ist beim SSW eine Priorität. Das Pariser Klimaabkommen soll schneller umgesetzt werden, die Verkehrswende eingeläutet und die erneuerbaren Energien ausgebaut werden. Hier zeigt sich auch ein starker lokaler Fokus: Der SSW fordert den Schutz des Meeresraums und ein gerechtes Standortauswahlverfahren für Atomendlager – beides Themen, von denen Schleswig-Holstein besonders stark betroffen ist. Im Bereich Infrastruktur steht der SSW für einen Ausbau des öffentlichen Personennahverkehrs und für eine bessere Anbindung ländlicher Gegenden in Norddeutschland. Das fünfthäufigste Thema ist der Arbeitnehmer*innenschutz. Diesen betrachtet der SSW vor allem im Kontext der Corona-Krise und fordert unter anderem verbesserte Bedingungen für das Pflegepersonal und Maßnahmen für das Home-Office.
Potenzial für bundesweiten Minderheitenschutz
Insgesamt hat der SSW eine klare Vision auf bundespolitischer Ebene: mehr Wohlfahrtsstaat, soziale Gerechtigkeit und Klimaschutz. Der Bezug auf Minderheitenrechte und Schleswig-Holstein zieht sich als Querschnittsthema durch die anderen Bereiche. Dies ist ein Alleinstellungsmerkmal des SSW: es ist die einzige Partei, bei der die Kategorie Minderheitenschutz in den Top-Ten-Themen zu finden ist.
Besonders mit dem Thema Minderheitenschutz präsentiert der SSW einen Themenbereich mit bundesweiter Relevanz. Als Partei der dänischen Minderheit steht diese an erster Stelle und wird zum ersten Mal seit langem im Bundestag repräsentiert. Der SSW macht sich zudem für Sorb*innen, Sinti*zze und Rom*nja stark, die politisch unterrepräsentiert, aber bundesweit anzufinden sind. Ebenso setzt er sich für Minderheiten wie LGBTIQ* Personen, Migrant*innen oder Menschen mit Behinderung ein.
Trotz Bundespolitik auf der Agenda verliert der SSW nicht den lokalen Bezug und räumt der Politik für das Bundesland Schleswig-Holstein im Wahlprogramm viel Platz ein. Dies ist verständlich, um die dortige Wählerschaft anzusprechen, hat aber an vielen Stellen keine bundesweite Relevanz. Auch der Titel des Wahlprogramms macht deutlich, wo der Schwerpunkt liegt: „Deine Stimme für Schleswig-Holstein“. So sitzt der SSW nicht nur zwischen SPD und den Grünen, sondern auch geografisch zwischen den Stühlen: zwischen Lokal- und Bundespolitik.
Im Zuge des Manifesto Mondays wurde analysiert, welche programmatischen Verschiebungen zwischen den 2017er und den 2021er Wahlprogrammen auszumachen sind. So ein Zeitvergleich der SSW-Bundestagswahlprogramme ist hier nicht möglich, umso interessanter ist jedoch der Ausblick:
Wie wird sich der Einzug des SSW in den Bundestag auf das Wahlprogramm für die kommende Bundestagswahl auswirken? Wird die Konfrontation mit der Bundespolitik einen nennenswerten Einfluss auf die Programmatik nehmen oder wird sich die parteipolitische Ausrichtung des SSW halten? Wird das Bundestagswahlprogramm einen stärkeren bundesweiten Fokus bekommen oder steht der SSW auch 2025 noch zu seiner Lokalpolitik?
[1] https://www.bundestag.de/parlament/bundestagswahl/nationale-minderheiten-852886
Die Autorinnen
Juliane Hanel ist seit 2019 studentische Hilfskraft im Manifesto-Projekt in der Abteilung Demokratie & Demokratisierung am WZB. Sie studiert den Masterstudiengang Cognitive Systems: Language, Learning and Reasoning an der Universität Potsdam.
Sarah Hegazy ist seit 2021 studentische Hilfskraft im Manifesto-Projekt in der Abteilung Demokratie und Demokratisierung am WZB. Sie studiert den Bachelorstudiengang Sozialwissenschaften mit Schwerpunkt Politikwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin.
Leonie Schwichtenberg ist studentische Hilfskraft im Manifesto-Projekt in der Abteilung Demokratie & Demokratisierung am WZB und studiert den Masterstudiengang Sociology: European Societies an der Freien Universität Berlin.
Leila van Rinsum ist Forschungsassistentin im Manifesto-Projekt in der Abteilung Demokratie & Demokratisierung am WZB und studiert derzeit im Master Internationale Beziehungen (MAIB), ein gemeinsamer Studiengang der Humboldt Universität zu Berlin, der Freien Universität Berlin und der Universität Potsdam.