Kurz gesagt: Die Abgeordnetenhauswahl in Berlin offenbarte große Unterschiede zwischen Ost und West bezogen auf das Abschneiden einzelner Parteien. Wir gehen in diesem Beitrag der Frage nach, ob es tatsächlich ein spezifisches Wahlverhalten in Ost- und Westberlin gibt, oder, ob eine ungleiche Verteilung von wahlentscheidungsrelevanten Strukturfaktoren zwischen den beiden Teilen der Stadt, wie etwa sozio-ökonomischer Status oder Anteil von Personen mit Migrationshintergrund im jeweiligen Wahllokalbezirk, für diese Unterschiede verantwortlich ist. Unsere Analysen auf Basis der mehr als 1700 Wahllokalbezirke zeigen, dass das Wahlergebnis für die SPD, CDU, Die Linke und die FDP maßgeblich durch spezifisches Verhalten in Ost und West bestimmt wird, während sich Unterschiede für die Grüne und vor allem die AfD vor allem aufgrund der divergierenden Verteilung von Strukturfaktoren ergeben.
Konkret hängt das Abschneiden der Parteien von vielen Faktoren ab; besonders relevant sind der sozio-ökonomische Status einer Wohngegend – ein hoher Status wirkt sich positiv auf die Grünen, die FDP und Die Linke aus, während gerade die AfD von einem geringeren Status profitiert – und der Migrantinnenanteil im Kiez. Hier bestätigen sich Hinweise von kürzlich stattgefunden Wahlen, da erneut die AfD dort gut abschneidet, wo es wenig Personen mit Migrationshintergrund gibt. Für die Grünen gilt das Gegenteil. Schließlich zeigt ein Blick auf die Wahlbeteiligung, dass nur die AfD wirklich vom Anstieg der Wahlbeteiligung profitiert hat, sie aber gleichsam schlecht abschneidet, wenn das Niveau der Wahlbeteiligung relativ hoch war. Anders: die AfD mobilisiert dort, wo bei der letzten Wahl kaum Interesse an der Abgeordnetenhauswahl vorhanden war.
Eine gespaltene Stadt?
Berlin hat gewählt. Wenn man ehrlich ist und die letzten Landtagswahlen, Bundestrends und Prognosen für die Abgeordnetenhauswahl zur Kenntnis genommen hat, dann überrascht das Ergebnis nicht wirklich. Vieles an dieser Wahl ist zwar einzigartig in der bundesdeutschen Geschichte, wie etwa der stimmanteilschwächste Wahlsieger aller Zeiten, oder, dass fünf Parteien jeweils fast 15 oder mehr Prozent der Zweitstimmen gewonnen haben. Aber eine Überraschung? Nein, dafür waren die Anzeichen im Vorfeld zu eindeutig.
Deutlich interessanter ist die Tatsache, dass scheinbar nicht Berlin, sondern augenscheinlich Ost- und Westberlin getrennt gewählt haben. Zu klären bleibt zudem, welche Faktoren letztlich über das Abschneiden der einzelnen Parteien entschieden haben. Die nach Erststimmenerfolg eingefärbte Karte mit Wahlkreisgrenzen ging durch die Medien – und natürlich durch die sozialen Netzwerke. Kennt man sich ein wenig mit dem Verlauf der ehemaligen Grenze zwischen Ost- und Westberlin aus, so fällt vor allem eine lokale Häufung von Farben, etwa Schwarz für die CDU im Nord- und Südwesten oder Lila für Die Linke im Osten der Stadt auf. Und natürlich das Hellblau der AfD an den nord- und südöstlichen Rändern der Stadt. Diese Verteilung deutet schon auf relevante Unterschiede zwischen Ost- und Westberlin hin. Wie auf Bundesebene hat die Zweitstimme für die Mehrheitsverhältnisse im Parlament ein größeres Gewicht. Hier sind die Unterschiede noch deutlicher, da Stimmenkonzentrationen aus Sorge, eine Stimme an eine chancenlose Kandidatin zu „verschwenden“, keine große Rolle spielen. Zudem sind diese Unterschiede politisch relevanter, da ja auch die Verteilung zwischen den Parteien insgesamt und nicht nur wie bei den Erststimmen der Gewinn eines Wahlkreises von politischer Bedeutung ist.
In Abbildung 1 sind die Zweitstimmenunterschiede zwischen Ost- und Westberlin für alle Parteien zu sehen, die den Einzug ins Abgeordnetenhaus geschafft haben. Die Berechnung erfolgt auf Grundlage der vorläufigen, offiziellen Zweitstimmenergebnisse (Informationen zu den Datengrundlagen und den Analysemethoden, die in diesem Beitrag verwendet werden, finden sich unten). Es ergibt sich ein Bild, das den oben beschriebenen Unterschieden bei den Erststimmen ähnelt und das wir auch von der Bundesebene oder früheren Wahlen zum Abgeordnetenhaus kennen. Insbesondere die CDU, aber auch die SPD, die Grünen und die FDP schneiden in Westberlin deutlich besser ab, während Die Linke in Ostberlin deutlich erfolgreicher ist. Die AfD schnitt in Ostberlin ebenfalls deutlich besser ab.
Abbildung 1: Zweitstimmenunterschiede zwischen Ost- und Westberlin

Ist Berlin also das perfekte Beispiel für die Existenz zweier unterschiedlicher, geographisch bestimmbarer Wählerschaften – mehr als 25 Jahre nach der Wiedervereinigung? Abbildung 1 spricht klar für eine solche Unterteilung Berlins. Die Feststellung, dass Berlin nicht gleich Berlin ist, macht man spätestens nach 20 Minuten in der Ringbahn oder bei einer Fahrt mit dem M29. Was dabei aber eben auch auffällt ist, dass die Heterogenität Berlins keineswegs auf einen Unterschied zwischen Ost und West reduziert werden kann, sondern eigentlich viel kleinteiliger beschrieben werden muss. In beiden Teilen der Stadt gibt es arme Kieze, aber genauso auch Reihenhaussiedlungen und Vorstadtvillen. Die Unterschiede zwischen der Bergmannstraße in Kreuzberg und der Kastanienallee im Prenzlauer Berg beschränken sich auf Tramgleise, 50 Cent mehr für den Milchkaffee und die Tatsache, dass man in letzterer den schwäbischen Akzent nicht mehr verstecken muss. Das bedeutet nicht, dass bestimmte Wohnumfelder – und damit verbunden bestimmte Bevölkerungsgruppen – zufällig über die Stadt verteilt sind. Natürlich gibt es bestimmte Häufungen in Ost- und Westberlin und ein Zusammenhang zwischen Charakteristika eines Kiezes und den Wahlergebnissen ist nicht von der Hand zu weisen. Liegt der Fokus auf allein Ost und West, ist dies trotzdem vielleicht eher irreführend als hilfreich. Die Grünen sind in Westberlin nicht per se erfolgreicher, sondern sie werden eher von Personen aus besseren Wohngegenden gewählt, die eben wiederum in West- häufiger als in Ostberlin zu finden sind. Das deckt sich auch mit anderen Studien, etwa einer Untersuchung zu Xenophobie von Peter Selb und Johannes Müller, die letzterer in der ZEIT vorgestellt hat. Ausländerfeindlichkeit ist in Ostdeutschland weiter verbreitet und stärker ausgeprägt, weil sich die Bevölkerung anders zusammensetzt als im Westen. Xenophobie begünstigende Merkmale wie geringeres Einkommen sind leider in Ostdeutschland häufiger vorhanden. Personen mit gleichen Merkmalen weisen aufgrund eines ost- oder westdeutschen Hintergrunds aber keine Unterschiede bezüglich xenophober Einstellung auf.
Ost vs. West oder arm vs. reich bzw. homogen vs. heterogen?
Um der Frage auf den Grund zu gehen, ob wir es in Berlin tatsächlich mit zwei getrennten Elektoraten oder um die ungleiche Verteilung von bestimmten Wohngegenden zwischen Ost- und Westberlin zu tun haben, präsentieren wir im Folgenden die Ergebnisse einiger Analysen auf Ebene der mehr als 1700 Berliner Wahllokalbezirke. Unsere Analyse kann zudem dazu genutzt werden, die für die Abgeordnetenhauswahl wirklich entscheidenden Faktoren für das Abschneiden der einzelnen Parteien zu identifizieren. Es handelt sich dabei also um Aggregatdatenanalysen, weshalb es auch um den Nachweis von Mustern und nicht um Kausalzusammenhänge geht. Der Einfachheit halber sprechen wir trotzdem von Effekten sowie abhängigen und unabhängigen Variablen.
Die Ergebnisse in den Abbildungen 2 bis 4 entstammen Regressionsanalysen mit dem jeweiligen Zweitstimmenanteil einer Partei in einem Wahllokalbezirke als abhängige Variable (weiterführende Information finden sich unten). Wir nutzen sieben unabhängige Variablen in diesen Modellen und überprüfen, inwiefern systematische Zusammenhänge mit dem Wahlerfolg einer Partei vorliegen. Alle unabhängigen Variablen wurden standardisiert, so dass die Einflussstärke dieser Faktoren direkt verglichen werden kann. Im Einzelnen berücksichtigen wir einen Indikator, der den sozio-ökonomischen Status im Einzugsgebiet des Wahllokalbezirks misst (hohe Werte bedeuten einen hohen Status). Dieser berücksichtigt Kurz- und Langzeitarbeitslosigkeit, wohlfahrtsstaatliche Transferbezüge und Kinderarmut. Wir verwenden zusätzlich einen Indikator, der den Entwicklungstrend dieses Status misst (hohe Werte bedeuten eine positive Entwicklung). Das Ausmaß von Altersarmut und den Anteil von Personen mit Migrationshintergrund (ohne Berücksichtigung der Staatsbürgerschaft) sind ebenfalls Bestandteile des Modells. Zwei weitere unabhängige Variablen bilden die Wahlbeteiligung sowie die Veränderung dieser im Vergleich zur letzten Abgeordnetenhauswahl im Jahr 2011 (hohe Werte bedeuten eine höhere Wahlbeteiligung 2016). Schließlich beinhaltet das Modell auch eine binäre Zuordnung zu Ost- und Westberlin.
Abbildung 2 gibt Auskunft darüber, ob sich auch unter Kontrolle dieser Faktoren ein Ost-West-Effekt feststellen lässt. Dabei werden für jede der sechs künftig im Abgeordnetenhaus vertretenen Parteien die Effektstärke und eine Irrtumswahrscheinlichkeit angegeben (95%-Konfidenzintervall). Schneidet ein Konfidenzintervall die senkrechte Linie am Nullpunkt, ist davon auszugehen, dass für diese Partei und die entsprechende unabhängige Variable kein Zusammenhang besteht. In der Abbildung bedeuten positive Werte einen höheren Zweitstimmenanteil in Westberlin, weshalb wir von einem „Westberlineffekt“ sprechen.
Abbildung 2: Westberlineffekt

Ein zu schneller Blick auf die Grafik könnte zu der Annahme führen, dass wir es tatsächlich mit zwei unterschiedlichen Elektoraten zu tun haben. Das ist prinzipiell auch richtig: Für alle sechs Parteien ergeben sich signifikante Zusammenhänge und diese sind vor allem für die CDU und Die Linke auch außerordentlich stark. Mit anderen Worten der „Westberlineffekt“ verschwindet nicht, wenn wir auf die anderen Faktoren im Schätzmodell kontrollieren.
Wieso ist es aber nur teilweise richtig, dass wir es in Ost und West mit einer unterschiedlichen Wählerschaft zu tun haben? Hier gibt das Ergebnis für die Grünen und die AfD den entscheidenden Hinweis. Wie in Abbildung 2 zu sehen, gewinnt die AfD in Westberlin mehr Stimmen als in Ostberlin; bei den Grünen ist es andersherum. Wie wir aus Abbildung 1 wissen, ist dies aber natürlich realiter nicht der Fall. Diese Abweichung wird nicht durch eine geringe Qualität der Modelle hervorgerufen. Der Anteil an erklärter Varianz liegt in der Regel bei 60 Prozent oder mehr mit der Ausnahme des SPD-Modells (hier sind es nur knapp 40 Prozent). Vielmehr bilden die Koeffizienten den Einfluss von „Westberlin“ ab, wenn alle anderen Variablen über alle Wahllokalbezirke hinweg auf ihrem empirischen Mittelwert liegen. Wenn sich also die Mittelwerte der Variablen zwischen Ost- und Westberlin stark unterscheiden, wie dies etwa beim Anteil von Personen mit Migrationshintergrund der Fall ist, und der Gesamtmittelwert eher dem Westberliner Mittelwert entspricht – was ebenfalls der Fall ist, da mehr Menschen in Westberlin leben und damit auch dort mehr Wahllokalbezirke existieren – dann kommen solche Effekte zustande. Mit anderen Worten: wir finden nicht für jede der Parteien einen Hinweis auf zwei getrennte Elektorate, sondern zumindest Hinweise, dass die auf die unabhängigen Variablen bezogene unterschiedliche Verteilung von Wohnumfeldsmerkmalen, also demographische und sozio-ökonomische Faktoren, ebenfalls eine Rolle spielt.
Diesem Hinweis kann man mithilfe einer Mittelwertdifferenzdekomposition nachgehen. Einfach ausgedrückt liefert diese Methode eine Schätzung über die Gründe für Mittelwertsunterschiede zwischen zwei Gruppen – hier also für die Differenz der Stimmanteile in Ost- und Westberlin, jeweils für die einzelnen Parteien. Dabei wird überprüft, ob diese Unterschiede auf ungleiche Verteilungen von Merkmalen zurückgehen oder ob der Effekt dieser Merkmale auf die Zielvariable zwischen den Gruppen unterschiedlich ist. In unserem Fall können wir damit etwa zeigen, ob der Unterschied im Zweitstimmenergebnis der SPD zwischen Ost und West maßgeblich auf eine ungleiche Verteilung von Wahllokalbezirken etwa bezüglich sozio-ökonomischen Status, Wahlbeteiligung oder Migrantinnenanteil zurückzuführen ist (Verteilungseffekt) oder ob sich etwa eine hohe Wahlbeteiligung in Westberlin stärker auf die SPD auswirkt als im Osten der Stadt (Wirkungseffekt).
Abbildung 3

Ein Blick auf Abbildung 3 bestätigt den Eindruck aus der vorangegangen Grafik. Je größer der rote Balken – also der Verteilungseffekt – desto mehr sind Stimmanteilsunterschiede zwischen Ost- und Westberlin auf Unterschiede in den Merkmalen der Wahllokalbezirke in Ost und West zurückzuführen. Offensichtlich ist dies bei den Grünen und bei der AfD mit Abstand stärker ausgeprägt als bei den anderen Parteien. Würden sich also Ost- und Westberlin stärker in Bezug auf die untersuchten Merkmale ähneln, dann würden sich auch die Wahlergebnisse dieser beiden Parteien zwischen den beiden Teilen der Stadt angleichen. Es ist also kein divergierendes Verhalten, dass die Unterschiede hervorruft, sondern eine Folge der zwischen Ost und West systematisch existierenden, strukturellen Heterogenität. In ganz Berlin begünstigen dieselben Faktoren die Wahl etwa der AfD, diese Faktoren sind aber so verteilt, dass die AfD eher in Ostberlin erfolgreich ist.
Für die vier anderen Parteien gilt dies nicht. Hier kann man tatsächlich von einem divergierenden Verhalten am Wahlsonntag sprechen. In Wahllokalbezirken mit bestimmten Merkmalen wird in Ostberlin Die Linke bevorzugt, während sich derselbe Bezirk in Westberlin eher z.B. für die SPD ausspricht. Wir haben also teilweise ein getrenntes Elektorat und teilweise einen regionalen Verteilungseffekt. Das mag banal klingen, sollte aber helfen, die eher überschaubare Komplexität der Debatte um zum Beispiel Wahlerfolge von rechtspopulistischen Parteien wie der AfD produktiv zu bereichern.
Wo du lebst bestimmt wer gewinnt!
Zum Schluss noch ein kurzer Blick auf ein paar Faktoren, die mit einem Erfolg oder Misserfolg der einzelnen Parteien bei der Abgeordnetenhauswahl einhergehen. Diese Ergebnisse lassen sich leicht vergleichbar zum „Westeffekt“ aus den Regressionsanalysen auf Aggregatsebene ableiten und können helfen, das Wahlergebnis besser einzuordnen. Die Interpretationslogik ist identisch zu jener, die Abbildung 2 zugrunde liegt. Aus Platzgründen beschränken wir uns auf die Rolle von sozio-ökonomischen Status des Wahllokalbezirks, den Migrantinnenanteil und die Wahlbeteiligung.
Der sozioökonomische Status wie auch der Migrantinnenanteil spielen für die Wahl aller Parteien eine wichtige Rolle (Abbildung 4). Grüne, FDP und etwas überraschend Die Linke sind vor allem in Gegenden erfolgreich, die sozio-ökonomisch besser gestellt sind und einen höheren Migrantinnenanteil aufweisen. Die SPD gewinnt eher in sozial schwächeren Kiezen mit vielen Personen mit Migrationshintergrund. Für CDU und AfD ergibt sich letztlich ein identisches Muster: bei beiden hilft eine schlechtere sozio-ökonomische Situation und wenig Migrantinnen beim Wahlerfolg. Zumindest für die AfD zeigt sich somit das altbekannte Muster von schlechter sozialer Lage und wenig Kontakt zu „Fremden“ als Motor für eine rechtspopulistische Gesinnung. Diese Zusammenhänge sind in Berlin noch deutlicher als sie es bei der Wahl in Hamburg im letzten Jahr waren (s. Beitrag von Arndt Leininger) Auf der anderen Seite sieht man auch die Besonderheit Berlins, wo die sozio-ökonomisch besser gestellten Kieze eben nicht konservativ wählen, sondern dann doch eher bei den Grünen verortet sind.
Abbildung 4

Die Wahlbeteiligung war in den letzten Jahren eines der großen Themen der deutschen Demokratie. Zuerst ging es lang um die Frage, wie wenig Wahlbeteiligung eine Demokratie aushalten kann und ob die Selbstexklusion weiter Teile der Bevölkerung nicht das empirische Phänomen der Krise der modernen Demokratie sei. Seit kurzem hat sich der Diskurs etwas gedreht, da ein positiver Trend für die Wahlbeteiligung zu beobachten ist, dies aber vor allem mit dem Erstarken der AfD einhergeht und in Verbindung gebracht wird. Das Bild der AfD-Wählerin als klassischer Nichtwählerin, die nun wieder oder erstmals zum Gang an die Wahlurne motiviert wurde, wurde der Bevölkerung am Wahlabend und den Tagen danach medial geradezu aufgedrängt. Hat die AfD auch in Berlin von einer stark gestiegenen Wahlbeteiligung profitiert und welche Effekte haben solche Entwicklungen auf die anderen Parteien?
Abbildung 5

Auch bezüglich der Wahlbeteiligung ist die Antwort komplexer als der öffentliche Diskurs erwarten lässt (Abbildung 5). Eine hohe Wahlbeteiligung war bei der Abgeordnetenhauswahl prinzipiell eher eine Katastrophe für die AfD. Dort wo viele Leute zur Wahl gingen, schneidet die AfD viel schlechter ab als andernorts. Dies gilt auch, aber deutlich weniger stark für die SPD und Die Linke. Auf der anderen Seite profitieren vor allem die Grünen von einer hohen Wahlbeteiligung. Interessant ist aber, dass die AfD als einzige Partei von einem Anstieg der Wahlbeteiligung im Vergleich zur letzten Abgeordnetenhauswahl in einem Kiez profitiert. Nichtwählerinnen scheinen sich tatsächlich vor allem für die AfD zu entscheiden. Wo die Wahlbeteiligung 2011 noch gering war, gab es natürlich auch mehr Potential für einen Anstieg und dieser drückte sich vor allem in Stimmen für die AfD aus. Dieser Effekt ist jedoch relativ klein im Vergleich zur Rolle, welche die Wahlbeteiligung an sich oder der Anteil an Personen mit Migrationshintergrund für das Wahlergebnis der AfD spielen.
Was bleibt ist die Feststellung, dass wir es in Berlin tatsächlich mit einem zwischen Ost und West gespaltenen Elektorat zu tun haben. Gleichzeitig beeinflusst dies den Erfolg einzelner Parteien – der Grünen und der AfD – weit weniger als bei anderen Parteien. Für die Grünen und die AfD sind die kontextuellen Unterschiede zwischen Ost- und Westberlin entscheidend. Tatsächlich sind Faktoren wie sozio-ökonomische Lage, Anteil an Migrantinnen und auch Wahlbeteiligung sehr gut in der Lage, die Wahlergebnisse der einzelnen Parteien auf Ebene der Wahllokalbezirke vorherzusagen. In Summe bestätigt dieser Beitrag also Annahmen über die Quellen der rechtspopulistischen Wahlerfolge: geringer sozio-ökonomischer Status und geringer Anteil von Personen mit Migrationshintergrund sowie ein Anstieg der Wahlbeteiligung sichern Wahlerfolge der AfD. Auf der anderen Seite zeigen wir auch, dass ein differenzierterer Diskurs durchaus hilft. So ist Erfolg der AfD kein ostdeutsches Phänomen, sondern die Konsequenz von sozialen Lagen, die in Ostberlin bzw. Ostdeutschland häufiger als im Westen vorkommen. Letztlich sollten diese Ergebnisse natürlich durch Umfragedaten untermauert werden, um tatsächlich Aussagen über Kausalzusammenhänge treffen zu können. Eine entsprechende Umfrage – durchgeführt im Rahmen der Deutschen Wahlstudie GLES von Mitgliedern der Abteilung ‚Demokratie und Demokratisierung‘ des WZBs – liegt vor und die Ergebnisse werden Anfang Oktober unter anderem hier veröffentlicht.
Datengrundlage und Methoden
Datenquellen
Abgeordnetenhauswahlergebnisse 2016, Landeswahlleiterin für Berlin; Umgerechnete Ergebnisse der Abgeordnetenhauswahlergebnisse 2011 auf die Wahlgebietseinteilung 2016: Amt für Statistik Berlin-Brandenburg; Sozio-demographische Indikatoren auf LOR-Planungsraumebene, Bericht “Monitoring Soziale Stadtentwicklung Berlin 2015” der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt
Briefwahl
Grundsätzlich werden die Stimmen von Briefwählerinnen über Briefwahllokale erfasst, die für jeweils ein bis mehrere Urnenwahlbezirke zuständig sind. Die Briefwahlstimmen wurden für diese Analyse auf die sie umfassenden Wahllokalbezirke entsprechend der Größe der jeweilig wahlberechtigten Bevölkerung in den Urnenwahlbezirken aufgeteilt. Also handelt es sich hier um Näherungswerte, wobei ein systematischer Verzerrungseffekt für die durchgeführten Analysen nicht zu erwarten ist.
Räumliche Daten/Integration der LOR-Planungsraumebene
Die 447 Planungsräume im System „Lebensweltlich orientierte Räume“ (LOR) sind nicht deckungsgleich mit den 1779 Wahllokalbezirken. Ihre sozio-demographischen Indikatoren wurden deshalb entsprechend der Größe der geographischen Überlappung auf die jeweilig umfassten Wahllokalbezirke umgerechnet. Erneut stehen also nur Näherungswerte zu Verfügung.
Seemingly unrelated regression
Für die multivariate Identifikation der Zusammenhänge verschiedener Faktoren und dem Zweitstimmenergebnis der sechs Parteien wurden Regressionen berechnet. Da die Zweitstimmenergebnis logisch und mathematisch nicht unabhängig voneinander sind – der Gewinn einer Partei bedeutet Verluste für mindestens eine andere Partei – wurden die sechs Regressionen über die jeweiligen Fehlerterme, also als seemingly unrelated regressions, miteinander verknüpft. Dies erlaubt eine sinnvollere Schätzung der Effekte.
Konfidenzintervalle
Streng genommen bedarf es keiner Konfidenzintervalle, da es sich bei den untersuchten Fällen nicht um eine Zufallsauswahl, sondern eine Vollerhebung der Wahllokalbezirke handelt. Wir verwenden nichtsdestotrotz Konfidenzintervalle, um die jeweiligen Präzision der Einflussgrößen zu veranschaulichen.
Mittelwertdifferenzdekomposition
Dieses Verfahren wird oftmals in der Ungleichheitsforschung verwendet und ist auch unter dem Namen Oaxaca-Blender-Methode bekannt. Wir verwenden hier die von Ben Jann umgesetzte ‚gepoolte‘ Methode.