Am 5. Juni stimmte die Schweizer Stimmbevölkerung ĂŒber die EinfĂŒhrung eines bedingungslosen Grundeinkommens ab. Sie wurde mit groĂer Mehrheit abgelehnt. Warum diese Initiative wie andere VorstöĂe linker Couleur an der Stimmurne geringe Erfolgschancen haben, erklĂ€rt Christoph Mayer.
Foto von Stefan Bohrer – https://www.flickr.com/photos/generation-grundeinkommen/10577574344/
Mehr Demokratie wagen, und was die Linke davon hat. Ein Blick in die Schweiz gibt Einblick
Die BĂŒrgerinnen und BĂŒrger der Schweiz sind zur Revolution befugt. Die Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft sieht eine Totalrevision ihrer selbst qua Volksabstimmung vor.[1] Bislang sah die Stimmbevölkerung allerdings davon ab, Gebrauch von ihrem Privileg zu machen. Stattdessen stimmte sie seit der konstitutionellen BegrĂŒndung des schweizerischen Bundesstaates im Jahr 1848 ĂŒber mehr als 600 sachbezogene Fragen auf Bundesebene ab. Hinzukommen tausende Abstimmungen auf Kantons- und Gemeindeebene.
Am 5. Juni wurde ĂŒber die EinfĂŒhrung eines bedingungslosen Grundeinkommens entschieden. Dass das Thema an die Stimmurne gelangte, die Abstimmung zudem international fĂŒr Schlagzeilen sorgte, war ein Erfolg fĂŒr sich. Der Medienhype spiegelt jedoch nicht die Aufmerksamkeit wider, die die politischen Eliten dem Thema widmeten: Einen Wahlkampf gab es faktisch nicht, weil die Gegner zuversichtlich sein konnten, dass das Thema ohnehin keine Mehrheiten generieren wird.
Vorhaben einschlĂ€giger politischer Couleur, selbst wenn sie gemĂ€Ăigter sind als die Initiative fĂŒr ein Grundeinkommen, haben es in der Alpenrepublik meist schwer. Dies gilt zumal fĂŒr Volksentscheide: Seit 2010 sind etwa Initiativen, die darauf abzielten, die LĂ€nge des Mindesturlaubs anzuheben, betriebliche LohngefĂ€lle einzuebnen, einen gesetzlichen Mindestlohn einzufĂŒhren, die öffentliche Krankenversicherung zu stĂ€rken oder groĂe Erbschaften zu besteuern, bei Volksabstimmungen gescheitert.
Die verpasste Stunde der Linken
Dabei proklamierten Gewerkschaften und Arbeiterparteien Ende des 19. Jahrhunderts in der noch jungen helvetischen Republik selbstbewusst den Ausbau der Mitwirkungsrechte. Ihr Ziel war es, die Mehrheiten des Freisinns und der konservativen ReprÀsentanten im Parlament auf direktdemokratischem Weg zu umgehen. Die politischen KrÀfteverhÀltnisse im Konflikt zwischen Kapital und Arbeit sollten so zugunsten der aufstrebenden Linken verschoben werden.
Was die Idealisten[2] von damals auch heute noch auf ihrer Seite wĂŒssten, ist die sogenannte Robin-Hood-These. Diese besagt, dass die Bevölkerungsmehrheit angesichts einer rechtsschiefen Einkommensverteilung von umverteilenden MaĂnahmen profitieren wĂŒrde. Die Massen der unteren und mittleren Einkommensschichten befĂŒrworteten daher eine Politik, die den Reichen nimmt und es den weniger Reichen gibt. Folgt man dieser These, mĂŒsste die StimmbĂŒrgerschaft der Schweiz distributive MaĂnahmen per Volksabstimmung forcieren.[3]
Nun lĂ€sst sich der Robin-Hood-Effekt fĂŒr die eingangs erwĂ€hnten Volksinitiativen der jĂŒngsten Geschichte nicht bestĂ€tigen. Stimmkampagnen von linker Seite können aber durchaus erfolgreich sein, obgleich sie dies in der Vergangenheit nur unter engen Voraussetzungen waren.
Wann, so lautet deshalb die erkenntnisleitende Frage des Beitrags, erlangen linke Positionen Mehrheiten bei Volksentscheiden? Analysiert werden dafĂŒr verteilungspolitisch relevante Abstimmungen mit wirtschafts-, sozial- und fiskalpolitischem Bezug.[4] Die Ergebnisse der Auswertung stammen aus einer eigenen Untersuchung aus dem Jahr 2014.
Funktion und Verfahren der Schweizer Direktdemokratie
Um die Ergebnisse von Volksabstimmungen bewerten zu können, mĂŒssen die zentralen Verfahren der direkten Demokratie, ihre Funktion und Wirkungsweise bekannt sein. Auf Schweizer Bundesebene sind insbesondere drei Instrumente von Bedeutung: Erstens, die Volksinitiative, die es den stimmberechtigten BĂŒrgerInnen ermöglicht, VerfassungsĂ€nderungen per Unterschriftensammlung (mind. 100.000) einzureichen und an der Urne zur Abstimmung zu stellen. Mit dem fakultativen und dem obligatorischen Referendum stehen der Stimmbevölkerung zudem zwei Instrumente zur VerfĂŒgung, die es ermöglichen, ĂŒber ein vom Parlament bereits verabschiedetes Gesetz oder eine VerfassungsĂ€nderung mit abschlieĂender Entscheidungshoheit abzustimmen. Im Fall des fakultativen Referendums wird nach erfolgreicher Unterschriftensammlung (mind. 50.000 Unterschriften) ĂŒber eine Vorlage abgestimmt. Bestimmte BeschlĂŒsse des Parlaments, die etwa die Ausgaben- und Bundesfinanzordnung oder den Beitritt zu supranationalen Gemeinschaften betreffen, sind abstimmungspflichtig – sie unterliegen dem obligatorischen Referendum und gelangen automatisch an die Urne.
In der folgenden Analyse wurden 23 Abstimmungen zu fakultativen Referenden, 20 Abstimmungen zu Volksinitiativen (bei drei parlamentarischen GegenentwĂŒrfen) sowie acht Abstimmungen zu obligatorischen Referenden berĂŒcksichtigt.
Wer profitiert von Volksabstimmungen?
Von den Abstimmungsvorlagen mit linker Ausrichtung wurde nur jede vierte an der Urne angenommen (25,8 Prozent). Hingegen hatten von den Vorlagen mit rechter Ausrichtung 65,2 Prozent Erfolg (Schaubild 1). Noch deutlicher fĂ€llt der Unterschied zwischen linken und rechtslastigen Vorlagen aus, wenn nur jene berĂŒcksichtigt werden, die einen dezidierten politischen Anspruch verfolgten: WĂ€hrend weitreichende linke Forderungen bei Volksabstimmungen fast immer chancenlos waren, haben dezidiert rechte Vorlagen eine Erfolgsquote von 60,0 Prozent.
Der Erfolg von Abstimmungen variiert also sowohl hinsichtlich der politischen Zielrichtung als auch hinsichtlich der StĂ€rke der Vorlagen. Wird zudem nach Abstimmungstypen, das heiĂt nach Volksinitiativen, fakultativen und obligatorischen Referenden unterschieden, fĂ€llt das Bild noch eindeutiger aus. Dezidiert linke Volksinitiativen waren bei den StimmbĂŒrgerInnen faktisch chancenlos: Alle Initiativen mit dezidiertem Anspruch erzielten keine Mehrheiten, wĂ€hrend rechtslastige Vorlagen in obligatorischen Referenden immer ein âJaâ erhielten.
Diese Ergebnisse zeigen, dass linke Positionen in der Direkten Demokratie der Schweiz marginalisiert sind. BerĂŒcksichtigt man jedoch nur jene Abstimmungen, die eine Eigenwirkung haben, in denen das Votum der StimmbĂŒrgerschaft also von jenem des Parlaments abweicht, dann waren meist linke Positionen an der Urne mehrheitsfĂ€hig. In Zahlen ausgedrĂŒckt: In drei Viertel der FĂ€lle (75,9 Prozent) votierte die Stimmbevölkerung zwar in Ăbereinstimmung mit der Empfehlung des Parlaments. Linke Positionen hatten dabei meist das Nachsehen. Wenn die Stimmbevölkerung jedoch von der parlamentarischen Empfehlung hoheitlich abwich, dann tat sie dies in 85,3 Prozent der FĂ€lle nach links (Schaubild 2). Insgesamt betrifft das aber nur 25 Prozent (13 FĂ€lle) der Abstimmungen.
Die gesellschaftliche und politische Linke in der Schweiz wĂŒrde nun wohl kaum von sich behaupten, dass sie mittels der direktdemokratischen Einflussmöglichkeiten eine programmatische Verschiebung der politischen KrĂ€fteverhĂ€ltnisse erreicht hĂ€tte. Vielmehr wundert es nicht, dass die beiden groĂen linken Organisationen bei Volksabstimmungen hĂ€ufig das Nachsehen hatten. Sowohl die Parolen der sozialdemokratischen Partei der Schweiz (SP; 42,6 Prozent) als auch die Empfehlungen des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB; 35,2 Prozent) erzielten in deutlich weniger als der HĂ€lfte der Abstimmungen Mehrheiten (Schaubild 3).
Das schlechte Abschneiden der SP hĂ€ngt vermutlich auch damit zusammen, dass sich die Partei mit ihren Empfehlungen meist in Opposition zu den ĂŒbrigen Regierungsparteien – der nationalistisch-populistischen SVP, der marktliberalen FDP und der konservativen CVP â befand (57,5 Prozent). Schaubild 4 unterstĂŒtzt diese Annahme: Die Parteien waren mit ihren Parolen meist dann erfolgreich, wenn sie sich in einer Koalition mit mindestens zwei der drei anderen Regierungsparteien befanden. Bemerkenswert ist, dass die SP die höchste Erfolgsquote aller Regierungsparteien aufweist, wenn diese in zwei Lager mit je zwei Parteien geteilt waren (87,5 Prozent). Gespaltene Regierungskonstellationen gab es jedoch nur acht Mal, bei allen anderen Abstimmungen schlossen sich mindestens drei Regierungsparteien zusammen.
Die hier vorgestellten Befunde konstatieren, dass sowohl die politische Zielrichtung von Abstimmungsvorlagen, die StÀrke der Vorlagen als auch die Empfehlungen der Regierungsparteien das Stimmergebnis potentiell beeinflussen. Aber haben diese Bestimmungsfaktoren tatsÀchlich einen direkten Effekt auf den Ausgang von Volksabstimmungen?
Schaubild 5 ist zu entnehmen, dass dies auf die Empfehlungen der politischen Elite zutrifft. So wurden Vorlagen, hinter denen eine groĂe Koalition aus mindestens drei Parteien stand â fĂŒr die Ausrichtung der Vorlagen kontrolliert â hĂ€ufiger angenommen als Vorlagen, die nicht von einer Regierungsmehrheit unterstĂŒtzt wurden. DarĂŒber hinaus zeigt sich aber auch, dass die StimmbĂŒrgerschaft eine eigene politische Agenda verfolgt, die moderat nach rechts tendiert. So erwiesen sich moderate Vorlagen als zustimmungsfĂ€higer als dezidiert richtungspolitische Vorlagen. Vorlagen mit moderat rechter StoĂrichtung, hinter denen eine groĂe Koalition stand, wurden zudem hĂ€ufiger angenommen als Vorlagen mit moderat linker Zielsetzung, ceteris paribus.
AbschlieĂend lĂ€sst sich festhalten, dass linke Positionen bei Volksabstimmungen in der Schweiz meist erfolglos bleiben. DafĂŒr gibt es mindestens drei GrĂŒnde. Erstens, die politische Elite stellt sich meist gegen die Annahme linker und hinter die Annahme rechter Vorlagen, und deren Parolen beeinflussen die StimmbĂŒrgerInnen in ihrer Entscheidungsfindung. Zweitens, tendiert die Stimmbevölkerung zu moderat rechten Positionen, weswegen sie drittens, dem von linker Seite rege genutzten Instrument der Volksinitiative viel seltener zu Wirkung verhilft.
Einsichten und Aussichten
Die stimmberechtigten EidgenossInnen haben das bedingungslose Grundeinkommen mit einem deutlichen âNeinâ von 76,9 Prozent verworfen, zumal die Initiative nicht einmal von der SP UnterstĂŒtzung erhielt. Die Parlamentsfraktion der SP lehnte die Vorlage mehrheitlich ab, weil sie die SchwĂ€chung der bestehenden Sozialsysteme befĂŒrchtete.
Nun hat die Sozialdemokratische Partei der Schweiz in ihrem Wahlprogramm 2010 festgeschrieben, dass sie die Ăberwindung des Kapitalismus anstrebt und einen âdemokratischen Sozialismusâ als Vision verfolgt. [5] Im Sinne der programmatischen KohĂ€renz wĂ€re eine Ablehnung der Initiative daher ĂŒberzeugender gewesen, wenn dies mit Verweis auf die SystemabhĂ€ngigkeit des Grundeinkommens geschehen wĂ€re, welches sich durch die kapitalistische Akkumulation und dem nachgelagerten VerteilungsverhĂ€ltnis erst erzeugen und abschöpfen lĂ€sst.
Die Gewerkschaften warten indes mit einer anderen Initiative auf die noch ausstehende Stunde der Linken. Im September gelangt eine Vorlage des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes an die Stimmurne, welche die gesetzliche Rente stĂ€rken und Altersarmut zurĂŒckdrĂ€ngen will. Auch in der Bundesrepublik wird, wenn auch indirekt, ĂŒber dieses Thema abgestimmt werden – bei den Wahlen zum 19. deutschen Bundestag.
Christoph Mayer hat Politikwissenschaft in Konstanz, Freiburg, Potsdam, Berlin und Budapest studiert. Seine Masterarbeit ĂŒber die direkte Demokratie in der Schweiz reichte er bei Wolfgang Merkel ein. Er arbeitete als studentische Hilfskraft in der Abteilung Demokratie und Demokratisierung am WZB uns ist seit 2014 wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Stiftung Soziale Gesellschaft â Nachhaltige Entwicklung in Berlin.
[1] Der Autor bittet um Nachsicht bei der Verwendung des Begriffs Volk, wenn er mangels geeignet erscheinender Alternativen Begrifflichkeiten wie Volksabstimmung oder Volksentscheid beibehÀlt. Die Definition von Volk ist nicht ethnisch, sondern explizit politisch im Sinne von demos.
[2] Idealistinnen, die sich fĂŒr das angestrebte Ziel einsetzten, waren damals wohl nicht mit von der Partie: Bis 1971 wussten die stimmberechtigten MĂ€nner den Frauen das Wahl- und Stimmrecht per direktdemokratischem Mehrheitsentscheid zu verweigern.
[3] Freitag, M., Vatter, A., & MĂŒller, C. (2003). Bremse oder Gaspedal? Eine empirische Untersuchung zur Wirkung der direkten Demokratie auf den Steuerstaat. Politische Vierteljahreszeitschrift, 44(3), 348â369.
[4] Als im Ergebnis links werden Abstimmungen gewertet, die eine verteilende Wirkung von oben nach unten zur Folge haben, eine Mehrverteilung von Finanzmitteln fĂŒr die öffentliche DaseinsfĂŒrsorge und die Sozialversicherungen bewirken oder Abstimmungsvorlagen verhindern, deren Annahme einen gegenteiligen Effekt zur Folge gehabt hĂ€tte. Zudem werden Abstimmungen als in ihrem Ergebnis links gewertet, wenn sie die Rechte oder Mittel von ArbeitnehmerInnen oder benachteiligter Gesellschaftsgruppen wie Arbeitslose und MieterInnen stĂ€rken, oder wenn Vorlagen abgelehnt werden, die darauf abzielten, die Rechte und Mittel dieser Gruppen zu verringern.
[5] Sozialdemokratische Partei der Schweiz (2010): Parteiprogramm. FĂŒr eine sozial-ökologische Wirtschaftsdemokratie, online unter: file:///C:/Users/ASUS/Desktop/parteiprogramm_fuer_eine_sozial-oekologische_wirtschaftsdemokratie_2010.pdf, zuletzt abgerufen am 2. Juni 2016.