Folgendes Interview ist zuerst bei ZEIT Campus ONLINE am 22.06.2016 erschienen.
Parteien seien out unter jungen Intellektuellen, kurzfristiges Engagement im Netz oder bei Amnesty zÀhle. Ein Parteiforscher erklÀrt, wie sich die junge Linke verÀndert.
ZEIT Campus ONLINE: Herr Merkel, Deutschlands Studenten bezeichnen sich, wie Umfragen regelmĂ€Ăig zeigen, weiterhin in groĂer Zahl als politisch links. Gleichzeitig sind sie aber kaum noch in Parteien oder â wie derzeit etwa in Frankreich â auf der StraĂe in groĂer Zahl zu finden. Wo spielt sich junges Linkssein eigentlich derzeit ab?
Wolfgang Merkel: In der Tat hat sich die Form des politischen Engagements junger linker Menschen deutlich verĂ€ndert. Die GroĂorganisationen, zu denen man sich gewissermaĂen ein Leben lang zugehörig fĂŒhlt, haben rasant an Bedeutung verloren. Parteien sind unter jungen Intellektuellen wirklich out, ein langfristiges Engagement wĂŒnschen sich ohnehin nur die Wenigsten. Die Tendenz geht dagegen zur kurzfristigen und aktiven Beteiligung in zivilgesellschaftlichen Organisationen wie Amnesty International, Attac oder in Umweltinitiativen. Auch im Netz gibt es durchaus Formen einer digitalen Zivilgesellschaft, in der sich junge Linke bisweilen engagieren.
ZEIT Campus ONLINE:Â Und inhaltlich?
Merkel: Auch da lĂ€sst sich eine ganz spannende Entwicklung beobachten â und die geht weg von der Verteilungspolitik. Die Frage danach, wie sich gesellschaftlicher Wohlstand gerecht verteilen lĂ€sst, war ja seit jeher der Wesenskern linker Politik. Und der ist unter jungen Linken heute fast gĂ€nzlich in den Hintergrund getreten. Stattdessen dominieren kulturelle und identitĂ€tspolitische Themen, ĂŒber die sich junges Linkssein heute definiert. Das zentrale progressive Anliegen ist mittlerweile die unbedingte Gleichstellung von Minderheiten. Das können ethnische, religiöse oder sexuelle Minderheiten sein.
Gerade im Fall der Religion hat dies jedoch hochproblematische Konsequenzen: Denn die junge Linke neigt dazu â entgegen einer aufklĂ€rerischen oder marxistischen Tradition der Religionskritik â Religion unter ImmunitĂ€tsschutz zu stellen und Kritik am Islam unmittelbar als “rechts” oder als “Phobie” zu brandmarken. Linke Religionskritik gerĂ€t dann in Vergessenheit, kritische Diskurse werden schlicht nicht mehr gefĂŒhrt â und das ist ein groĂes Problem.
ZEIT Campus ONLINE:Â Gibt es also gewissermaĂen ein selbst auferlegtes Sprachverbot in der Linken?
Merkel: So hart wĂŒrde ich nicht es formulieren, aber sicherlich gibt es so etwas wie Zonen diskursiver ImmunitĂ€t. Und die darf man eben erst betreten, wenn man vorher drei Minuten ein Bekenntnis abgelegt hat, dass man kein Rechter, nicht xenophob ist und auch fĂŒr offene Grenzen ist. Und dann darf man vielleicht irgendwann darĂŒber reden, ob die Minderheitspositionen fĂŒr die man ja â im Ăbrigen mit vollem Recht â eintritt nicht möglicherweise selbst kritisiert werden dĂŒrfen. Beim Islam sieht man sehr deutlich, dass ein freier Diskurs kaum zugelassen wird, sondern entsprechende Positionen sofort mit VorwĂŒrfen ĂŒberzogen werden. Ein Diskussionsverbot kann nicht links sein.
ZEIT Campus ONLINE: Die junge Linke ist also weniger an Verteilungsfragen interessiert, engagiert sich aber umso mehr fĂŒr kulturelle, identitĂ€tspolitische Themen. Und ihr Diskurs ist dabei ein in Teilen restriktiv geworden. Welche VerĂ€nderungen lassen sich darĂŒber hinaus beobachten?
Merkel: Ein ganz wichtiger Punkt ist, dass sich die junge Linke heute ganz eindeutig kosmopolitisch orientiert. Das heiĂt, Gerechtigkeitsfragen werden nicht mehr im nationalen Kontext, etwa anhand von sozial- oder lohnpolitischen Auseinandersetzungen, verhandelt. Stattdessen geht es um globale ZusammenhĂ€nge, der Nationalstaat wird dagegen als ĂŒberholt und gestrig betrachtet. Auch dies ist ein Bruch mit einer klassisch linken, sozialdemokratischen Tradition, in der SolidaritĂ€t und Gemeinschaft etwas ganz Konkretes, Nachbarschaftliches war und Wirtschaftspolitik als Nationalökonomie verstanden wurde. Dieses, an den unmittelbaren Lebenswelten und dem Nationalstaat orientierte PolitikverstĂ€ndnis ist einer globalen Orientierung gewichen.
ZEIT Campus ONLINE: Wenn man die von Ihnen beschriebenen Entwicklungen zusammennimmt, lĂ€sst sich damit auch ein StĂŒckweit die derzeit wieder diskutierte Entfremdung der sogenannten “einfachen Leute” von der politischen Linken erklĂ€ren? SchlieĂlich konnte sich der Hilfsarbeiter vermutlich noch nie sonderlich fĂŒr geschlechtergerechte Sprache begeistern, und der Nationalstaat erscheint doch gerade in Zeiten beschleunigter Modernisierung als letztes Ordnungsprinzip in einer zunehmend unĂŒbersichtlichen Welt.
Merkel: Der von Ihnen angesprochene Entfremdungsprozess ursprĂŒnglich linker Kernklientel von ihren einstigen ReprĂ€sentanten ist sicherlich sehr vielschichtig. GrundsĂ€tzlich lĂ€sst sich aber sagen: Die Globalisierung hat Gewinner und Verlierer geschaffen und die Linke in ganz Europa vermag es kaum mehr, die Globalisierungsverlierer an sich zu binden. Diese Leute â prekĂ€r BeschĂ€ftigte, Arbeitslose oder kleine Angestellte â wĂ€hlen nun in groĂer Zahl rechtspopulistisch. Das gilt auch fĂŒr Arbeiter mit autoritĂ€ren Einstellungen, auch wenn diese als Facharbeiter keineswegs zu den Verlierern der Globalisierung zĂ€hlen.
Dabei hat diese Form der Protestwahl sicherlich kulturelle GrĂŒnde, denn verteilungspolitisch ist die Positionierung der Rechtspopulisten keinesfalls einheitlich. Die Parteien unterscheiden sich hier von Land zu Land stark. Der Front National etwa fordert erhebliche Umverteilungen, wĂ€hrend die Schweizer Volkspartei eher neoliberal ausgerichtet ist. Was sie jedoch eint, ist ein konsequent anti-europĂ€ischer Kurs sowie eine klar national-chauvinistische Ausrichtung. Dies spricht WĂ€hlergruppen an, die sich zu den Verlierern der Modernisierungsprozesse der letzten Jahrzehnte zĂ€hlen, vom öffentlichen Diskurs ausgeschlossen wĂ€hnen und sich eine RĂŒckkehr zu bekannten Strukturen und klar geordneten Lebenswelten wĂŒnschen. Diesen subjektiv wie objektiv abgedrĂ€ngten Gruppen hat die Linke, tief im kulturellen Kosmos der Mittelschichten verankert, bisher wenig angeboten.
ZEIT Campus ONLINE:Â Zudem hat man ja bisweilen das GefĂŒhl, dass die junge Linke diese neue und tiefgreifende Polarisierung mit einem Achselzucken, einer Mischung aus Desinteresse, Herablassung und Ratlosigkeit betrachtet.
Merkel: In der Tat. Die junge, intellektuelle Linke hat den Bezug zu der Unterklasse im eigenen Land fast gĂ€nzlich verloren. Da gibt es vonseiten der Gebildeten weder eine SensibilitĂ€t noch eine Aufmerksamkeit und schon gar keine Verbindungen mehr. Die Linke hat sich eben kosmopolitisiert und, wie gesagt, ihren politischen Schwerpunkt auf eine kulturelle Ebene verlagert, und eben auf dieser Ebene unterscheiden sich die Milieus der hoch und weniger Gebildeten deutlich voneinander. Dieser Verlust der Kommunikation zwischen den Klassen, wenn ich diesen Begriff einmal verwenden darf, ist massiv und ein Problem fĂŒr die soziale Gerechtigkeit.
Wir sehen das ĂŒbrigens nicht nur im Diskurs. Auch in den Lebensstilen und Werthaltungen sind die Differenzen zwischen “oben” und “unten” sowie den urbanen und lĂ€ndlichen Milieus unĂŒbersehbar. Das drĂŒckt sich dann auch im Abstimmungsverhalten bei Wahlen aus. Ăhnliches können wir zum Beispiel auch im Heiratsverhalten beobachten. Klassenstrukturen prĂ€gen hier ganz enorm. Menschen suchen ihre Partner in der eigenen Schicht und im gleichen Bildungsstand. Dies verschĂ€rft die soziale Spaltung und Segregation unserer Gesellschaften noch weiter. Im Schatten der wachsenden kulturellen SensibilitĂ€t der Linken ist also eine neue Klassengesellschaft entstanden. Und diese Klassengesellschaft ist bislang zumindest nicht Thema des jungen intellektuellen Diskurses.
Das Interview wurde gefĂŒhrt von Robert Pausch und ist unter folgendem Link im Original bei ZEIT Campus ONLINE abrufbar:
http://www.zeit.de/campus/2016-06/politisches-engagement-junge-linke-studenten-parteizugehoerigkeit/komplettansicht