Am 5. Juni stimmte die Schweizer Stimmbevölkerung über die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens ab. Sie wurde mit großer Mehrheit abgelehnt. Warum diese Initiative wie andere Vorstöße linker Couleur an der Stimmurne geringe Erfolgschancen haben, erklärt Christoph Mayer.
Mehr Demokratie wagen, und was die Linke davon hat. Ein Blick in die Schweiz gibt Einblick
Die Bürgerinnen und Bürger der Schweiz sind zur Revolution befugt. Die Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft sieht eine Totalrevision ihrer selbst qua Volksabstimmung vor.[1] Bislang sah die Stimmbevölkerung allerdings davon ab, Gebrauch von ihrem Privileg zu machen. Stattdessen stimmte sie seit der konstitutionellen Begründung des schweizerischen Bundesstaates im Jahr 1848 über mehr als 600 sachbezogene Fragen auf Bundesebene ab. Hinzukommen tausende Abstimmungen auf Kantons- und Gemeindeebene.
Am 5. Juni wurde über die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens entschieden. Dass das Thema an die Stimmurne gelangte, die Abstimmung zudem international für Schlagzeilen sorgte, war ein Erfolg für sich. Der Medienhype spiegelt jedoch nicht die Aufmerksamkeit wider, die die politischen Eliten dem Thema widmeten: Einen Wahlkampf gab es faktisch nicht, weil die Gegner zuversichtlich sein konnten, dass das Thema ohnehin keine Mehrheiten generieren wird.
Vorhaben einschlägiger politischer Couleur, selbst wenn sie gemäßigter sind als die Initiative für ein Grundeinkommen, haben es in der Alpenrepublik meist schwer. Dies gilt zumal für Volksentscheide: Seit 2010 sind etwa Initiativen, die darauf abzielten, die Länge des Mindesturlaubs anzuheben, betriebliche Lohngefälle einzuebnen, einen gesetzlichen Mindestlohn einzuführen, die öffentliche Krankenversicherung zu stärken oder große Erbschaften zu besteuern, bei Volksabstimmungen gescheitert.
Die verpasste Stunde der Linken
Dabei proklamierten Gewerkschaften und Arbeiterparteien Ende des 19. Jahrhunderts in der noch jungen helvetischen Republik selbstbewusst den Ausbau der Mitwirkungsrechte. Ihr Ziel war es, die Mehrheiten des Freisinns und der konservativen Repräsentanten im Parlament auf direktdemokratischem Weg zu umgehen. Die politischen Kräfteverhältnisse im Konflikt zwischen Kapital und Arbeit sollten so zugunsten der aufstrebenden Linken verschoben werden.
Was die Idealisten[2] von damals auch heute noch auf ihrer Seite wüssten, ist die sogenannte Robin-Hood-These. Diese besagt, dass die Bevölkerungsmehrheit angesichts einer rechtsschiefen Einkommensverteilung von umverteilenden Maßnahmen profitieren würde. Die Massen der unteren und mittleren Einkommensschichten befürworteten daher eine Politik, die den Reichen nimmt und es den weniger Reichen gibt. Folgt man dieser These, müsste die Stimmbürgerschaft der Schweiz distributive Maßnahmen per Volksabstimmung forcieren.[3]
Nun lässt sich der Robin-Hood-Effekt für die eingangs erwähnten Volksinitiativen der jüngsten Geschichte nicht bestätigen. Stimmkampagnen von linker Seite können aber durchaus erfolgreich sein, obgleich sie dies in der Vergangenheit nur unter engen Voraussetzungen waren.
Wann, so lautet deshalb die erkenntnisleitende Frage des Beitrags, erlangen linke Positionen Mehrheiten bei Volksentscheiden? Analysiert werden dafür verteilungspolitisch relevante Abstimmungen mit wirtschafts-, sozial- und fiskalpolitischem Bezug.[4] Die Ergebnisse der Auswertung stammen aus einer eigenen Untersuchung aus dem Jahr 2014.
Funktion und Verfahren der Schweizer Direktdemokratie
Um die Ergebnisse von Volksabstimmungen bewerten zu können, müssen die zentralen Verfahren der direkten Demokratie, ihre Funktion und Wirkungsweise bekannt sein. Auf Schweizer Bundesebene sind insbesondere drei Instrumente von Bedeutung: Erstens, die Volksinitiative, die es den stimmberechtigten BürgerInnen ermöglicht, Verfassungsänderungen per Unterschriftensammlung (mind. 100.000) einzureichen und an der Urne zur Abstimmung zu stellen. Mit dem fakultativen und dem obligatorischen Referendum stehen der Stimmbevölkerung zudem zwei Instrumente zur Verfügung, die es ermöglichen, über ein vom Parlament bereits verabschiedetes Gesetz oder eine Verfassungsänderung mit abschließender Entscheidungshoheit abzustimmen. Im Fall des fakultativen Referendums wird nach erfolgreicher Unterschriftensammlung (mind. 50.000 Unterschriften) über eine Vorlage abgestimmt. Bestimmte Beschlüsse des Parlaments, die etwa die Ausgaben- und Bundesfinanzordnung oder den Beitritt zu supranationalen Gemeinschaften betreffen, sind abstimmungspflichtig – sie unterliegen dem obligatorischen Referendum und gelangen automatisch an die Urne.
In der folgenden Analyse wurden 23 Abstimmungen zu fakultativen Referenden, 20 Abstimmungen zu Volksinitiativen (bei drei parlamentarischen Gegenentwürfen) sowie acht Abstimmungen zu obligatorischen Referenden berücksichtigt.
Wer profitiert von Volksabstimmungen?
Von den Abstimmungsvorlagen mit linker Ausrichtung wurde nur jede vierte an der Urne angenommen (25,8 Prozent). Hingegen hatten von den Vorlagen mit rechter Ausrichtung 65,2 Prozent Erfolg (Schaubild 1). Noch deutlicher fällt der Unterschied zwischen linken und rechtslastigen Vorlagen aus, wenn nur jene berücksichtigt werden, die einen dezidierten politischen Anspruch verfolgten: Während weitreichende linke Forderungen bei Volksabstimmungen fast immer chancenlos waren, haben dezidiert rechte Vorlagen eine Erfolgsquote von 60,0 Prozent.
Der Erfolg von Abstimmungen variiert also sowohl hinsichtlich der politischen Zielrichtung als auch hinsichtlich der Stärke der Vorlagen. Wird zudem nach Abstimmungstypen, das heißt nach Volksinitiativen, fakultativen und obligatorischen Referenden unterschieden, fällt das Bild noch eindeutiger aus. Dezidiert linke Volksinitiativen waren bei den StimmbürgerInnen faktisch chancenlos: Alle Initiativen mit dezidiertem Anspruch erzielten keine Mehrheiten, während rechtslastige Vorlagen in obligatorischen Referenden immer ein „Ja“ erhielten.
Diese Ergebnisse zeigen, dass linke Positionen in der Direkten Demokratie der Schweiz marginalisiert sind. Berücksichtigt man jedoch nur jene Abstimmungen, die eine Eigenwirkung haben, in denen das Votum der Stimmbürgerschaft also von jenem des Parlaments abweicht, dann waren meist linke Positionen an der Urne mehrheitsfähig. In Zahlen ausgedrückt: In drei Viertel der Fälle (75,9 Prozent) votierte die Stimmbevölkerung zwar in Übereinstimmung mit der Empfehlung des Parlaments. Linke Positionen hatten dabei meist das Nachsehen. Wenn die Stimmbevölkerung jedoch von der parlamentarischen Empfehlung hoheitlich abwich, dann tat sie dies in 85,3 Prozent der Fälle nach links (Schaubild 2). Insgesamt betrifft das aber nur 25 Prozent (13 Fälle) der Abstimmungen.
Die gesellschaftliche und politische Linke in der Schweiz würde nun wohl kaum von sich behaupten, dass sie mittels der direktdemokratischen Einflussmöglichkeiten eine programmatische Verschiebung der politischen Kräfteverhältnisse erreicht hätte. Vielmehr wundert es nicht, dass die beiden großen linken Organisationen bei Volksabstimmungen häufig das Nachsehen hatten. Sowohl die Parolen der sozialdemokratischen Partei der Schweiz (SP; 42,6 Prozent) als auch die Empfehlungen des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB; 35,2 Prozent) erzielten in deutlich weniger als der Hälfte der Abstimmungen Mehrheiten (Schaubild 3).
Das schlechte Abschneiden der SP hängt vermutlich auch damit zusammen, dass sich die Partei mit ihren Empfehlungen meist in Opposition zu den übrigen Regierungsparteien – der nationalistisch-populistischen SVP, der marktliberalen FDP und der konservativen CVP – befand (57,5 Prozent). Schaubild 4 unterstützt diese Annahme: Die Parteien waren mit ihren Parolen meist dann erfolgreich, wenn sie sich in einer Koalition mit mindestens zwei der drei anderen Regierungsparteien befanden. Bemerkenswert ist, dass die SP die höchste Erfolgsquote aller Regierungsparteien aufweist, wenn diese in zwei Lager mit je zwei Parteien geteilt waren (87,5 Prozent). Gespaltene Regierungskonstellationen gab es jedoch nur acht Mal, bei allen anderen Abstimmungen schlossen sich mindestens drei Regierungsparteien zusammen.
Die hier vorgestellten Befunde konstatieren, dass sowohl die politische Zielrichtung von Abstimmungsvorlagen, die Stärke der Vorlagen als auch die Empfehlungen der Regierungsparteien das Stimmergebnis potentiell beeinflussen. Aber haben diese Bestimmungsfaktoren tatsächlich einen direkten Effekt auf den Ausgang von Volksabstimmungen?
Schaubild 5 ist zu entnehmen, dass dies auf die Empfehlungen der politischen Elite zutrifft. So wurden Vorlagen, hinter denen eine große Koalition aus mindestens drei Parteien stand – für die Ausrichtung der Vorlagen kontrolliert – häufiger angenommen als Vorlagen, die nicht von einer Regierungsmehrheit unterstützt wurden. Darüber hinaus zeigt sich aber auch, dass die Stimmbürgerschaft eine eigene politische Agenda verfolgt, die moderat nach rechts tendiert. So erwiesen sich moderate Vorlagen als zustimmungsfähiger als dezidiert richtungspolitische Vorlagen. Vorlagen mit moderat rechter Stoßrichtung, hinter denen eine große Koalition stand, wurden zudem häufiger angenommen als Vorlagen mit moderat linker Zielsetzung, ceteris paribus.
Abschließend lässt sich festhalten, dass linke Positionen bei Volksabstimmungen in der Schweiz meist erfolglos bleiben. Dafür gibt es mindestens drei Gründe. Erstens, die politische Elite stellt sich meist gegen die Annahme linker und hinter die Annahme rechter Vorlagen, und deren Parolen beeinflussen die StimmbürgerInnen in ihrer Entscheidungsfindung. Zweitens, tendiert die Stimmbevölkerung zu moderat rechten Positionen, weswegen sie drittens, dem von linker Seite rege genutzten Instrument der Volksinitiative viel seltener zu Wirkung verhilft.
Einsichten und Aussichten
Die stimmberechtigten EidgenossInnen haben das bedingungslose Grundeinkommen mit einem deutlichen „Nein“ von 76,9 Prozent verworfen, zumal die Initiative nicht einmal von der SP Unterstützung erhielt. Die Parlamentsfraktion der SP lehnte die Vorlage mehrheitlich ab, weil sie die Schwächung der bestehenden Sozialsysteme befürchtete.
Nun hat die Sozialdemokratische Partei der Schweiz in ihrem Wahlprogramm 2010 festgeschrieben, dass sie die Überwindung des Kapitalismus anstrebt und einen „demokratischen Sozialismus“ als Vision verfolgt. [5] Im Sinne der programmatischen Kohärenz wäre eine Ablehnung der Initiative daher überzeugender gewesen, wenn dies mit Verweis auf die Systemabhängigkeit des Grundeinkommens geschehen wäre, welches sich durch die kapitalistische Akkumulation und dem nachgelagerten Verteilungsverhältnis erst erzeugen und abschöpfen lässt.
Die Gewerkschaften warten indes mit einer anderen Initiative auf die noch ausstehende Stunde der Linken. Im September gelangt eine Vorlage des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes an die Stimmurne, welche die gesetzliche Rente stärken und Altersarmut zurückdrängen will. Auch in der Bundesrepublik wird, wenn auch indirekt, über dieses Thema abgestimmt werden – bei den Wahlen zum 19. deutschen Bundestag.
Christoph Mayer hat Politikwissenschaft in Konstanz, Freiburg, Potsdam, Berlin und Budapest studiert. Seine Masterarbeit über die direkte Demokratie in der Schweiz reichte er bei Wolfgang Merkel ein. Er arbeitete als studentische Hilfskraft in der Abteilung Demokratie und Demokratisierung am WZB uns ist seit 2014 wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Stiftung Soziale Gesellschaft – Nachhaltige Entwicklung in Berlin.
[1] Der Autor bittet um Nachsicht bei der Verwendung des Begriffs Volk, wenn er mangels geeignet erscheinender Alternativen Begrifflichkeiten wie Volksabstimmung oder Volksentscheid beibehält. Die Definition von Volk ist nicht ethnisch, sondern explizit politisch im Sinne von demos.
[2] Idealistinnen, die sich für das angestrebte Ziel einsetzten, waren damals wohl nicht mit von der Partie: Bis 1971 wussten die stimmberechtigten Männer den Frauen das Wahl- und Stimmrecht per direktdemokratischem Mehrheitsentscheid zu verweigern.
[3] Freitag, M., Vatter, A., & Müller, C. (2003). Bremse oder Gaspedal? Eine empirische Untersuchung zur Wirkung der direkten Demokratie auf den Steuerstaat. Politische Vierteljahreszeitschrift, 44(3), 348–369.
[4] Als im Ergebnis links werden Abstimmungen gewertet, die eine verteilende Wirkung von oben nach unten zur Folge haben, eine Mehrverteilung von Finanzmitteln für die öffentliche Daseinsfürsorge und die Sozialversicherungen bewirken oder Abstimmungsvorlagen verhindern, deren Annahme einen gegenteiligen Effekt zur Folge gehabt hätte. Zudem werden Abstimmungen als in ihrem Ergebnis links gewertet, wenn sie die Rechte oder Mittel von ArbeitnehmerInnen oder benachteiligter Gesellschaftsgruppen wie Arbeitslose und MieterInnen stärken, oder wenn Vorlagen abgelehnt werden, die darauf abzielten, die Rechte und Mittel dieser Gruppen zu verringern.
[5] Sozialdemokratische Partei der Schweiz (2010): Parteiprogramm. Für eine sozial-ökologische Wirtschaftsdemokratie, online unter: file:///C:/Users/ASUS/Desktop/parteiprogramm_fuer_eine_sozial-oekologische_wirtschaftsdemokratie_2010.pdf, zuletzt abgerufen am 2. Juni 2016.